434 Tage. 434 Tage lang gewann Ferrari kein Formel-1-Rennen. 434 Tage ohne italienische Nationalhymne, ohne Glockengeläute in Maranello, ohne Tifosi-Ekstase. In Singapur gelang der Scuderia endlich wieder das schier Unmögliche. Red Bull wurde bezwungen, die Ferrari-Crew sang sich bei der Fratelli d'Italia die Seele aus dem Leib und die Tifosi-Welt war zumindest für einen Augenblick lang in Ordnung. Die endgültige Auferstehung oder nur ein kurzes Aufblitzen der ehemaligen Macht?

Carlos Sainz rettet Fred Vasseur: Endlich erster Ferrari-Sieg

"Es gibt keinen Grund, warum wir nicht von jetzt bis zum Ende zehn Rennen gewinnen können", verlautbarte Mattia Binotto 2022 in Frankreich. Wie wir alle wissen, gestaltete es sich dann doch bedeutend schwieriger: Es bedurfte eines neuen Teamchefs, einer Umstrukturierung, eines Konzeptwechsels, einer Spitzen-Performance von Carlos Sainz und eines rabenschwarzen Wochenendes von Red Bull.

Fred Vasseurs erster Sieg glich einer Erlösung. Wenn schon aus dem Saisonziel Weltmeistertitel nichts wurde, linderte Carlos Sainz' zweiter Sieg in der Königsklasse zumindest etwas die leidgeplagten Ferrari-Herzen. Zwischen den zwei Siegen lag mehr als ein Jahr voller Höhen und Tiefen. Wobei: Mehr Tiefen als Höhen.

Die Leiden der roten Göttin in der Formel 1

Hatte Ferrari im Vorjahr noch die Pace für Rennsiege und um Red Bull (vor allem in der ersten Saisonhälfte 2022) herauszufordern, zerstörten Fehler der Strategieabteilung (Ungarn), Fahrfehler (Frankreich) und eine falsche Entwicklungsrichtung des F1-75 mehr und mehr die Chancen auf einen ausgeglichenen Kampf. Und später, als Red Bull dominierte, auf einen Abstauber, falls der Primus einmal patzte.

Foto: Scuderia Ferrari
Foto: Scuderia Ferrari
Ferrari-Teamfeier mit Charles Leclerc und Sieger Carlos Sainz Jr.,
Mehr als ein Jahr nach dem letzten Triumph konnte Ferrari wieder feiern, Foto: LAT Images

Seitdem passierte einiges: 2023 musste Mattia Binotto für Fred Vasseur den Hof räumen. Der Alfa-Sauber-Teamchef sollte frischen Wind nach Maranello bringen und redete beim pompösen Launch schon vom WM-Titel. Problem 1: Eine alteingesessene Institution wie Ferrari lässt sich nicht so leicht umstrukturieren. Problem 2: Der SF-23 war rein performance-mäßig ein Schatten seines Vorgängers und konnte, wenn überhaupt, im Qualifying auf Ferraris Lieblingsstrecken wie Monaco, Baku oder Spa mithalten.

Auch der Sieg in Singapur kann die ausufernde To-do-Liste am SF-23 nicht verschleiern. Sonst musste sich das tänzelnde Pferd wie der Rest des Formel-1-Feldes vor dem fliegenden Bullen beugen und schleppte zudem die Probleme des Vorjahres noch immer mit sich. Die leicht angehauchte Red-Bull-Variante des B-Spec-Ferraris mit angepassten Seitenkästen seit Barcelona ist noch immer (zu) reifenfressend und inkonstant. Die Revolution kommt erst 2024.

Die Schlüsselfaktoren: Sainz, Strategie, Singapur

Revolution statt Evolution gab es innerhalb eines Jahres beim Personal: Schon seit Spa 2023 ist Ferrari ihren Sportdirektor Laurent Mekies los, der zu AlphaTauri abwandert. Ersatz am Kommandostand bietet Diego Ioverno, der sich seitdem um alle sportlichen Aspekte und die Zusammenarbeit mit der FIA an der Rennstrecke kümmert. Matteo Togninalli als streckenseitiger Chefingenieur bleibt, einer Revision unterzog sich aber die Strategieabteilung.

Inaki Rueda wurde zurück nach Maranello beordert und Neo-Strategie-Chef Ravin Jain übernahm seinen Posten. Die Konstellation grundsätzlich weniger fehleranfällig, aber manchmal (wie in Silverstone) zu konservativ und fiel vor allem durch öffentliche Kritik der Fahrer auf. "Sie (die Fahrer) haben kein umfassendes Bild vom Rennen", verteidigt Vasseur munter seine Crew.

