Als die MotoGP vor dem Großbritannien Grand Prix nach langem Hin und Her die finale Umsetzung des Reifenmindestdrucks ankündigte, war der Aufschrei im Fahrerfeld groß. Schlechteres, langweiligeres Racing und Strafenfluten wurden befürchtet. Doch dem war nicht so, lange Zeit blieb es erstaunlich ruhig. Erst die Verwarnung von WM-Anwärter Jorge Martin im Thailand-GP ließ die Gemüter nun wieder hochkochen. Die MotoGP-Stars fürchten durch weitere Reifendruckstrafen einen unverhältnismäßigen Eingriff in den Titelkampf.
"So etwas kann den Titel nicht entscheiden", meinte etwa RNF-Pilot Raul Fernandez am Donnerstag in Sepang. Die Mindestdruck-Werte für Front und Heck werden vor jedem Sprint und Hauptrennen von Einheits-Reifenhersteller Michelin festgelegt. Unterschritt ein Fahrer diese Mindestwerte in einer oder mehreren Runden des Rennens wird er bestraft. Beim ersten Vergehen kommen die Piloten noch mit einer Verwarnung davon, beim zweiten Mal gibt es dann eine Drei-Sekunden-Zeitstrafe. Genau dies wäre nun bei Martin der Fall, unterschreitet er den Mindestdruck an den letzten drei Wochenenden ein weiteres Mal, bekommt er anschließend drei Sekunden auf sein Rennergebnis addiert. WM-Rivale Francesco Bagnaia kann sich hingegen noch einen Ausrutscher erlauben, er würde 'nur' eine Verwarnung erhalten.
"Ein Druckunterschied von 0,1 bar ist völlig egal, du wirst deswegen keine Weltmeisterschaft gewinnen", ärgert sich Fernandez und erinnert, dass die MotoGP-Piloten beim Reifendruck in gewissem Maße machtlos sind. "Du kannst dich vor dem Rennen kaum darauf vorbereiten. Du kannst zwar einen Plan machen, was wann mit dem Reifen passieren könnte, aber du weißt nicht, ob du allein fahren wirst oder nicht", klagt er. Die Vorderreifen von Michelin sind dafür bekannt, im Verkehr schnell zu überhitzen, weshalb die MotoGP-Fahrer dazu tendieren, mit möglichst niedrigem Druck zu starten, um den Performance-Verlust im Zweikampf möglichst gering zu halten.
"Wenn du hinter anderen Fahrern bist und über den idealen Reifendruck kommst, bricht deine Performance ein. Es wird dann immer schwieriger, das Bike zu stoppen oder in Schräglage zu gehen. Du kannst bis zu 40 Prozent Leistung verlieren", erklärt Franco Morbidelli. Das große Problem: Fährt ein Fahrer weder Erwartens alleine auf der Strecke, steigt der Luftdruck im Vorderreifen auch nicht an, er sinkt vielmehr immer weiter. Steigt der Reifendruck im Zweikampf, können sich die Piloten zurückfallen lassen, um ihn wieder zu senken. Befindet sind ein Fahrer jedoch in freier Fahrt, kann er praktisch nichts tun, um den Reifendruck im Vorderreifen zu erhöhen. "Wenn du unter dem Druck bist, kannst du nicht einfach wieder darüber gehen", bestätigt Morbidelli.
Aleix Espargaro fordert Gremium: Schwarz-Weiß-Entscheidung nicht möglich
Dass es dennoch sofort zu Strafen kommt, wenn der Mindestdruck auch nur in einer einzigen Runde unterschritten wird, empfinden die Stars der MotoGP deshalb als unverhältnismäßig. "In Indonesien war ich nur eine Runde unter dem Limit, neun von zehn waren in Ordnung", klagt Fernandez und erinnert, dass er daraus keinen Performance-Vorteil gezogen habe. Aprilia-Kollege Aleix Espargaro, der in Thailand als erster Pilot mit einer Drei-Sekunden-Zeitstrafe belegt wurde, sieht das ähnlich. Er beschreibt: "Das Limit lag bei 1,85 bar und es ist nicht so, dass ich das gesamte Rennen mit 1,75 bar gefahren bin. Ich lag das ganze Rennen bei 1,95 oder 1,92 bar."
