Brustwirbelsäulenbruch, Rückenmarkverletzung, Genickbruch, Schien- und Wadenbeinbrüche an beiden Beinen, Frakturen an beiden Händen, Bruch des rechten Unterarms, Ellenbogenbruch, Gehirnerschütterung, vier Rippenbrüche, Lungenquetschung. Es ist ein Wunder, dass Robert Wickens seinen dramatischen Unfall beim IndyCar-Rennen 2018 in Pocono überhaupt überlebt hat.
Ebenso wunderbar: Der Kanadier hat sich nicht nur ins Leben, sondern auch zurück ins Rennauto gekämpft. 2022 gab er sein Motorsport-Comeback in der US-amerikanischen IMSA Michelin Pilot Challenge, 2023 gewann er die Meisterschaft in der TCR-Kategorie. Wegen seiner Lähmung bremst Wickens heute mit den Händen statt mit den Füßen. Jetzt erfolgte der nächste Schritt hin zur anvisierten Rückkehr in den Profi-Sport: Bosch hat den 35-Jährigen mit einem Bremssystem ausgestattet, das ganz neue Möglichkeiten eröffnet.
Robert, schaust du dir den Unfall in Pocono heute noch an?
Robert Wickens: In unserer modernen Gesellschaft lässt sich das nicht vermeiden. Der Unfall ist heute mit meinem Namen verbunden. Wenn du meinen Namen googelst, ist der Unfall der erste Treffer - und nicht, dass ich Meisterschaften gewonnen habe. Weißt du, ich habe keinerlei Erinnerungen an den Unfall oder den Tag. Der menschliche Verstand ist eine verrückte Sache. Das Streckenpersonal sagte mir, dass ich bei Bewusstsein war, als sie eintrafen. Ich kann einfach nicht verstehen, wie das möglich war.
Wann hast du die Bilder denn zum ersten Mal gesehen?
Robert Wickens: Ich habe die TV-Bilder einen Monat nach dem Unfall gesehen. Bis dahin hatte ich keine Ahnung, was genau passiert war. Ich wusste nur, in welchem Zustand ich mich befinde. Meine Familie hat den Unfall nicht vor mir versteckt. Sie wollten aber sicherstellen, dass ich mental vorbereitet bin, wenn ich ihn sehe. Als ich die Bilder dann angeschaut hatte, dachte ich: "Was, das war's?" Klar, der Unfall war heftig, aber ich hatte schon ziemlich ähnliche in der IndyCar gesehen. Da gab es auch Knochenbrüche, aber die Fahrer waren nicht gelähmt, hatten keinen Genickbruch, keine Wirbelsäulenfraktur und so weiter. Erst durch die Untersuchung der IndyCar habe ich erfahren, welche Kräfte bei meinem Unfall im Vergleich zu ähnlich aussehenden Crashes wirkten.

Wie hast du dich ans Rennfahren nur mit den Händen gewöhnt?
Robert Wickens: Das Timing dafür war wirklich komisch. Während der Corona-Pandemie war E-Sport plötzlich das "New Normal". Ich habe mir einen Simulator gekauft und mich damit an die Handsteuerung rangetastet. Und auf einmal fuhr ich wieder Rennen gegen die Jungs, gegen die ich früher gefahren bin, nur eben virtuell. Wir hatten den Simulator nur zwei Tage vor meinem ersten Rennen eingerichtet, und ich bin 16 Stunden am Tag gefahren, um zu üben. Ich musste meinen Körper und meinen Instinkt neu trainieren, um mit den Händen statt den Füßen zu bremsen. Ich glaube, dass dieses Umlernen schwieriger ist für Menschen, deren Beine physisch noch funktionieren. Als im ersten Online-Rennen jemand vor mir gebremst hat, wollte ich instinktiv und mit all meinen Sinnen mit dem linken Fuß auf die Bremse steigen. Dann fiel mir auf: "Oh, das funktioniert ja nicht."
Gibt es Performance-Unterschiede zum herkömmlichen Bremsen mit den Füßen?
Robert Wickens: Wenn du dir die Telemetrie-Daten anschaust, sieht die Bremskurve exakt gleich aus. Man würde nicht wissen, dass ich mit den Händen bremse und meine Teamkollegen mit dem Fuß. Wie ich den Bremsdruck erzeuge und in die Kurven reinbremse, ist praktisch gleich. Im TCR-Auto gibt es nur einen kleinen Unterschied. Mit meinem Bremsring habe ich nicht die Bremsdruck-Schwingungen des ABS wie mit der Fußbremse. Das heißt, ich bekomme nicht das Feedback vom ABS und es fällt mir schwer, zu verstehen, wie aggressiv ich im ABS bin. Meine Teamkollegen spüren das im Fuß, was bei mir nicht möglich ist. Ich muss es also einfach am Lenkrad spüren. Blockiert es oder nicht? Ist die Lenkung leichter oder schwergängiger? Ein bisschen Oldschool, würde ich sagen.

