"Das letzte Mal hatte ich 300 in einem Rennauto drauf, als ich einen Formel-1-Test für BMW gefahren bin." Sogar Motorsport-Tausendsassa Philipp Eng war verblüfft über die Leistung, die ihm soeben beim Saisonauftakt der DTM Anfang August in Spa-Francorchamps gelungen war.
Gemeinsam mit BMW-Markenkollege Jonathan Aberdein und Audi-WRT-Pilot Fabio Scherer durchbrach er die magische Schallmauer der DTM - 302 km/h hatten die drei Fahrer jeweils als Spitzenwert auf dem belgischen Ardennenkurs drauf.
Nie zuvor in der über 30-jährigen Geschichte der Tourenwagenserie war ein Rennwagen schneller gefahren. Unter der Class-1-Ära brauchte es 20 Rennen und schlussendlich den 7,004 Kilometer langen Formel-1-Kurs samt Kemmel-Geraden und Windschatten, um erstmals die 300er-Marke zu knacken. Ein weiterer Beleg schwarz auf weiß, was die kostspieligen Turbo-Autos zu leisten im Stande sind.
Die beiden Rennen in Spa-Francorchamps machten auf unterschiedliche Art und Weise deutlich, warum die hochentwickelten und kostenintensiven Class-1-Autos eigentlich Prototypen mit Silhouette, oder: Formelwagen mit Dach, sind. "Die waren wirklich das Nonplusultra", trauerte der zweifache DTM-Champion Rene Rast dem bevorstehenden Abschied hinterher. "Reine Prototypen, geiler Sound, schnelle Autos. In Spa waren Formel 2 oder LMP2 nur unwesentlich schneller. Man kann daran schon erkennen, dass das richtig geile Rennautos waren."
DTM-Rundenzeiten auf Formel-Niveau
Tatsächlich war Rene Rast auf seiner Qualifying-Runde in Spa nur 0,274 Sekunden langsamer als Luciano Bacheta, der 2012 mit einem Formel-2-Boliden in 2:03.925 Minuten einen neuen Serienrekord aufgestellt hatte. In einem Fahrzeug, das mit 570 Kilogramm etwas mehr als die Hälfte eines DTM-Autos (986 Kilo) wiegt und mit 430 Turbo-PS alles andere als untermotorisiert ist. Im Vergleich zu einem GP3-Auto (heute FIA Formel 3) war Rast sogar nur wenige Hundertstelsekunden langsamer unterwegs.
Kein Wunder, dass Downforce-Enthusiasten wie Robert Kubica oder Benoit Treluyer nur wenig Lust haben auf die neue DTM, die ab 2021 auf GT3-Autos wechselt. In der reinen Motoren-Power nehmen sich die Fahrzeuge nicht viel, das Abtriebslevel eines Class-1-Fahrzeuges ist jedoch eine ganz andere Welt. Von fehlenden Fahrhilfen wie ABS oder Traktionskontrolle, wie sie in der GT3 zum Einsatz kommen, ganz zu schweigen.
Audi-Pilot Müller: Das sind megatolle Rennautos
"Wenn man die hautnah erlebt hat, wird man sie vermissen", schwärmte auch Titelanwärter Nico Müller von den Class-1-Autos. "Das sind megatolle Rennautos, die super Rennen bieten und extrem viel Spaß machen, sie am Limit zu bewegen." Hörte man sich in den vergangenen zwei Jahren im Fahrerlager um, zählten die Turbo-Boliden stets zu den spitzesten Rennautos, die ein DTM-Fahrer jemals unter dem Hintern hatte - inklusive anspruchsvoller Hankook-Reifen.
Samt zweijähriger Entwicklung sollen die Turbo-Autos von Audi und BMW bis zu 80 Millionen Euro gekostet haben. Die Folge: In Assen beispielsweise waren die Autos der aktuellen Generation drei Zehntelsekunden schneller als 750 PS starke und 750 Kilogramm leichte Superleague-Formula-Boliden. "Das beste Rennauto, das ich jemals gefahren bin", meinte BMW-Youngster Sheldon van der Linde. "Es leistet viel mehr, als die Leute erwarten würden. Das ist nicht wirklich ein Tourenwagen, mehr ein Formelauto."
