Der Artikel wurde in der 81. Ausgabe des Printmagazins von Motorsport-Magazin.com am 28. Oktober 2021 veröffentlicht.
Es passte ein wenig ins Gesamtbild der umgekrempelten DTM. Als am Sonntagabend auf dem Norisring die Teams damit beschäftigt waren, ihre zum Teil stark lädierten Rennautos in die Trucks zu verladen, wurde wenige Meter daneben im Fahrerlager ordentlich angestoßen. Anstatt wie früher den Vorständen in Herstellerpalästen die Hände zu schütteln, schüttelte Maximilian Götz nach dem Saisonfinale direkt vor seinem Wohnwagen eine Kiste Bier aus dem Ärmel und stieß mit Freunden und Fans auf das scheinbar Unmögliche an: den völlig überraschenden Gewinn der DTM-Meisterschaft 2021.
Die zu früheren DTM-Zeiten obligatorisch vorbereiteten Meister-Shirts gab es diesmal nicht im HRT-Mercedes-Team des gut betuchten Besitzers Hubert Haupt, Campingstühle prägen vielmehr das öffentliche Bild einer neuaufgestellten DTM, in der die Hersteller zumindest nicht mehr ganz so viel zu sagen haben. Die gesellige Wohnwagen-Runde bildete für Götz den Auftakt eines kleinen Party-Marathons, der nach einem Besuch bei seinen Freunden des Motorsport Club Nürnberg schließlich am Montagmorgen gegen 5 Uhr in einem Club in der Innenstadt endete.
Und was einige TV-Zuschauer des Saisonfinales sicherlich kaum geglaubt hätten: Götz teilte sich für die Abfahrt ein Taxi ausgerechnet mit Lucas Auer. Jenem Österreicher, der seinen Mercedes-Marken-, nicht aber -Teamkollegen einige Stunden zuvor zur Meisterschaft geführt hatte, indem er den Fuß vom Gas nahm, 15 Sekunden Zeitvorteil herschenkte und Götz seinen zweiten und titelentscheidenden Sieg auf dem berühmten Nürnberger Stadtkurs überließ.
Während sich im Anschluss einige Fans über eine Stallorder - ein historisch geprägter Begriff in der DTM - empörten, bekamen nur Wenige mit, dass es beim Saisonfinale womöglich gar keinen offiziell feststehenden Meister gegeben hätte. Vorausgegangen war ein Protest von Auers Mercedes-AMG Team Winward, das sich unfair behandelt fühlte, als im Samstagsrennen der eigene Fahrer Philip Ellis von Götz' Titelrivalen Liam Lawson auf der Strecke gedreht wurde, dieser jedoch straffrei davonkam.
Und das nur eine Woche nachdem der andere verbliebene Titelaspirant, Kelvin van der Linde, in Hockenheim eine heiß diskutierte und insgesamt häufig verteilte 5-Sekunden-Strafe wegen eines ähnlichen Remplers, diesmal mit Lawson als Opfer, kassiert hatte. Es war der nächste und sollte nicht der letzte Akt bleiben in einer größeren Diskussion über einige Entscheidungen der neu installierten Rennleitung.
Der offiziell vom Team Winward, eigentlich ein Kontrahent von Götz' Team HRT, eingelegte Protest - mit ungewöhnlich und auffällig vielen Formfehlern - wurde zunächst von den Sportkommissaren abgeschmettert und eine flugs folgende Berufungsankündigung noch am Sonntagmorgen zurückgezogen. Andernfalls wäre es vors DMSB-Sportgericht gegangen, wo wenige Wochen zuvor schon die 82 Tage andauernde Sprit-Thematik rund um einen Vorfall beim DTM-Saisonstart in Monza behandelt worden war.
Nicht wenige Szene-Kenner kamen zum Schluss, dass in der Norisring-Protestangelegenheit Mercedes-AMG seine Finger im Spiel hatte, um durch eine mögliche Lawson-Bestrafung im Nachgang dem 'eigenen' Titelanwärter Götz eine bessere Chance einzuräumen. Der eigentlich von DTM-Boss Gerhard Berger ungewollte Eingriff eines Herstellers schwebte im Raum und erhielt durch die 'freundliche Unterstützung' für Götz im letzten Rennen zusätzliche Nahrung.
Dass sich Mercedes-AMG letztendlich in die Lage brachte, im Titelkampf eine Hilfe liefern zu können, kann den Affalterbachern allerdings nur bedingt zum Vorwurf gemacht werden. Schon früh hatte sich die Performance-Marke zu einem Engagement in der neuaufgestellten DTM bekannt und damit einen entscheidenden Anteil am Fortbestand gehabt. Mit sieben Fahrzeugen bildete Mercedes-AMG die Hoheit im Feld der 19 permanenten Starter.
Während die AMG-Kundenteams untereinander Daten austauschten und weiteren Support erhielten, waren etwa die BMW-Mannschaften von Walkenhorst und ROWE mehr oder weniger auf sich alleine gestellt. Das rächte sich möglicherweise im Saisonendspurt, als die BMW M6 GT3 in Hockenheim und auf dem Norisring über weite Strecken fairer Einstufung in der Balance of Performance plötzlich genauso im Nirgendwo verschwanden wie Marco Wittmanns Titelchancen.
