Hätte, wäre, wenn. Vor allem in Valentino Rossis Kopf dürften nach dem MotoGP-Rennen in Barcelona Konjunktive en masse umherschwirren. Denn obwohl sein Yamaha-Teamkollege Jorge Lorenzo seinen vierten Sieg en suite einfuhr, war Rossi so nah dran wie nie während der beeindruckenden Serie des Spaniers. Lediglich knapp 0,9 Sekunden trennten die beiden Dominatoren der Weltmeisterschaft 2015 noch im Ziel. Und obwohl dies den knappsten Abstand der insgesamt 25 Runden darstellte: Lorenzo ist in Barcelona noch einmal mit einem (Yamaha-)blauen Auge davongekommen. Motorsport-Magazin.com analysiert:

Die spektakuläre und hektische Startphase in Barcelona brachte bereits die Entscheidung, Foto: Milagro
Die spektakuläre und hektische Startphase in Barcelona brachte bereits die Entscheidung, Foto: Milagro

Startphase entscheidet Rennen

Der Rennbeginn auf dem Circuit de Catalunya-Barcelona hielt kaum Überraschungen bereit. Lorenzo setzte sich von Startplatz drei auf dem langen Weg bis zur ersten Kurve umgehend vor die Beschleunigungs-resistenten Suzukis von Pole-Mann Aleix Espargaro und Maverick Vinales. Repsol-Honda-Star Marc Marquez heftete sich mit Blitzstart von P4 direkt an Lorenzos Fersen. Auch Rossi kam gut ins Rennen, überholte umgehend die beiden Suzukis sowie Dani Pedrosa. Am Ende der ersten Runde fädelte sich der Doktor als Fünfter hinter Lorenzo, Marquez, Andrea Dovzioso und Pol Espargaro ein, der von P11 einen Traumstart par excellence hingelegt hatte.

Während Lorenzo und Marquez an der Spitze mit irrem Speed direkt eine kleine Lücke rissen, kämpfte sich Rossi zunächst an Pol Espargaro vorbei, hing ab Mitte der zweiten Runde dann jedoch hinter Dovizioso fest. Bereits im dritten Umlauf stürzte dann Marquez bei der halsbrecherischen Lorenzo-Hatz, verschaffte dem Spanier somit die aus Sicht der Konkurrenz so giftige freie Fahrt an der Spitze. Ehe Rossi am Ende der vierten Runde den Platz des ersten Verfolgers einnahm, war sein Teamkollege an der Spitze bereits um 1,4 Sekunden enteilt.

Valentino Rossi verlor hinter Andrea Dovizioso wichtige Zeit, Foto: Milagro
Valentino Rossi verlor hinter Andrea Dovizioso wichtige Zeit, Foto: Milagro

In der Folge setzten sich die beiden Yamaha-Superstars spielend leicht immer weiter vom Rest des Feldes ab. Spätestens nach Doviziosos Crash in Runde sechs stand dabei bereits fest, dass der Sieger zum sechsten Mal im siebten Saison-Rennen aus dem Lager der "Dunkelblauen" kommen würde. Bis zur Mitte des Rennens schien der nächste Lorenzo-Erfolg nur eine Formsache zu sein. Der Spanier packte in Eichhörnchen-Manier stetig Hundertstel um Hundertstel auf seine Führung, sodass sein Vorsprung kurz vor Mitte des Rennens am Ende der zwölften Runde mit 2,3 Sekunden seinen Höhepunkt erreichte.

Das folgende Schaubild zeigt die Abstandsentwicklung der Piloten an der Spitze ab der vierten Runde. Neben Rossi und Lorenzo werden zu Referenzzwecken ebenfalls die Zeiten des späteren Dritten Pedrosa (Repsol Honda), des Vierten Andrea Iannone (Ducati) sowie von Pole-Setter Aleix Espargaro (Suzuki) angezeigt. Dies soll die eindrucksvolle Dominanz Yamahas bereits vor dem noch stärker einsetzenden Reifenabbau in der zweiten Rennhälfte illustrieren.

Auffällig: Trotz "freier Fahrt" für Aleix Espargaro ab Runde vier bauten dessen Rundenzeiten und Reifen bereits früh im Rennen rapide ab. Sein Longrun-Niveau der Freien Trainings und auch des Warm-Ups (niedrige bis mittlere 1:42er) erreichte der Pole-Mann bei den heißesten Bedingungen des gesamten Wochenendes von über 50 Grad Asphalt-Temperatur nicht einmal ansatzweise.

Sowohl Pedrosa (Startplatz sechs, P10 nach einer Runde) als auch Iannone (Startplatz zwölf, P9 nach einer Runde) zollten letztlich früh dem hohen Reifenverschleiß der intensiven ersten Runden Tribut, verließen bereits nach knapp einem Viertel der Renndistanz endgültig die 1:42er-Rundenzeiten. Der Zwischenspurt mit vielen Überholmanövern kulminierte für beide letztlich in einer brutalen Abwärtsspirale gegenüber den beiden Yamahas, die ab Rennmitte immer schlimmer wurde. Bei knapp 20 respektive 25 Sekunden Rückstand auf Sieger Lorenzo kassierten beide im Ziel eine schallende Ohrfeige. Aleix Espargaro stürzte unter immer größerem Druck von Iannone im Kampf um Platz vier letztlich fünf Runden vor dem Ende, nachdem auch seine Zeiten immer weiter in den Keller gefallen waren.