DTM: Leistungsgewicht von 1,7 Kilo pro PS
In der 2020er-Konfiguration liegt das Leistungsgewicht nun bei rund 1,7 Kilogramm pro PS. Vor der Saison wurde die Grundleistung mittels einer Durchflussbegrenzung des Kraftstoffs (Superplus mit 102 Oktan wie an der Tankstelle) leicht reduziert, um die Zuverlässigkeit zu erhöhen. Audi gibt dieses Jahr 580 PS an, beim Debüt im Vorjahr waren es 610 Pferdestärken. Das Drehmoment liegt weiter bei 560 Newtonmeter. Zudem wurde das Mindestgewicht um 5 Kilo auf 985 Kilogramm erhöht - immer noch 45 Kilo weniger im Vergleich zum alten V8-Auto, dessen Motor per Luftmengenbegrenzung reglementiert wurde.
"Das sind für mich die spannendsten Autos mit Dach, die man fahren kann", sagte DTM-Debütant Kubica, der in einer schwierigen Saison mit dem Podestplatz in Zolder zumindest ein Highlight setzen konnte. "Wir alle werden es vermissen, diese Autos zu fahren. Sie sehen aus wie Tourenwagen, fühlen sich aber wie Formelautos an." Der frühere Formel-1-Fahrer hat bereits angekündigt, nur wenig Interesse an der GT-Pro-DTM zu haben und sucht nach anderen Herausforderungen.
Verbrauch auf Dieselmotor-Niveau
Ohne die aus Kosten- und Standfestigkeitsgründen reglementierte Durchflussbegrenzung könnten die DTM-Autos noch ganz andere Fabelwerte erreichen. Genau wie in der Serie lautete also in der DTM die Aufgabenstellung, mit hoher Verdichtung und gutem Wirkungsgrad das Maximum aus dem zur Verfügung stehenden Kraftstoff zu holen. Der Turbo-Motor verfügt laut Herstellerangaben über eine 10 Prozent höhere Effizienz als sein angestaubter V8-Vorgänger.
"Der DTM-Motor hat einen extrem niedrigen spezifischen Verbrauch, der sich inzwischen in Regionen bewegt, wo sie früher typischerweise bei Dieselmotoren waren", erklärte einst Audis 'Motoren-Papst' Ulrich Baretzky, inzwischen im Ruhestand und ohne direkten Nachfolger in Neuburg. "Wir zeigen in puncto Gewicht und Leichtbau - gerade unter dem Aspekt der CO2-Vermeidung - ein paar Wege auf, die in Zukunft hoffentlich auch den Weg auf die Straße finden."
Die Effizienz in illustren Zahlenbeispielen zur Veranschaulichung: Der DTM-Turbolader drückt 400 Liter Luft pro Sekunde in den Motor - 3.500 Mal so viel, wie ein Mensch atmet. Die Kolben beschleunigen von null auf 100 km/h in weniger als einer Tausendstelsekunde - 1.200 Mal schneller als eine Mondrakete. Die Wasserpumpe setzt in einer Stunde zirka 18.000 Liter um. Eine Badewanne würde sich so in rund 20 Sekunden füllen.
Erinnerungen an den Calibra...
Abgesehen von den Leistungseinschränkungen ist das Potenzial der DTM-Autos durch zahlreiche Einheitsbauteile begrenzt. Vom Monocoque über die Aufhängung, Kupplung und Bremsen bis hin zur Kardanwelle dürfen nur sogenannte EB-Teile in den Autos verbaut werden. Performance-Ausbrüche wie 2017 bei Audi mit den innenbelüfteten hinteren Radhäusern sind kaum noch möglich. Für 2020 wurde die per Reglement erlaubte Gesamtzahl gewisser Einheitsteile, darunter Kupplungen und Skid Pads am Unterboden, noch einmal reduziert.
Das alles mit Blick auf die Kosten. Denn was findige Ingenieurs-Teams großer Hersteller bei einer aerodynamischen Reglementfreiheit leisten können, hat die Vergangenheit mehrfach gezeigt. Kurz vor dem DTM/ITC-Ende 1996 waren die Autos ähnlich hochentwickelt wie die der Formel 1. Nur ein Beispiel: Um 1996 einen Opel Calibra zu starten, benötigte es laut Augenzeigen ganze 17 Techniker, darunter Formel-1-Personal von Williams...
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