Carlos Sainz macht dann oft seine eigene Strategie. Und - wie Singapur zeigt - erfolgreich: Der mit Absicht in seinem DRS-Fenster fahrende Lando Norris war ein wichtiger Schlüsselfaktor zum Sieg. "Ich wusste, wenn George und Lewis Lando überholen würden, wird es knapp für mich. Wenn der Abstand bei 1,3 bis 1,5 Sekunden war, habe ich etwas langsamer gemacht", erklärt Senior-Stratege Sainz.

Charles Leclercs tiefer Fall: Vom Wunderkind zur Nummer zwei?

Der Spanier wirkt seit der Sommerpause wie neugeboren und verweist das eigentliche Wunderkind Charles Leclerc in den letzten Rennen konstant in die Schranken. Von der ersten Runde im 1. Freien Training ist Carlos Sainz auf 100 Prozent, die perfekte Vorbereitung fürs Qualifying. Die zweite Pole in Folge (und fünfte insgesamt) wurde dann gleich zum zweiten Sieg umgewandelt. Leclercs Pole-zu-Sieg-Verhältnis mit 20 : 5 bedeutend schlechter.

Fehler! Regenschwäche! Wie gut ist Charles Leclerc wirklich? (12:35 Min.)

"Es sind nicht nur diese letzten beiden Wochenenden. Er hat wirklich einen guten Schritt gemacht, vor allem in der Vorbereitung auf das Wochenende", lobt Sainz' Boss Fred Vasseur. In der ersten Saisonhälfte war das Kräfteverhältnis meist noch ausgeglichen, jetzt muss sich Leclerc ein Beispiel an Sainz nehmen.

Aufgrund der Unberechenbarkeit des SF-23 kann der Monegasse nicht sein begehrtes Übersteuer-Setup fahren und muss Kompromisse eingehen. In Singapur rutschte Leclerc durch das Safety-Car und einen endlos langen Boxenstopp von P2 auf P5 zurück, verlor durch einen Fahrfehler den Platz an Lewis Hamilton und wurde undankbarer Vierter. Planmäßig: Charles Leclerc als Bauernopfer war schon vor dem Start Teil der Ferrari-Strategie.

Carlos Sainz: Das neue Max Verstappen?

Auto schlechter, Strategie in etwa gleich - was hat sich geändert und machte Ferrari wieder siegfähig? Erstens: Carlos Sainz' fahrerische Leistung. Er lieferte auf den 63 Runden in Singapur unter höchstem Druck ab, bremste das ganze Feld zu seinem Vorteil ein und nutze Norris als persönlichen Bodyguard.

Zweitens: Ferrari nutze ihre (vielleicht) einzige Chance auf einen Sieg in der Formel-1-Saison 2023 perfekt aus. Erinnerungen an die Mercedes-Dominanz in der Turbohybrid-Ära werden wach: Wann immer Mercedes patzte (und auf ausgewählten Red-Bull-Lieblingsstrecken), war Max Verstappen zur Stelle und schaffte trotz Wundermotor aus Brackley von 2016 bis 2020 zehn Siege.

Auf Strecken wie Mexiko oder Monaco gelangen Red Bull immer wieder Siege, Foto: LAT Images
Auf Strecken wie Mexiko oder Monaco gelangen Red Bull immer wieder Siege, Foto: LAT Images

Oder wie es der Sieger des Nachtrennens 2023 beschreiben würde: "Wir haben uns keinen einzigen Fehltritt geleistet. Wir sind ruhig geblieben, haben unseren Plan und unsere Strategie durchgezogen. Wir mussten mit dem Reifenverschleiß, dem DRS und Boxenstopps spielen, aber haben alles unter Kontrolle gehalten und den Sieg nach Hause gebracht."

Suzuka: Nächste Chance oder back to normal für Ferrari?

Problem dabei nur: Schon in Suzuka werden die Karten neu gemischt. Ferrari ist nun anscheinend im Stande, jegliche Chance perfekt ausnutzen. Der Red-Bull-Code ist allerdings nach wie vor nicht geknackt. Sobald Sainz das Tempo erhöhte, fraß der Ferrari wieder Reifen. Und: Mit seinen langsamen und mittelschnellen Kurven und Überhol-Schwierigkeit traf Singapur genau auf die Achillesferse von Red Bull.

Nicht so in Japan: Suzuka ist eine High-Downforce Strecke. Wie gemacht für den aerodynamisch sehr effizienten RB19, das auch auf Geraden mit seinem DRS-Vorteil pfeilschnell ist. Back to Business in Japan? Wer weiß, und sollte sich ein gewisser Max Verstappen und/oder Red Bull wieder einen Fehltritt leisten, ist die Scuderia vermutlich zur Stelle und nach dem Sieg erfolgshungriger denn je.