Am 1. Januar 2001 öffnete ein damals noch f1welt.com getauftes Formel 1 Portal seine virtuellen Pforten. Seitdem sind unzählige Terrabyte die Datenleitungen des Internets entlang geflossen und wurde aus f1welt.com das Motorsportportal motorsport-magazin.com. Kurz vor unserem fünften Geburtstag am Neujahrstag 2006 erinnern wir uns jeden Tag an ein Jahr zurück.

Im vorletzten Teil unseres Best of Geburtstags-Countdowns gehen wir zurück ins Jahr 2004. Wie in jedem Jahr liefen uns auch 2004 jede Menge Fahrer, Teamchefs, Technikgurus und Experten vor das Mikrofon. Aber einmal gelang uns der Supercoup: Wir erhielten eine exklusive Audienz bei einem Kaktus.

Im Gespräch mit einem Kaktus

Der Medienhype hat in der F1 neue Höhen erreicht. Es gibt kaum jemanden, der nicht interviewt wird. Und auch wir haben eine "exklusive" Quelle aufgetan.

"Jeder Kaktus, der in einem Fahrerlager steht, wird heute interviewt," erklärte der langjährige F1-Reporter Helmut Zwickl erst vor wenigen Tagen im Interview mit unserem Redakteur Michael Noir Trawniczek. f1welt.com hat keine Kosten und Mühen gescheut und bat in Person von Chefredakteur Stephan Heublein einen der solcherart verunglimpften stacheligen Wüstenzeitgenossen vor das Mikrofon, um über das Dahinvegetieren im künstlichen F1-Paddock und die Königsklasse des Motorsports zu philosophieren.

Etwas seltsam mutete die Idee zu Beginn schon an. Denn wer interviewt denn bitte schön einen Kaktus? Und was noch viel wichtiger ist: Wo treibt man ein solches F1-Wüstengewächs auf? Noch dazu zwei Wochen vor Saisonbeginn nach einer langen F1-Dürre über den Winter?

Es war nicht leicht, besonders da sich in dieser wilden Faschings- und Karnevalszeit unzählige Scharlatane in grünen Kostümen als F1-Kaktus auszugeben versuchten. Doch entgegen der bekannten Regel ist am Aschermittwoch eben doch noch nicht alles vorbei, weswegen wir dank unserer guten Kontakte zur f1welt.com-Partnerrennstrecke des Bahrain International Circuits letzten Endes doch noch einen waschechten F1-Paddock-Kaktus auftreiben und für Sie zum Gespräch bitten konnten.

Aber an dieser Stelle fangen in der heutigen F1Welt die Probleme ja schon an. Zuerst kommt man auf eine schier unendliche Warteliste, dann muss ein Termin mit dem Pressesprecher des Kaktus´ ausgemacht werden und schließlich muss dieser auch auf die Sekunde genau eingehalten werden. Denn so schwer beschäftigte Weltstars wie unser F1-Kaktus reisen bekanntlich von einem Test zum nächsten PR-Termin und wieder zurück zu den Rennen. Da bleibt kaum Zeit für zeitraubende Interviews.

Als wir es dann doch endlich geschafft haben dem stacheligen Zeitgenossen ein paar Minuten seiner kostbaren Zeit zu stehlen und ihm leibhaftig gegenüber stehen, folgt die nächste problematische Situation. Die Pressedame klärt auf: Keine Fragen über die aktuelle Vertragssituation, keine anstachelnden Fragen und natürlich findet alles nur vor der Stellwand mit den offiziellen Sponsorenlogos statt. Es muss schon alles seine Ordnung haben.

Und dann kann es endlich losgehen. Der F1-Paddock-Kaktus Nummer #MP4-17K steht in seiner vollen Größe vor uns. Das Diktiergerät läuft und wir steigen gleich mit einer komplizierten Frage ein: "Was macht ein F1-Kaktus denn den lieben langen Tag im Fahrerlager?"

Entsetztes Stachelnrunzeln bei unserem Gegenüber. Dabei sollte diese Frage ja eigentlich nicht allzu schwer zu beantworten sein, besonders da sie auch schon andere weitaus bekanntere der so genannten F1-Experten, wie etwa der Österreicher Niki Lauda, im Bezug auf die Fahrer stellten. "Die Fahrer beschweren sich, wenn Fans im Paddock sind, aber was machen die Fahrer den ganzen Tag? Sie sitzen in der Box und im Motorhome. Haben sie wirklich Angst vor dem kurzen Weg zwischen dem Motorhome und der Box? Die Fans sind auch nur Menschen wie die Fahrer. Sie sind nicht gefährlich."