Welche Vorteile bietet das elektronische Bremssystem im Vergleich zum vorherigen?
Robert Wickens: Für mich bedeutet es einen enormen Zugewinn, weil es mir die Möglichkeit gibt, unter gleichen Bedingungen anzutreten wie meine Gegner und Teamkollegen. Der für mich größte Unterschied zwischen dem neuen und dem alten System ist die verringerte Latenz. Bei der vorherigen Technik war sie sehr groß, weil wir einen pneumatischen Aktuator nutzten, um den Bremsdruck aufzubauen. Wir sprechen da von vier bis fünf Zehntelsekunden Verzögerung, wenn ich die Bremse zog. Mit dem alten System war es immer spannend, weil ich die Bremse ziehen musste, um herauszufinden, was passiert, um dann darauf zu reagieren. Mit dem EBS-System von Bosch hingegen kann ich sofort bremsen. Damit ist für mich ein Traum wahr geworden. Seit Beginn dieser Reise wollte ich immer dieses Bremsgefühl replizieren, das ich als nicht-behinderter Fahrer hatte.
Du bist das neue Bosch-Bremssystem in Indianapolis und Road Atlanta gefahren. Wie waren deine Eindrücke?
Robert Wickens: Beide Strecken stellen sehr unterschiedliche Anforderungen ans Bremsen. Der Road-Kurs von Indianapolis verlangt harte Bremsmanöver am Ende der Geraden und eine gute Brems-Effizienz in den 90-Grad-Kurven. Road Atlanta ist das genaue Gegenteil. Das EBS-System hat beide Strecken tadellos bewältigt. Mit dem alten System war es in den TCR-Rennen schon irgendwie okay, weil es vor allem ums Spritsparen und die typischen Langstrecken-Anforderungen ging. Da brauchte man nicht unbedingt diesen massiven, sofortigen Bremsdruck. Wenn ich in den Qualifyings aber das Maximum aus dem Auto herausholen wollte, gelang mir das nicht konstant wegen der Latenz im Bremssystem. Ich habe entweder zu früh oder zu spät gebremst, weil ich nie wusste, wie stark die Verzögerung sein würde. Jetzt habe ich das Auto endlich wieder im Griff, statt nur darauf zu reagieren, was mir die Bremse liefert.
Dieser Interview-Auszug stammt aus der Motorsport-Magazin Print-Ausgabe Nummer #100. Das vollständige Gespräch und weitere exklusive Hintergrundgeschichten und Analysen aus der Formel 1 oder MotoGP liest du in unserer aktuellen Ausgabe. Das Magazin ist schnell vergriffen, deshalb am besten gleich hier abonnieren:
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Bremsen per Hand: So funktioniert das Bosch-EBS
Robert Wickens nutzt in seinem Hyundai Elantra N TCR ein System, das Motorsport-Fans eigentlich aus den LMDh-Prototypen der IMSA und WEC kennen. Bosch bestückt die Langstrecken-Rennwagen mit einem einheitlichen Hybridsystem an der Hinterachse, das die kinetische Energie bei Bremsvorgängen in elektrische Energie umwandelt und in die Batterie zurückzuführt. Dieses elektronische Bremssystem (EBS) hat Bosch nun so adaptiert, dass Wickens sein Auto nur mit den Händen auf einem hohen Performance-Level steuern kann. Bisher nutzte der Kanadier eine rein pneumatische Lösung, um mittels eines Bremsrings am Lenkrad die Bremse zu betätigen. Dieser Vorgang sorgte jedoch für eine Verzögerung von mehreren Zehntelsekunden, wie uns Wickens im Interview erklärt.

Bei der neuen Bosch-Lösung kommt hingegen ausgeklügelte Elektronik mit nahezu nicht vorhandener Latenz ins Spiel. Je nachdem, wie stark Wickens am Bremsring zieht, liest ein Steuergerät den an zwei Master-Zylindern eingehenden Druck ein und leitet ihn an zwei EBS-Bremssysteme im Fahrzeug weiter: eines an der Vorder- und eines an der Hinterachse. Der Bremsdruck bzw. die Signale werden an das ABS (Antiblockiersystem) weitergeleitet, wodurch der Bremsvorgang an beiden Achsen erfolgt. Wickens kann Parameter wie die Verteilung der Bremsbalance selbstständig steuern. Die größte Herausforderung für die Bosch-Ingenieure bestand in der Systemauslegung der Software, um Wickens per elektrischen Signalen das Gefühl am Bremsring zu vermitteln, welches er früher in seinem Bremsfuß gespürt hat.
Praktisch ausgedrückt: Wickens erhält einen Gegendruck an seinem Bremsring, um die Rückmeldung von der Bremse an den Händen zu fühlen. Per Hydraulik-Konfiguration kann das Bremssystem in seinem TCR-Hyundai übrigens mit nur einem Schalter-Klick von der elektrischen auf die herkömmliche Bremse im Fußraum umgestellt werden. "Schon nach den ersten Gesprächen mit Robert und seinem Team waren wir begeistert von der Idee", sagt Bosch-Motorsportchef Ingo Mauel. "Mit dieser Technologie können wir noch mehr Menschen einen Zugang zum Motorsport verschaffen. Ebenso können wir unsere Technik-Kompetenz unter Beweis stellen. Es war uns dabei besonders wichtig, dass das System absolut sicher konzipiert ist."
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