Dani Pedrosa pflügte in Barcelona in Manier bester Tage durchs Feld, Foto: Repsol
Dani Pedrosa pflügte in Barcelona in Manier bester Tage durchs Feld, Foto: Repsol

Während Pedrosa die gravierenden Probleme der Honda RC213V im Kurveneingang sowie seine nach wie vor nicht vollständige Renn-Fitness zu Gute gehalten werden müssen, hatte Iannone (bereits auf frischen Reifen) mit derart mangelhaftem Grip zu kämpfen, dass sich der Italiener gar die Vorjahres-Ducati zurückwünschte. Wie "reifenfressend" die Ducati in Barcelona agierte, zeigte bereits die Wahl der Pneus vor dem Start. Während sämtliche Top-Teams ihre Fahrer vorne und hinten mit Medium-Reifen ausstatteten, zogen die vier Werks-Ducatis mit der härteren Mischung auf der Front zu Felde. Auch die erhoffte größere Bremsstabilität verpuffte dabei jedoch nahezu wirkungslos.

Fuchs Rossi mit perfektem Pokerspiel

Die zweite Rennhälfte stand einzig und alleine im Zeichen von Rossi. Selbst Lorenzo zeigte sich im Anschluss an seinen Sieg überrascht vom aberwitzigen Speed des Doktors. Nachdem der Spanier seine Führung bis zur Rennmitte stetig ausgebaut hatte, schien die nächste dominante Triumphfahrt bereits in Stein gemeißelt. Rossi hingegen hatte andere Pläne. Mit großer Rennintelligenz und dazugehörigem Fahrgefühl war es dem Doktor gelungen, seine Reifen entscheidend weniger zu belasten, ohne gleichzeitig zu viel an Rückstand anzuhäufen.

Valentino Rossi drehte in der zweiten Rennhälfte mächtig das Gas auf, Foto: Milagro
Valentino Rossi drehte in der zweiten Rennhälfte mächtig das Gas auf, Foto: Milagro

Ab Runde 13 erhöhte Rossi merklich den Druck, knabberte binnen drei Umläufen 0,4 Sekunden von Lorenzos Vorsprung ab. Dieser gaste nun seinerseits an, schraubte die Führung kurzzeitig noch einmal über zwei Sekunden. Rossis besserer Reifenzustand kam nun jedoch immer stärker zum Tragen. Erneut schmolz der Rückstand im Zehntelsekunden-Bereich, ehe der Italiener alleine im 19. Umlauf 0,4 Sekunden gutmachte. Sechs Runden vor dem Ende wackelte Lorenzos Sieg bei nur noch 1,3 Sekunden Vorsprung gewaltig.

"Ich konnte nicht glauben, was da passiert", gestand Lorenzo nach dem Rennen. "Ich dachte, ich hätte alles unter Kontrolle, aber Rossi war so schnell. Ich habe mich ans absolute Limit gepusht und sogar riskiert, zu stürzen. Das mache ich normal nie, aber ich wusste, dass dies die einzige Chance ist, Rossi hinter mir zu halten." Im folgenden Schaubild ist zu sehen, dass der Abstand im Anschluss an Runde 19 dann tatsächlich für fünf Umläufe quasi "eingefroren" blieb. In der letzten Runde packte Rossi dann zwar noch einmal den Hammer aus, jedoch war es da bereits zu spät für den nächsten Wunder-Sieg gegen Lorenzo a la 2009.

Die folgende Tabelle dient dazu, die Entwicklung des Rennens noch einmal Schwarz auf Weiß in Zahlen darzustellen. Daraus wird klar ersichtlich, dass Rossi ab dem Moment seiner freien Fahrt mit Beginn von Runde fünf der schnellere Mann war - wenn auch nur knapp. Eine volle Sekunde des finalen Rückstands auf Lorenzo resultiert bereits alleine aus der Startrunde. Den Rest der Zeit verlor Rossi während seiner knapp eineinhalb Runden hinter Dovizioso.

Rossis Rückstand auf LorenzoSplit-Zeiten
Start plus erste Runde+1,033
Zeit hinter Dovizioso+0,380
Rest-0,528
Gesamt+0,885

Beide Hürden hätte der Doktor mit einer besseren Leistung im Qualifying demnach bereits im Vorfeld eliminieren können. Nach den zuletzt deutlichen Pleiten gegen Lorenzo war der Sieg für Rossi in Barcelona definitiv alles andere als ein Ding der Unmöglichkeit...

Redaktionskommentar

Motorsport-Magazin.com meint: Sollte Barcelona als Fingerzeig für den weiteren Saisonverlauf dienen, dürfen wir uns auf einen gigantischen Yamaha-internen WM-Kampf freuen. Trotz aller Dominanz und vier Siegen in Folge für Lorenzo ist es noch immer Rossi, der die Gesamtwertung mit einem Punkt anführt. Der Doktor weiß mit all seiner Erfahrung auch in schwierigen Zeiten, maximale Schadensbegrenzung zu betreiben. Dass sich Rossi aus dem Schatten seines Teamkollegen wieder herausarbeiten kann und wird, sollte das Barcelona-Wochenende eindrucksvoll bewiesen haben. Zwar war Rossi bei freier Fahrt nur marginal schneller, angesichts der gigantischen Rückstände der letzten Rennen war dies jedoch bereits mehr als nur ein Quantensprung. Dennoch ist Rossi gewarnt: Verbessert er seine Qualifikations-Leistung nicht, dürfte er die WM-Führung schon bald erstmals in dieser Saison los sein (Samy Abdel Aal).