Und dies führt uns gleich zur nächsten heiklen Frage: "Sind die Fans gefährlich?" Klare Zustimmung von Seiten unseres grünen Gegenübers, der dieses eine Mal nicht dem Jaguar Team angehört. Die Fans sind gefährlich. Wie jeder der durch den Paddock stolpert und seinen Müll hinter den Kakteen ablädt.

"Aber ist dies denn in der überreglementierten oftmals als hundertprozentig klinisch beschriebenen heilen F1-Paddock-Welt überhaupt möglich? Gibt es da keine durch Bernie und Max in einem endlos langen Schreiben festgeschriebenen Strafen für solche Umweltsünder?", wollen wir wissen. Doch die Antwort darauf scheint im Mosley´schen Paragraphendschungel verschollen zu sein.

Wie fühlt sich unser grüner Freund eigentlich in dieser künstlichen Umgebung des F1-Paddock? Würde er nicht viel lieber in der gewohnten Naturumgebung in einer Wüste mit Sand und Sonne leben? Erneute Verwunderung beim aus der Familie der Centrospermae stammenden F1-Vertreter: Und auf all den Glamour in Monaco, die Hitze in Malaysia und die Stars und Sternchen dieser Welt verzichten?

Also versuchen wir es mit einem etwas versöhnlicherem Thema. "Die Entwicklung raus aus Europa und hin in Richtung China und vor allem Bahrain muss Ihnen dann doch gut gefallen?" Der Kaktus, dessen nicht von der F1 vereinnahmte Verwandten im Lexikon vorwiegend in "die Wüsten und Halbwüsten Amerikas" geschrieben werden, nickt leicht im aufkommenden Wind.

Doch so leicht wollen wir uns nicht geschlagen geben, also kommen wir noch einmal auf den "klinischen Paddock" von heute zurück. Wir konfrontieren #MP4-17K mit einer Aussage von F1-Experte Marc Surer: "Dafür war sich kein Gilles Villeneuve oder Ayrton Senna zu schade, und es war positiv für die gesamte Stimmung. Jetzt hat man eine klinische Welt geschaffen, die nicht gut ist." Ist sich der gemeine F1-Kaktus von heute also zu schade für eine Autogrammstunde mit den zahlenden Fans? "Nein, gewiss nicht", lesen wir aus den leichten Bewegungen des Kaktus im immer stärker werdenden Wind heraus. Aber die Anwälte und Medienfachleute des Teams haben es verboten, da sich die Fans sonst noch an den Stacheln verletzen und ein Millionen Dollar schweres Schmerzensgeld einklagen könnten.

Dies ist die moderne F1Welt. Regiert von Marketingfachleuten, Anwälten und Showmastern. Denn Premiere-Kommentator Jacques Schulz sagte f1welt.com zu Recht: "Wir müssen weg von der Überlegung, dass es sich bei der Formel 1 um Sport handelt. Der Showanteil ist wesentlich erhöht worden."

Und damit sind wir wieder beim Kollegen Helmut Zwickl, der uns mit seinem Kaktus-Kommentar die zweifelhafte Ehre dieses packenden Interviews mit einer Fülle an Informationen und einer unbeschreiblichen Antwortvielfalt bescherte. "Heute werden die Statements der Formel 1-Leute nur noch in homöopathischen Dosen vergeben", sagt er. "Die Fahrer sind Marionetten. Mehr denn je. Und ihre Aussagen sind leere Sprechblasen und nicht druckreif. Du kannst heute die Aussagen von Melbourne transferieren nach Spanien – das ist alles austauschbar."

Der Kaktus schweigt hierzu. Noch stiller als dies beispielsweise einem Kimi Räikkönen immer angedichtet wird. Allerdings ist dies nicht so schlimm, denn die beunruhigende Stille wird schnell durch das schrille Läuten einer genau getimten Zeituhr unterbrochen. Die Interviewzeit mit dem Starkaktus ist abgelaufen. "Wir danken Ihnen für das aufschlussreiche Gespräch", kommt es uns über die Lippen und der kleine grüne Kaktus macht sich auf den Weg zu einem weiteren wichtigen Termin: Der Kaktusparade. 20 Kakteen auf einem Laster – und glücklicherweise sprechen sie wenigstens untereinander, wenn schon nicht mit anderen...

Originaltext: Stephan Heublein, f1welt.com / Erstveröffentlichung: 25.02.2004