Rund 24 Stunden nach dem Grand Prix von Europa auf dem deutschen Nürburgring stellen sich Fragen wie: War es klug, mit einem Reifen weiterzufahren, der sich längst von seiner runden Form verabschiedet hat und sich im Inneren nichts lieber wünschte, als ein Quadrat zu sein. Wie groß waren die Chancen, solchermaßen ins Ziel zu eiern? Oder war es ein unnötiges Risiko, welches Kimi Räikkönen auch das Leben hätte kosten können, weil dieses buchstäblich nur an einem Drahtseil hing? Wäre es klüger gewesen, den Sieg in den Wind zu schreiben und mit neuen Reifen ein paar WM-Punkte abzustauben? Und schließlich könnte man auch völlig ins Dramatische abgleiten und entgeistert fragen: Ist die Reifenregel des Jahres 2005 eine gefährliche Todesfalle, die heimtückisch mit dem Racern angeborenen Ehrgeiz arbeitet, quasi mit dem Sieg als Lockmittel? Oder weniger dramatisch gefragt: Werden durch die Reifenregel des Jahres 2005 vermehrt Reifenschäden heraufbeschworen?

Diese Grundfrage hat McLaren-CEO Martin Whitmarsh gleich nach dem Rennen in den Raum gestellt. "Dieser Unfall hat gezeigt, wie gefährlich diese Regeln sind. Die Regeln haben uns ein Dilemma beschert..." David Coulthard beschreibt das Dilemma - gegenüber der Times sagt er: "Die Regeln sind sicher gut für das Fördern von Überholmanövern und für das gesamte Entertainment, aber es steht außer Frage, dass diese Regeln auch die Gefahr erhöhen. Das ist eine große Sorge." Coulthard holt aus: "Die FIA steht auf dem Standpunkt, dass die Fahrer die Entscheidung treffen sollen - aber sie verlangen von uns, dass wir unsere Rennen wegschmeißen, indem wir neue Reifen abholen." Er selbst entschied sich gestern auch für das Risiko: "Ich habe am Ende deutlich die Vibrationen bemerkt, aber ich konnte es mir einfach nicht erlauben, meinen vierten Platz zu verlieren."

Das Dilemma heißt Ehrgeiz, das Dilemma heißt Racingherz oder wie auch immer man jenen Zustand beschreiben möge, der einen überhaupt erst so weit gehen lässt, dass man in einer 350 km/h schnellen Kohleröhre mit freistehenden Rädern den Kampf um den Sieg aufnimmt. FIA-Präsident Max Mosley müsste als ehemaliger Rennfahrer von diesem fieberhaften Ehrgeiz Bescheid wissen - von diesem inneren Motor, der die Fahrer antreibt, sie angreifen lässt, sie Höllenqualen durchhalten lässt, weil sie das Ziel - und zwar sowohl das physische als auch das geistige - erreichen wollen. Die Grenze zwischen Risikobereitschaft und Unvernunft ist so schmal wie ein Drahtseil - wie jenes Drahtseil, welches im schlimmsten Falle gestern für Kimi Räikkönen ganz andere Konsequenzen mit sich bringen hätte können. Dass diese Seile nicht immer halten, dass Reifen immer noch zu Geschossen werden können, wissen wir.

Wir sind hier, um Rennen zu gewinnen - Ron Dennis bringt es auf den Punkt., Foto: Sutton
Wir sind hier, um Rennen zu gewinnen - Ron Dennis bringt es auf den Punkt., Foto: Sutton

Doch dieser "Ehrgeiz V10-Motor" treibt nicht nur die Fahrer zu Bestleistungen - er hat auch die gesamte Kommandobrücke eines Teams erfasst, sobald die Ampeln auf Grün springen. McLaren-Boss Ron Dennis ist kein gewöhnlicher Firmenchef, sondern wohl eher ein vom Rennsport Besessener - sonst wäre er nicht dort, wo er heute steht - und mit seiner Aussage bestätigt er, dass auch er bereit ist, dieses von den Reifenregeln diktierte Risiko auf sich oder besser auf seinen Fahrer zu nehmen. Natürlich sagt er: "Wir sind hier um zu gewinnen und wir haben eben den Preis dafür bezahlt, das Risiko auf uns genommen zu haben." Und natürlich sagt er: "Wir haben das mit Kimi am Boxenfunk besprochen, er sagte, er komme mit den Vibrationen klar und wir entschieden alle gemeinsam, auf den Sieg zu setzen. Verständlicherweise ist das gesamte Team enttäuscht, doch wir haben alle gemeinsam entschieden - und keiner im Team, auch Kimi nicht, bereut diese Entscheidung."