AF Corse mit seinen beiden Ferraris hatte zwischenzeitlich das Gefühl, dass sich die Konkurrenz komplett gegen das italienische Top-Team verschworen hätte. Als eine "Schande für den Sport", bezeichnete Teamchef Ron Reichert das kontroverse Norisring-Finale, bei dem der eigentlich haushohe Favorit Liam Lawson den sichergeglaubten Titelgewinn einbüßte. Vorausgegangen war eine diskutable Kollision mit Kelvin van der Linde, der genau wie sein Team Abt Sportsline den mehr oder weniger ungebremsten Sturm auf die erste Kurve und in Lawsons Ferrari offenbar als alternativlos ansah.
Zu viel Frust hatte sich während der Saison bei den Äbten angestaut und nicht nur der Kemptner Rennstall gewann den Eindruck, dass die Ferraris zumindest zeitweise einen Performance-Vorteil hatten. Woran genau das gelegen haben könnte, darüber rätselt die Fachwelt bis heute. "Natürlich war der Ferrari über weite Strecken sehr konkurrenzfähig, wenn es drauf ankam", meinte auch der im GT3-Sport erfahrene Champion Götz. "Besser als wir es waren, auch als Audi. Man muss am Ende in die Tiefe gucken, warum das der Fall war. Egal, was beim Ferrari war - ob BoP-Änderungen oder Zusatzgewichte - das hat die wenig gestört. Ich glaube, deshalb war es auch für Liam einfach, Konstanz reinzubringen."
Abt-Teamchef Thomas Biermaier nahm unterdessen seinen Schützling van der Linde nach dem Norisring-Crash in Schutz und argumentierte: "Mit der Balance of Performance, dem Boxenstopp-Thema und einigen Schiedsrichter-Entscheidungen waren wir nicht immer auf der glücklichen Seite. Das alles hat dazu geführt, dass wir ein sehr hohes Risiko eingehen mussten - an der Box genauso wie auf der Strecke."
Nicht schön, aber verständlich sei die Mercedes-Vorgehensweise laut der realistischen Einschätzung von DTM-Chef Berger gewesen. "Mercedes hat sich in eine gute Position versetzt und auf jedem Auto gute Fahrer", meinte der Österreicher. "Das zahlt sich aus. Am Ende einer Saison kommt es bestimmt immer zu Strategie-Spielchen, aber sicherlich nicht während des ganzen Jahres. Und wir wollen auch nicht, dass es sich in diese Richtung entwickelt." Einen Rückfall in frühere Zeiten, als Hersteller schon nach wenigen Rennen anordneten, wer um den Titel kämpfen darf und wer Wasserträger spielen muss, soll es keinesfalls geben.
Die Lösung klingt zumindest in der Theorie simpel: je mehr unterschiedliche Marken im Starterfeld, desto weniger Möglichkeiten für Strategie-Spielchen. Während der ersten Saison mit den GT3-Autos hat die DTM ihr Potenzial und ihre weiterhin vorhandene Strahlkraft mehrfach aufblitzen lassen. Das McLaren-Team JP Motorsport mit dem ehemaligen Formel-1-Fahrer Christian Klien absolvierte drei Gaststarts und auch Porsche in Form von SSR Performance gab sich erstmals in der über 30-jährigen Geschichte der DTM die Ehre.
Auch mit mehr Zelten als Herstellerpalästen im Fahrerlager bleibt die DTM eine höchst attraktive Adresse im internationalen Motorsport. Die Rückkehr von Dominator Rene Rast und Gerüchte über ein Engagement der lebenden MotoGP-Legende Valentino Rossi sind bei einem ohnehin schon namhaften Starterfeld weitere gute Argumente für Teams, das benötigte Budget aus Sponsoren herauszukitzeln. Und - das lässt sich nun zweifellos bestätigen - war es eine goldrichtige Entscheidung, an der DNA der DTM mit nur einem Fahrer pro Auto festzuhalten. Von 'nur einer weiteren GT-Serie' kann keine Rede sein, zu sehr standen die einzelnen Fahrer im Gegensatz zu anderen GT3-Serien mit ihren Scharmützeln auf und abseits der Strecke im Fokus.
Über ein weiteres Alleinstellungsmerkmal der DTM, die Performance-Boxenstopps, wird hingegen noch zu sprechen sein. Für die Angelegenheit, die Ferrari und Mercedes klar bevorteilte, muss schnell eine Lösung gefunden werden, um aktuelle oder neue Teams und Hersteller nicht zu vergraulen. In dieser seit dem Saisonauftakt in Monza schwelenden Kontroverse hat die ITR kein allzu gutes Bild abgegeben, zumindest aber Anpassungen in Aussicht gestellt.
Mit Blick auf das Gesamtbild der nicht selten für tot erklärten DTM hat sich der enorme Kraftakt von Bergers ITR-Team während des Corona-Winters jedenfalls ausgezahlt. Der Traditionsserie wird von zahlreichen Experten eine sichere Zukunft bescheinigt. "Jetzt schlafen wir zwei Tage durch, dann geht es weiter", sagte der frühere Formel-1-Fahrer und heutige Unternehmer nach dem Saisonfinale. Berger weiß nur zu gut, dass sich viel Arbeit auf seinem Schreibtisch getürmt hat.
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