Die Bundesrepublik Deutschland zählt zu den erfolgreichsten Nationen in der Geschichte der Motorrad-Weltmeisterschaft. 27 unterschiedliche Fahrer fuhren seit der ersten WM-Saison 1949 insgesamt 176 Grand-Prix-Siege ein. Nur Italien, Spanien, Großbritannien, Australien und Japan durften bislang häufiger jubeln. 18 WM-Titel gingen bislang nach Deutschland, errungen von Werner Haas (3 Gesamtsiege), Hermann Paul Müller (1), Ernst Degner (1), Hans Georg Anscheidt (3), Dieter Braun (2), Toni Mang (5), Dirk Raudies (1), Stefan Bradl (1) und Sandro Cortese (1).

Vom Glanz vergangener Tage ist mittlerweile aber nicht mehr viel geblieben. 2023 stellte die Bundesrepublik mit Moto2-Pilot Lukas Tulovic nur einen einzigen Stammfahrer in allen drei Klassen der Motorrad-Weltmeisterschaft. Er und Luca Grünwald sind die einzigen beiden Deutschen, die im vergangenen Jahrzehnt den Sprung zum Stammfahrer schafften. Grünwalds WM-Karriere endete nach nur 24 Einsätzen und acht Punkten in der kleinsten Klasse schnell wieder, gleiches gilt für Tulovic. Ihm gelangen bei 38 Starts in der Motorrad-WM nur 15 Zähler, weshalb er seinen Platz bei IntactGP zur Saison 2024 räumen und in die MotoE wechseln musste. Ehemalige Grand-Prix-Sieger oder Weltmeister wie Stefan Bradl, Sandro Cortese, Jonas Folger oder Philipp Öttl verabschiedeten sich in den vergangenen Jahren nach und nach aus dem Renngeschehen des Grand-Prix-Sports. Sie beendeten ihre Karrieren mittlerweile, wechselten in das Paddock der Superbike-WM oder sind als Test- beziehungsweise Ersatzfahrer tätig. In ihre Fußstapfen konnte bislang niemand treten.

Eine Trendwende für den deutschen Motorradsport ist aktuell nicht zu erwarten. In den Vorhöfen der Weltmeisterschaft sucht man Fahrer aus der Bundesrepublik vergeblich. Sowohl der Red Bull MotoGP Rookies Cup als auch die FIM Junior GP World Championship kamen 2023 völlig ohne deutsche Beteiligung aus. 22 andere, teilweise deutlich kleinere Nationen bilden hier derzeit ihre Stars der Zukunft aus. Eine traurige Situation in schwarz-rot-gold, zu der es aber nicht zufällig kam. In Deutschland wurde die Nachwuchsarbeit über Jahre hinweg völlig verschlafen. Nun zahlt man dafür einen hohen Preis. Insider erkannten bereits lange vor der aktuellen Krise den Ernst der Lage. "Wir stehen im Vergleich zu anderen Nationen erbärmlich da", attestierte Stefan Bradl bereits 2015 im Rahmen des Deutschland-Grand-Prix am Sachsenring. "Man muss sich die Frage stellen, ob im Nachwuchsbereich alles richtig gemacht wird. Ich sehe in Deutschland aktuell gar keine Förderung. Da muss einfach mal etwas passieren. Es muss gefördert werden. Wie sieht es denn sonst in fünf Jahren mit dem deutschen Nachwuchs aus?"

Deutsche Nachwuchsarbeit: Viele Einzelkämpfer, keine Koordination

Die Antwort auf diese Frage ist mittlerweile bekannt, getan hat sich von Seiten der Verbände in den Jahren dazwischen wenig. Bradl und etliche seiner deutschen Fahrerkollegen erneuerten immer wieder ihre Kritik am ADAC und dem Deutschen Motorsportbund DMSB. "Für den Zweiradsport in Deutschland wird so gut wie nichts getan. Die Föderationen machen nichts. Das ist die deutsche Bürokratie. Es dauert alles viel zu lange. Ich fühle mich für dieses Thema verantwortlich und wäre sehr dankbar, wenn sich die Leute nicht immer nur beschweren und schimpfen würden - so typisch deutsch - sondern sich auch mal darum bemühen würden, dass etwas passiert", sagte Bradl am Rande seines Rennwochenendes als Ersatzmann im April 2023 in Austin. Der Moto2-Champion von 2011 hatte sich mittlerweile selbst dem deutschen Nachwuchs angenommen. 2021 legte er den Grundstein für sein Projekt 'Stefan Bradl HRC Rookie Days'. Gemeinsam mit Adi Stadler, von 1985 bis 1995 selbst in der Motorrad-Weltmeisterschaft aktiv und nun seit Jahren im Nachwuchsbereich engagiert, unterstützt er hier junge Fahrer vom Minibike-Bereich an und will sie dann in Richtung Red Bull Rookies Cup führen.