Erst in den letzten Runden, nachdem er den Zweikampf mit Marc Marquez gewonnen hatte und alleine auf der Strecke unterwegs war, begann der Reifendruck Runde für Runde leicht zu sinken. "Ich habe das Rennen mit 1,84 beendet. Okay, ich habe die Regel damit verletzt und dafür eine Strafe bekommen, aber das ist nicht fair", findet Espargaro und erklärt: "Wenn du mit einem sehr niedrigen Druck startest, um ein besseres Gefühl zu haben, dann ist eine Strafe okay, weil du ab der ersten Runde unterhalb des Limits bist. Aber wenn du kämpfst und der Druck erst dann abfällt, wenn du alleine bist ... ich mag diese Regel nicht."
Der Lösungsvorschlag des 33-jährigen Routiniers: "Es sollte ein Gremium geben, dass mit etwas mehr Vorsicht über diese Regel entscheidet und nicht schwarz-weiß." So könnte im Idealszenario jeder Fall einzeln geprüft und eine Strafe nur dann ausgesprochen werden, wenn die Unterschreitung des Reifendrucks dem entsprechenden Fahrer tatsächlich einen gravierenden Vorteil eingebracht hat. Damit könnte dann auch verhindert werden, dass ein packender WM-Kampf, wie der zwischen Bagnaia und Martin, möglicherweise noch nach Rennende wegen einer Unterschreitung des Mindestreifendrucks in einer einzigen Runde und um wenige Bar entschieden wird.
Dass ein solches Gremium noch in dieser Saison eingeführt wird, erscheint aber nahezu ausgeschlossen. "Das positive ist, dass er [Jorge Martin, Anm.] aktuell den Speed hat, um auch mit mehr als drei Sekunden Vorsprung zu gewinnen", hofft Espargaro dennoch auf eine WM-Entscheidung auf der Strecke. Martin selbst zeigte sich am Donnerstag unbeeindruckt: "Klar, wir haben einen Fehler gemacht, du willst natürlich nie unter den Druck gehen. Aber wir haben gewonnen und 25 Punkte kassiert, das ist das Wichtigste. Außerdem waren all meine anderen Siege mit dem normalen Reifendruck. Wir waren [in Thailand, Anm.] sehr nah am Limit dran, die Unterschreitung war nur minimal. Wenn ich diesmal eine Warnung erhalte, muss ich mir halt einen Windschatten suchen."
Francesco Bagnaia: Absichtlicher Verstoß gegen Mindestreifendruck?
Kurios: Ausgerechnet für WM-Leader Bagnaia, in der Vergangenheit einer der größten Kritiker der Reifenmindestdruck-Regel, könnte ein Verstoß in einem der finalen sechs Rennen des MotoGP-Jahres 2023 zum entscheidenden Pluspunkt im Titelkampf werden. "Du kannst einen großen Vorteil beim Bremsen daraus ziehen, während des Rennens unter dem Mindestdruck zu sein", weiß der Ducati-Pilot und will eine absichtliche Unterschreitung nicht ausschließen: "Das kann hier [in Sepang, Anm.] von Vorteil sein, aber in Katar vielleicht noch mehr, weil es dort sehr kalt werden und das Limit recht hoch sein wird. Das könnte uns in gewissen Situationen helfen."
Für die Zukunft erhofft sich Bagnaia aber ebenfalls einer Regelanpassung, zumal ab der kommenden Saison voraussichtlich sofortige Disqualifikationen bei einer Unterschreitung des vorgegebenen Mindestdrucks drohen: "Niemand mag diese Regel. Sie beeinträchtigt deinen Fahrstil sehr stark und trägt nichts zur Sicherheit bei. Wenn der Druck zu hoch wird, kannst du die Front sehr leicht verlieren und stürzen. Wir haben schon vor der Regeleinführung hart daran gearbeitet, im erlaubten Bereich zu sein, aber du weißt einfach nicht, wie das Rennen verlaufen wird. Du kannst bei 1,7 bar bleiben oder im selben Moment auf 2,2 bar hochgehen. Es ist verdammt schwierig, einen konstanten Reifendruck zu halten."
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