Nur allzu oft liest man vom "schwarzen Gold" oder dem "Korn in der Suppe". Aber was genau liegt diesen heiß geliebten Wortspielen zu Grunde? Warum sagen die Fahrer nach den Rennen beinahe genauso oft "Ich hatte Graining" wie nach dem Qualifying "Ich hatte Verkehr"? Und was ist dieses Graining überhaupt?

Zur Beantwortung dieser Frage besorgten wir uns vier Zutaten: Einen erfahrenen und hoch angesehen Formel 1-Testfahrer, je einen imaginären F1-Reifen von Michelin und Bridgestone sowie ein handelsübliches, aber ebenfalls nicht reelles Stück Asphalt. "Der Reifen ist die einzige Verbindung zur Fahrbahn", beginnt Alex Wurz ganz langsam und verständlich. "Er ist natürlich aus Gummi, während die Fahrbahn aus Asphalt besteht. Dieser Asphalt ist im Grunde genommen nichts anderes als Steine, die zusammenkleben."

So weit können wir Oberlehrer Wurz noch folgen. Was aber passiert, wenn Gummi und Stein, beispielsweise während eines Freien Trainings, langweilig wird und sie damit beginnen miteinander zu interagieren? "Dann rutscht der Gummi über den Stein", fordert uns Alex noch nicht allzu stark. "Stellen wir uns nun einen einzelnen Stein vor, der vom Gummi umklammert wird. Diese Konstellation ergibt den berüchtigten Grip."

Damit wären wir bei einem der legendären vier "G" der Formel 1. Das erste "G" ist das eingangs erwähnte schwarze "Gold". G Nummer 2 ist der "Grip", also die Haftung der Formel 1-Boliden auf dem Asphalt. Wie entsteht nun aber durch die Verbindung von G Nummer 1 und G Nummer 2 das noch bekanntere G Nummer 3? Für die Mathematikgenies unter unseren Lesern dürfte klar sein, dass die Formel für die Berechnung der ersten drei G's wohl so oder so ähnlich aussieht: G1 +/- G2 = G3.

Aber zurück zum Thema: der Entstehung des Graining, Neudeutsch auch Körnen genannt. "Durch die Reibung zwischen Asphalt und Gummi entsteht kurzfristige Hitze und wenn das optimal funktioniert, wird ein enormer Grip aufgebaut." Sprich: Der Reifen klebt sprichwörtlich auf der Strecke. Bevor wir nun zum eigentlichen Graining-Phänomen kommen, müssen wir Alex aber noch eine Grundvoraussetzung erklären lassen: "Wir sind immer noch bei unserem Beispiel mit dem Asphalt-Steinchen, das vom Reifengummi umklammert wird. Weil das Auto aber mit 200 oder 300 km/h fährt, muss der Gummi den Stein logischerweise wieder los lassen. Dabei bleibt immer ein kleiner Rest am Stein haften. Das nennen wir die normale Reifenabnutzung oder tyre wear."

Hauptdarsteller Nummer 1: Der Reifen., Foto: Sutton
Hauptdarsteller Nummer 1: Der Reifen., Foto: Sutton

Dieses völlig normale und systemimmanente tyre wear kann aber unter bestimmten Umständen zum gefürchteten irreversiblen Graining mutieren. Alex verrät uns wie: "Wenn die Umklammerung des Steins durch den Gummi nicht optimal funktioniert", beginnt der Österreicher, "etwa weil es zu kalt ist, entsteht das Graining." Dieses Graining könnte man quasi als brutales Herausreißen von Gummi-Molekülen aus dem Reifen ansehen.

Dieser Reifen besitzt bekanntermaßen eine gewisse Gummizusammensetzung, die Mischung oder englisch den Compound. "Wenn ein Gummi jetzt etwa zu hart ist", gibt Alex uns keine Ruhepause, "zeigt er nicht so viel Oberflächenreibung auf dem Stein." Denn umso weicher der Gummi ist, desto einfacher kann er den Stein umschließen und umso höher ist die Reibung. "Bei so einer härteren Gummimischung ist die Bindungskraft zu gering und es entsteht ein Abscheren der einzelnen Moleküle - das nennen wir Graining. Dieses Graining kann man nicht mehr beseitigen, da es die Struktur des Reifens irreparabel verletzt."

Warum sprechen die Fahrer und Ingenieure dann immer davon, dass sich das Graining im Laufe des Wochenendes verbessert? Wenn die Strecke im Laufe des Wochenendes immer sauberer wird, kann der Gummi den Asphalt besser umschließen. Dieser höhere Grip erzeugt höhere Temperaturen und dadurch entsteht mehr Energie. "Das mildert den Graining-Effekt."

Eigentlich alles ganz logisch, oder? Leider gibt es immer noch ein paar Sonderfälle und Fallen. Denn wenn ein Rennfahrer sich über Graining beklagt, meint er nicht immer dieses echte Graining. "Wenn die Reifenmischung ein bisschen zu weich ist, erzeugt der Reifen zu hohe Temperaturen und schmilzt", setzt Alex zur Erklärung in der Graining-Not an. "Dann wird der Gummi nicht so grob wie beim Graining, sondern eher fein auseinander gerissen. Dabei wird der gesamte Gummi erhitzt, weshalb der Reifen beginnt sich zu bewegen. Einige Fahrer bezeichnen das fälschlicherweise als Graining. Tatsächlich ist es aber nur ein Moving, also eine Oberflächenbewegung, die durch zu weichen Gummi verursacht wird."

Hauptdarsteller Nummer 2: Der Asphalt., Foto: Sutton
Hauptdarsteller Nummer 2: Der Asphalt., Foto: Sutton

Die Formel 1 wäre aber nicht die Formel 1, wenn es nicht noch eine Steigerung geben würde. "Um es, wie alles in der Formel 1, ganz kompliziert zu machen, mischen sich diese Varianten und gehen ineinander über. Denn sobald man einen dieser Effekte hat, verändert sich das gesamte Gefüge des Gummis."

Okay, Graining ist also auf den Punkt gebracht das Herausreißen von groben Gummistücken aus dem Reifen. Das gilt für alle Rennreifen. Dennoch gibt es bedeutende Unterschiede zwischen Bridgestone und Michelin. "Bridgestone hat ein richtiges Graining, deshalb verbessern sie sich über das Wochenende mit mehr Grip", erklärt Alex abschließend anhand eines praktischen Beispiels. "Michelin hat hingegen eine sehr hohe Bindungskraft zwischen den Molekülen erreicht und fährt deshalb mit sehr weichen Mischungen. Wenn diese aber zu weich sind, werden sie im Laufe des Wochenendes schlechter." Das Paket aus Gummi, Graining und Grip ist also gar nicht so einfach zu verstehen. Selbst so mancher F1-Pilot kommt da wie auf abgefahrenen Reifen ins Rutschen. "Ich weiß wie es aussieht", verriet uns einer der 22 schnellsten Sonntagsfahrer in Istanbul, "aber ich weiß nicht, wie man das erklären kann..."