Red Bull Rookies
Im Red Bull Rookies Cup fuhr 2023 kein Deutscher, Foto: Gold & Goose/Red Bull Content Pool

Vor allem den Übergang in diese Nachwuchsserie sieht Bradl als Knackpunkt in der deutschen Nachwuchsarbeit: "Wir wollen die Kids auf ein Level bringen, mit dem sie im Rookies Cup sofort abliefern können, denn die deutschen Fahrer haben dort in den letzten Jahren keine besonders tollen Leistungen gezeigt." Honda Deutschland und Bradls persönlicher Sponsor Red Bull waren von Beginn an mit an Bord und boten jungen Talenten so eine vielsprechende Plattform. Ähnlich, wie es deutsche Rennställe bereits in den Jahren zuvor gemacht hatten. Teams wie die Intact-Mannschaft, die PrüstelGP-Truppe oder Kiefer Racing engagieren sich in den wichtigsten Nachwuchsklassen. Die Verbände kochten aber seit jeher ihr eigenes Süppchen. "Wir haben festgestellt, dass die Nachwuchsarbeit in Deutschland nicht konzentriert genug ist", gesteht Wolfgang Dürheimer, Vorstandsvorsitzender der ADAC Stiftung Sport. "Es gab zu viel Zergliederung. Viele Nachwuchsverbände und Trägervereine des DMSB haben ihre eigene Sache gemacht. Wir haben deshalb beschlossen, das fortan alles unter einem Dach zu koordinieren. Alle Parteien haben sich dazu entschlossen, hier einzuzahlen und sich an der konzertierten Nachwuchsarbeit in Deutschland zu beteiligen."

ADAC, DMSB und Stefan Bradl ziehen künftig an einem Strang

Es scheint sich also etwas zu bewegen in der deutschen Nachwuchsförderung. Im Rahmen des MotoGP-Wochenendes am Sachsenring Mitte Juni - wo ein Rekordpublikum von 233.196 Zuschauern über drei Tage einen eindrucksvollen Beweis für die Motorradsportbegeisterung in Deutschland lieferte - präsentierte man stolz einen Schulterschluss für diese Thematik. Denn Stefan Bradl macht fortan gemeinsame Sache mit ADAC und DMSB. Dem neu geschaffenen 'Motorsport Team Germany' wird er mit Rat und Tat zur Seite stehen. Was aber ist das Motorsport Team Germany überhaupt?

Voraussetzung für die Aufnahme in dieses Programm sind die deutsche Staatsbürgerschaft und eine DMSB-Motorsportlizenz. Die Förderstrategie im Motorsport umfasst vier Stufen: Nach der Basisförderung im Nachwuchskader 2, die hauptsächlich in den Landesmotorsportfachverbänden und den Trägervereinen des DMSB erfolgt, steht nach einer umfangreichen Sichtung und Auswahl als nächste Stufe die Aufnahme in den Nachwuchskader 1 an. Dort werden die Talente als Motorsport Team Germany zusammengeführt und mit einer Regellaufzeit von zwei Jahren konsequent gefördert. Im anschließenden Perspektivkader erfolgt über drei Jahre die Heranführung an den internationalen Spitzensport. Im Weltkader sind schlussendlich Top-Athleten, die während ihrer Karriere im internationalen Spitzensport unterstützt werden. Auf allen Ebenen erhalten die Piloten eine begleitende Förderung durch Workshops und Seminare. Themen wie Training, Ernährung, Medien und Marketing werden dabei ebenso angeboten wie Fahrzeugtechnik und Karriereplanung. Zuschüsse zu Renn- und Trainingsbekleidung sowie Fahrt- und Reisekostenbeteiligungen sind zusätzlich möglich.

