Sebastian Vettel sieht sich momentan einer ungewohnten Situation ausgesetzt. War der viermalige Champion in den letzten Jahren stets die unumstrittene Nummer eins bei Red Bull, schickt sich nun sein neuer Teamkollege Daniel Ricciardo an, die Vormachtstellung des Heppenheimers zu untergraben. Vettel wurde von der Box sogar bereits aufgefordert, den Australier im Rennen passieren zu lassen, da dieser deutlich schneller unterwegs war.

Keine Überraschung

"Bei allem Respekt vor dem viermaligen Weltmeister Sebastian Vettel überrascht mich das nicht", kommt für Colin Kolles das verschobene Kräfteverhältnis nicht von ungefähr. "Daniel und Sebastian sind, was das Talent und ihre Einstellung betrifft, absolute Spitzenfahrer. Sebastian ist trotz seines noch jungen Alters extrem erfahren, Daniel hingegen extrem unbekümmert und ebenso extrem talentiert. Er bringt eine unglaubliche Leichtigkeit mit. Sebastian steht als viermaliger Champion viel mehr unter Druck, seine bisherigen Triumphe verpflichten ihn zu siegen - viel mehr als Daniel", erläuterte der ehemalige Teamchef von Force India und HRT, der Vettel bereits seit seiner Zeit in der Formel 3 kennt.

Ricciardo bremst Vettel aus, Foto: Sutton
Ricciardo bremst Vettel aus, Foto: Sutton

Zwar müsse Ricciardo auch seine Leistung bringen, doch der Australier sei bei aller Disziplin und Ernsthaftigkeit ein vollkommen entspannter, lockerer Typ. "Das ist ein enormer Vorteil gegenüber Sebastian. Als ich zum ersten Mal davon gehört habe, dass Daniel für Red Bull fahren wird, war mir dieses Szenario vollkommen klar", sagte Kolles gegenüber der Welt. "Ich schätze beide sehr hoch ein, wobei Daniel gegenüber Vettel mindestens gleichwertig ist. Deshalb wundert mich die momentane Konstellation auch nicht."

Kolles war in der Vergangenheit in der Lage, sowohl Vettel als auch Ricciardo genau zu beobachten und traut es sich daher zu, ein so präzises Urteil über die beiden Piloten zu fällen. "Beide sind sehr talentiert, fahren genauso diszipliniert und aggressiv. Beide gehören zu einer neuen Generation von Rennfahrern, der Generation nach Michael Schumacher, Kim Räikkönen, Fernando Alonso, Felipe Massa", erklärte der 46-Jährige.

Kolles weiter: "Daniel jedoch geht aufgrund seines entspannten Charakters unbeschwerter mit dem diesjährigen Auto und dem neuen Reglement um. Er kann das auch alles lockerer als Sebastian sehen, weil er nicht dessen Vorgeschichte hat, die ganz andere Ansprüche und Selbstverständlichkeiten an ihn stellt. Sebastian fährt unter dem Diktat des viermaligen Weltmeisters, was auf jeden Fall belastender ist. Daniel hingegen fährt einfach so wie er ist und macht keine Fehler. Das ist sein größtes Plus."

Colin Kolles hält große Stücke auf Ricciardo, Foto: Sutton
Colin Kolles hält große Stücke auf Ricciardo, Foto: Sutton

Talentprobe bei HRT

Ricciardo machte 2011 unter den Fittichen von Kolles bei HRT, wo er von Dr. Helmut Marko geparkt wurde, seine ersten Schritte in der Formel 1 und beeindruckte den Rumänen nachhaltig. "Der Red-Bull-Motorsportberater wollte Riccardos Talent einer Art Nagelprobe unterziehen, und wir haben ihn deshalb dieser Nagelprobe in der Formel 1 unterzogen. Er kam zu uns ins Team, also in ein Team, das ihn nur mit einem halbwegs konkurrenzfähigen Auto ausrüsten konnte. Das hieß, er stand von Anfang an unter dem Druck, mit dieser undankbaren Konstellation zu scheitern oder das Beste aus der Situation zu machen", erinnerte er sich. "Für ihn ging es um alles oder nichts. Also eine äußerst heikle Situation."

Ricciardo im HRT-Boliden, Foto: Sutton
Ricciardo im HRT-Boliden, Foto: Sutton

Trotz des enormen Drucks habe sich der Australier tadellos aus der Affäre gezogen. "Es war unglaublich, wie kaltblütig, diszipliniert und völlig locker der Junge mit diesem Stress umgegangen ist. Er hat auch am äußersten Limit keine Fehler gemacht. Niemals. Er hat keinen einzigen Dreher produziert, keinen einzigen Verbremser, keine anderen Dummheiten", schwärmte Kolles von seinem ehemaligen Schützling. "Stattdessen fuhr er sehr schnell, konstant, und innerhalb der Möglichkeiten dieses Autos seine Rennen und seine Rundenzeiten. Er hat dieses Auto, obwohl er das musste, um überhaupt aufzufallen, nie überfahren, war aber damit immer kaltblütig am Limit. Das war ganz große Klasse. Es ist ein Naturtalent, ein wirklicher Ausnahmefahrer. Für mich war und ist er nach dieser unglaublichen Leistung ein zukünftiger Weltmeister."

Aufgrund seiner starken Performance in einem dermaßen unterlegenen Auto wie dem HRT war es für Kolles nur folgerichtig, Ricciardo zu Vettels Teamkollegen zu machen. "Der Kerl wirkte nie - auch wenn er Unglaubliches mit dem Auto vollbracht hatte - erschöpft, genervt, angestrengt, gestresst oder irgendwie fertig und hat durch diese Lockerheit auch einen sehr ruhigen, runden, weichen Fahrstil", sparte er nicht mit Lob. "Er war stets entspannt und immer ansprechbar, steckte alles mit einem Lächeln weg, obwohl er sich sehr konzentriert, diszipliniert der Aufgabe stellte. Für mich ist Daniel Ricciardo deshalb ein absolutes Übertalent und ein kommender Weltmeister."

Trotz schlechtem Auto: Ricciardo war schon bei HRT der Strahlemann der Formel 1, Foto: Sutton
Trotz schlechtem Auto: Ricciardo war schon bei HRT der Strahlemann der Formel 1, Foto: Sutton

Doch wie wird das Duell zwischen dem australischen Newcomer und dem erfolgsverwöhnten Vettel ausgehen? "Das weiß keiner", ließ sich Kolles zu keiner Prognose hinreißen. "Ich kann nur sagen, dass es für Sebastian nicht einfach werden wird und das Daniel seinen Spaß haben wird, genauso wie die Zuschauer. Für die Formel 1 ist der Mann ein Geschenk. Auf jeden Fall wird es spannend, weil der Ausgang des Duells völlig offen ist."