Der Artikel wurde in der 78. Ausgabe des Printmagazins von Motorsport-Magazin.com am 12. Mai 2021 veröffentlicht.

Frage: Wie viele Techniker benötigte es im Jahr 1996, um einen Opel Calibra V6 4x4 zu starten? Antwort: 17! Was zunächst nach einem Witz klingen mag, war vor genau 25 Jahren Realität. Seinerzeit war der damalige DTM-Nachfolger mit dem Namen ITC besser bekannt als die 'Formel 1 mit Dach'.

In dieser Epoche der technologisch ultrahochgezüchteten Tourenwagen war es Manuel Reuter, der Opel 1996 mit dem Gewinn der von der FIA ausgeschriebenen International Touring Car Championship den größten Erfolg seiner Motorsportgeschichte bescherte. Die zahlreichen Opel- und DTM-Fans erinnern sich noch heute bestens.

Was unter der Motorhaube des bis heute ikonischen, schwarzen-weißen Cliff-Calibra so alles los war, wissen aber nur die Wenigsten. Tatsächlich stammte der 2,5 Liter große V6-Motor mit seinen 510 PS aus dem Hause Cosworth, bekannt als Motorenbauer mit den drittmeisten Formel-1-Siegen. Für das Chassis und die Technik zeichnete niemand Geringeres als Williams GP Engineering verantwortlich.

Das Preisschild an einem Opel Calibra V6 4x4 war 1996 happig und alles andere als seriennah: Rund 700.000 D-Mark kostete der Bolide, bei dem der Motor zwischen zwei Rennen aufgrund der Modulbauweise in nur wenigen Minuten gewechselt werden konnte. Mehr als 200 Stunden verbrachte das 1.040 Kilogramm leichte cw-Wunderwerk im Windtunnel, bevor es Rennsport-Stars wie Reuter, Klaus Ludwig oder Hans-Joachim Stuck zu neun Siegen und 19 weiteren Podestplätzen in der denkwürdigen und gleichzeitig letzten Saison 1996 führten.

Der Calibra ist heute ein Fan-Liebling, Foto: Opel
Der Calibra ist heute ein Fan-Liebling, Foto: Opel

Kein Wunder, dass die ITC unter Promoter Bernie Ecclestone angesichts der exorbitanten Herstellerbudgets zerbrach, wie allein ein Blick ins Datenblatt des Calibra zeigt. Aktives Fahrwerk gepaart mit Allradantrieb, mehrfach verstellbares ABS, sich per Mapping schließbare Jalousien im Kühlerschacht, automatische Höhenverstellung auf der Hinterachse oder ein klappbarer Heckflügel - Ingenieurs-Herz, was willst du mehr!

"Das waren die verrücktesten Tourenwagen, die jemals im Rennsport gelaufen sind", erinnerte sich der langjährige DTM-Boss und HWA-Gründer Hans Werner Aufrecht. "Soweit war die Formel 1 noch nie, wie wir mit diesen Autos. Die Schuld lag bei den Regelmachern. Sie konnten sich mit den Herstellern nicht auf ein kostengünstigeres Reglement einigen. Bei Mercedes sind rund 100 Millionen, bei Opel 140 Millionen und bei Alfa Romeo sogar 170 Millionen D-Mark ausgegeben worden."

Auf dem Norisring waren die Calibras 1996 beim Fünffachsieg gerade einmal 3,5 Sekunden langsamer als 25 Jahre später die Turbo-Monster der kurzlebigen Class-1-Ära (2019 bis 2020) an gleicher Stelle. Reuter feierte in jenem Jahr drei Siege und fuhr insgesamt neunmal auf das Podium. 15 Rennen in Folge erreichte der heute 60-Jährige die Punkteränge.

Der Calibra mit Opel-Power erzielte große Erfolge, Foto: Opel Motorsport
Der Calibra mit Opel-Power erzielte große Erfolge, Foto: Opel Motorsport

Auf dem Weg zum großen Triumph konnte den Joest-Piloten in Magny-Cours auch ein Motorschaden, durch den der Calibra spektakulär abbrannte, nicht stoppen. Drei Rennen vor Schluss reichte Reuter, der 1996 zudem zum zweiten Mal die 24 Stunden von Le Mans gewann, in Sao Paulo ein dritter Platz zum vorzeitigen Titelgewinn.

Behilflich war Reuter dabei feinste und sauteure Technologie wie ein Hydrauliksystem, das die Schaltwalze zum Wechseln der sechs sequentiell angeordneten Gänge betätigte. Das elektronische Kommando dazu gaben die Opelaner wahlweise per Schaltwippe oder Knopfdruck am Lenkrad.

Ein weiteres Hydrauliksystem variierte die Drücke in den Differentialsperren. Dabei maßen Sensoren den Schlupf eines Rades für einen optimalen Hydraulikdruck, erhöhten ihn beispielsweise in Beschleunigungsphasen und schlossen so die Differentialsperre. Ingenieure konnten nach einem Computer-Scan der Strecke sogar die Sperrgrade der Differentiale - ebenso wie die automatische Verstellung der Stabilisatoren - programmieren.

Heute parkt der legendäre Cliff-Calibra im Opel-Museum in vorderster Reihe - und zaubert den Besuchern noch immer ein Lächeln ins Gesicht.

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