Es erfolgt zudem eine regelmäßige wissenschaftliche Erfassung sowie Auswertung von körperlichen und mentalen Leistungsdaten der Sportler. Sportwissenschaftliche Berater und ein Karrierenetzwerk begleiten die Athleten des Motorsport Team Germany. 34 Fahrer werden aktuell nach diesem Muster gefördert. Davon 15 im Motorradbereich und von ihnen wiederum vier auf der Rundstrecke. Der Rest entfällt auf Disziplinen wie Motocross, Enduro, Trial oder Bahnsport. Diese Talente wurden aus einem Pool von 400 Bewerbern identifiziert. In einem Online-Bewerbungsverfahren werden zunächst wichtige Informationen wie das Alter der Fahrer, ihr bisheriger Karrierewege, eingefahrene Erfolge und konkrete Erfolge abgefragt. Ein hochkarätig besetztes Gremium mit Experten wie Timo Bernhard (zweifacher Sportwagenweltmeister), Isolde Holderied (zweifache Rallye-Weltmeisterin) oder Moto3-Teamchef Peter Öttl und Stefan Bradl im Motorradbereich identifizieren anschließend in Auswahlverfahren die förderungswürdigsten Athleten.

Stefan Bradl: Gemeinsam stärker als allein

"Es ist mir wichtig, von dem was ich erreicht habe, etwas zurückzugeben", sagt Bradl. "Mir ist das ein Anliegen, weil ich sehe, dass in Deutschland Nachholbedarf herrscht. Wir haben einige Gespräche geführt und ich glaube, wir sind im Team in jeglicher Hinsicht stärker, als wir das als Einzelpersonen sein können. Es ist schön, so etwas wie das Motorsport Team Germany zu sehen. Ich bin bereit, hier zu helfen und dem deutschen Nachwuchs unter die Arme zu greifen, damit wir gemeinsam durchstarten können."

Stefan Bradl setzt sich schon lange für deutsche Nachwuchstalente ein, Foto: Honda
Stefan Bradl setzt sich schon lange für deutsche Nachwuchstalente ein, Foto: Honda

Die Zusammenarbeit mit ADAC und DMSB sieht der 33-Jährige auch als Vorteil für seine 'Stefan Bradl HRC Rookie Days'. "Wir befinden uns jetzt mit diesem Projekt im dritten Jahr und es funktioniert auch gut, aber ich merke, dass wir alles abgegrast haben, was in Deutschland verfügbar ist. Wir haben am Ende 16 Fahrerinnen und Fahrer gescoutet und gecoacht. Wir haben dieses Jahr noch eine Veranstaltung, wo wir schon in Absprache sind, uns auszutauschen und zu koordinieren. Ich gerate persönlich nämlich ans Limit", so Bradl, der im Hauptberuf ja immer noch die Rolle des Test- und Ersatzfahrers für Honda in der MotoGP bekleidet und auch für ServusTV als Fernsehexperte im Einsatz ist. "Ich brauche eine Föderation, die mich unterstützt. So können wir auch eine andere Reichweite erzielen, um den Fahrerinnen und Fahrern eine Plattform und eine Aussicht zu bieten, so dass sie in der Pyramide nach oben kommen. Dieses Angebot war in den letzten Jahren nicht da und dadurch ist die Nachfrage eingebrochen. Ich habe das Gefühl, dass uns die breite Masse entglitten ist. Mit meinem Namen bietet sich vielleicht die Möglichkeit, das ganze interessant zu gestalten."

Rennställe sollen künftig ebenfalls bei Nachwuchsförderung helfen

Und die Verpflichtung von Stefan Bradl als Unterstützer des Motorsport Team Germany soll nur ein erster Schritt in der Wiederbelebung der deutschen Talentförderung sein. Im Idealfall will man alle entscheidenden Player, etwa im Nachwuchssport engagierte Rennställe, mit ins Boot holen. "Wir haben auch mit PrüstelGP diesbezüglich bereits Gespräche geführt, unsere Ideale nebeneinandergelegt und besprochen, wie wir zusammenarbeiten können", erklärt Wolfgang Dürheimer, Vorstandsvorsitzender der ADAC Stiftung Sport auf Nachfrage vom Motorsport-Magazin. "Bei uns gibt es keine verschlossenen Türen. Wir sind bereit, jedem zuzuhören und jeden zu integrieren, der etwas beitragen kann. Wenn einer weiß, wie es besser geht, dann sind wir natürlich auch gerne bereit zu erfahren, wie."