Ron Dennis beweist also ungewollt, dass die Verantwortung wohl eher bei der FIA liegt. Ein Pilot will den Sieg, ein Team will den Sieg. Dafür tun sie ihren Job, dafür nehmen sie Entbehrungen in Kauf, setzen sich einem ungeheuren Druck aus. Es ist also die FIA, welche die Sicherheit wollen müsste. Und es ist so absurd wie es auch sündteure Sparmaßnahmen sind, dass die neuen Reifenregeln ein erhöhtes Sicherheitsrisiko darstellen. Denn mit den Argumenten Sicherheit und Kostensenkung werden diese Regeln durchgesetzt. Kein Wunder also, wenn nach dem gestrigen Glücksfall (Kimi Räikkönen hatte Glück, nicht von einem Reifen erschlagen worden zu sein) wieder auf diese Gefahr der Reifenregel hingewiesen wird. Und nicht zum ersten Mal...

Die Kollegen von Pitpass erinnern daran, dass Minardi-Boss Paul Stoddart schon im Winter in einem Brief an den FIA-Präsidenten geschrieben hat: "Wie um alles in der Welt kann diese Reifenbeschränkung eine Verbesserung der Sicherheit sein, wo wir doch im letzten Jahr schon gesehen haben, wie der Reifenkrieg die beiden ultra-konkurrenzfähigen Reifenfirmen ans Limit gehen ließ, weil sie einfach den anderen schlagen wollen?" Stoddart erinnerte in dem Schreiben an den haarsträubenden Unfall von Jenson Button in Spa, in den der Ungar Zsolt Baumgartner verwickelt wurde, die Ursache war eine Reifenexplosion.

Stoddart hat in seinem Schreiben all das beschrieben, was gestern passiert ist. Und wäre das Schicksal gestern ungnädig gewesen, würden wir heute um einen jungen Piloten trauern. Und alle Welt würde sich an den Kopf greifen, weil alle Welt erkennen würde, dass dieses Unglück von einer FIA-Regel heraufbeschworen wurde.

Reifenschäden sind immer möglich. Drahtseile können reißen..., Foto: Sutton
Reifenschäden sind immer möglich. Drahtseile können reißen..., Foto: Sutton

Stoddart schrieb: "Sie haben jetzt diese One-Race-Reifen eingeführt - aber wie wird das Szenario aussehen? Dein Fahrer rast beim Start auf die erste Kurve zu, dort passiert etwas, er muss stark abbremsen, er holt sich einen Bremsplatten. Jetzt vibriert das Fahrzeug - also was wird er tun? Wird er reinkommen und die Reifen wechseln? Sicher nicht - denn er weiß, dass dies das Ende seines Rennens sein könnte. Also bleibt er draußen, versucht, mit den Vibrationen klar zu kommen, er sagt dann vielleicht am Boxenfunk: 'Das Auto ist unfahrbar. Was soll ich tun?'. Und dann sagt das Team: 'Du bist in den Punkterängen. Mach weiter, mach dir keine Sorgen.'" Und Stoddart schloss seinen Brief mit den Worten: "Wir sind einfach besorgt, was passieren könnte, wenn - der Himmel verhindere es - ein Reifen in das Publikum schleudert..."

Eines ist klar: Reifenschäden können immer passieren. Doch diese Reifenregel fördert das Fahren mit unfahrbaren Fahrzeugen, sie erzwingt es geradezu. Dies ist nicht bestreitbar. Eben weil keine Reifenfirma einen Reifen entwickeln kann, der resistent gegen einen Bremsplatten ist. Und weil ein zusätzlicher Boxenstopp hingenommen werden muss, der nicht in die Boxenstrategie integriert werden kann, weil das gleichzeitige Auftanken verboten ist. Holt man neue Reifen, hat man einen Stopp mehr auf dem Konto. Und das bedeutet in 80 von 100 Fällen die Zerstörung des Rennens. Man kann es den Teams und den Piloten nicht verübeln, wenn sie jenes Ziel, welches sie zuvor tagelang verfolgt haben, dann einfach mit dem Preis des Risikos versuchen doch noch zu erreichen.

Man kann es drehen und wenden so oft man will - diese Reifenregel ist eine Gefahr. Es ist absurd, dass sie gemeinsam mit den anderen Regeln im Zeichen der erhöhten Sicherheit eingeführt wurde. Der Ball liegt wieder einmal bei der FIA. Noch kam niemand zu Schaden...