Eine Herangehensweise, die gut ankommt. "Es ist kein Geheimnis, dass ich immer wieder Kritik geäußert habe. Das war meine Meinung. So leicht lasse ich mich nicht verbiegen. Da stehe ich dazu. Aber am Ende hilft es nichts, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Herauskommen tut dabei auch nichts", so Stefan Bradl. "Deshalb wollen wir jetzt gemeinsam etwas bewegen. Wir müssen noch einiges konkretisieren, miteinander absprechen und dann auch kommunizieren, aber der Anfang ist gemacht." Von diesem Anfang weg werden aber wohl noch einige Saisons vergehen, ehe die Früchte der Arbeit eingefahren werden können, glaubt Bradl: "Eine genaue Anzahl an Jahren kann ich nicht nennen. Es wird aber sicher ein bisschen dauern. Die FIM hat ja auch die Alterslimits hochgesetzt [Fahrer müssen als Reaktion auf eine Reihe an verunglückten Nachwuchspiloten bei einem Einstieg in die Motorrad-Weltmeisterschaft nun mindestens 18 Jahre alt sein, Anm.], was meiner Meinung nach eine absolut richtige Entscheidung war. Dadurch verlieren wir natürlich in gewisser Weise Zeit und brauchen vielleicht zwei oder drei Jahre länger, dafür können wir uns aber in der Basis breiter aufstellen. Und dann schaffen wir es vielleicht, nicht nur ein oder zwei Fahrer in die Weltmeisterschaft zu bringen, sondern sogar ein paar mehr."

Alex Hofmann fordert Eltern: Kinder mehr unterstützen

Die Grundlagen sollen den Youngsters im ADAC Pocket Bike Cup (ab 6 Jahren), dem ADAC Mini Bike Cup (von 8 bis 15 Jahren), der FIM Mini GP Germany (von 10 bis 14 Jahren) und dem Northern Talent Cup (von 14 bis 17 Jahren) vermittelt werden. Für einen Sprung in die Motorrad-Weltmeisterschaft ist aber wohl auch weiterhin ein Wechsel in die Junioren-Weltmeisterschaft oder den Red Bull MotoGP Rookies Cup wichtig. Alex Hofmann, der sich in den 90er-Jahren über die deutsche sowie europäische 250ccm-Meisterschaft den Weg in die Motorrad-WM bahnte, wo er es bis in die MotoGP schaffte, sieht den Ball nun bei den Youngsters und ihren Familien: "Deutschland war in der Nachwuchsförderung meiner Meinung nach noch nie so gut aufgestellt wie jetzt mit dieser Initiative. Wenn ich an meine Zeit denke, als ich 13, 14 oder 15 Jahre alt war - da war das zu 100 Prozent in Eigenregie zu bewerkstelligen."

"Es gab ein paar verrückte Familien, die mit einem Traum durch Europa gefahren sind und dafür alles gemacht haben, ohne die Möglichkeiten, die es heutzutage gibt. Ohne Anlaufpunkte, ohne eine konkrete Karriereleiter und ohne Plan. Man haut hierzulande gerne drauf auf den ADAC und die Nachwuchsförderung, aber ich möchte hier auch echt einmal eine Lanze brechen: Es war noch nie so gut wie jetzt. Die Strukturen, die wir jetzt auch in Deutschland haben, sind wirklich vielfältig. Wir brauchen aber auch Eltern, die ihren Kindern diesen Sport ermöglichen. Wenn dein Kind vor dir steht und sagt, es will der nächste Marc Marquez werden, dann musst du sagen: Wir machen das! Genau da ist der Knackpunkt. 99,9 Prozent der Eltern kaufen dem Kind da lieber ein neues Handy. Motorradsport muss in der Gesellschaft wieder Akzeptanz finden. Wir müssen den Eltern zeigen, dass sich ihre Kinder hier einen Traum verwirklichen können, auch wenn der Sport lebensgefährlich ist. Da braucht es dann den entscheidenden Support und ich glaube, dass ein ADAC, ein DMSB, ein Stefan Bradl und auch ich dann bereitstehen. Es ist alles da."

Dieser Artikel über die schwierige Situation in der Deutschen Nachwuchsförderung im Motorradrennsport wurde ursprünglich in Ausgabe 92 unseres Print-Magazins veröffentlicht und an einigen Stellen aktualisiert. Auf den Geschmack gekommen? Hier kannst du dir unser neuestes Heft sichern!