Der 17. September 2023 war ein historischer Tag in der Formel 1. Erstmals in dieser Saison konnte Red Bull geschlagen werden. Erstmal seit dem Österreich GP 2022 konnte Ferrari wieder ein Rennen gewinnen. Carlos Sainz hat in Singapur das geschafft, was niemand mehr für möglich gehalten hatte. "Dieser Sieg zeigt auch, welche Fortschritte Ferrari bei der Renn-Ausführung gemacht hat", sagte Sainz nach seinem Triumph.

Es war nicht nur der Sieg eines schnellen Rennautos. Im Renntrimm war die Rote Göttin dem Silberpfeil unterlegen. Es war ein taktischer Sieg von Ferrari und eine fahrerisch clevere Meisterleistung von Sainz. Motorsport-Magazin.com analysiert die vier Rennphasen, die Sainz und Ferrari meisterten.

Phase 1: Leclerc wird zum Russell-Puffer

Den ersten Coup landete Ferrari mit Charles Leclerc. Von Startplatz drei aus wurde er mit Soft-Reifen ins Rennen geschickt. Der Extra-Grip von Pirellis C5-Kleber verhalf dem Monegassen auf Platz zwei. So konnte er Russell auf dem Weg in die erste Kurve klassisch ausbeschleunigen. Für Ferrari war das zunächst die halbe Miete. Sainz konnte vorne an der Spitze das Tempo diktieren und hatte Leclerc als Puffer zu Russell.

Singapur ist ein spezieller Stadtkurs: Der Reifenabbau ist sehr hoch, gleichzeitig ist Überholen extrem schwierig. Deshalb wird die Pace häufig vom Führenden diktiert. Er schont die Reifen, ohne das Risiko einzugehen, überholt zu werden. Da konnte auch Leclerc die Pace auf seinen Soft-Reifen locker mitgehen.

In Runde 14 nutzte Ferrari dann den Leclerc-Puffer wirklich aus. Während Saison vorne an der Spitze die Pace anziehen sollte, sollte sich Leclerc fallen lassen. Binnen fünf Runden sollte Leclerc den Abstand auf fünf Sekunden anwachsen lassen. "Sie opfern Leclerc", analysierte Russell von hinten.

Das konnte man durchaus so sehen, Leclerc verlor dadurch die Chance auf den Sieg. Ferrari sicherte aber die Doppel-Führung damit ab. So konnte man Leclerc zum Reifenwechsel holen, ohne einen Undercut gegen Sainz machen zu müssen. Gleichzeitig verschaffte man Sainz vorne strategische Luft, um auf einen Mercedes-Undercut reagieren zu können. Und gut für Leclerc: Im Falle eines Safety Cars und einem Doppel-Stopp musste er nicht hinter Sainz anstehen.

Der Plan ging fast perfekt auf. Als in Runde 20 tatsächlich das Safety Car kam und fast alle zum Reifenwechsel kamen, verlor Leclerc dennoch zwei Plätze. Das aber war schlichtweg Pech. Ferrari konnte ihn nicht losfahren lassen, weil in der Fastlane Verkehr war.

Phase 2: Sainz kontrolliert klassisch

Nach dem Safety Car war das Rennen für Sainz bereits halb gewonnen. Er lag in Führung und hatte auch noch Max Verstappen auf abgefahrenen harten Reifen hinter sich als Puffer. Doch der Weltmeister konnte die Konkurrenz nur kurz aufhalten. Ein kleiner Zwischenspurt tat es aber für Sainz. Am Getriebe des Ferrari-Piloten war für Russell Endstation. Der Spanier kontrollierte die Pace und schonte die Reifen, ohne Russell eine Chance zu geben.

Der Mercedes-Pilot verzweifelte langsam, weil er genau wusste, dass Sainz absichtlich so langsam macht, um seine Reifen zu schonen. Gleichzeitig blieb das Feld eng zusammen. Das war ein entscheidender Punkt, um Mercedes nicht die Möglichkeit zu geben, einen Boxenstopp einzulegen, ohne zu viele Positionen zu verlieren.

Wie gelassen Sainz das Geschehen kontrollierte, zeigen die Rundenzeiten. In den letzten Runden vor dem Boxenstopp, als er etwas Vorsprung herausfahren sollte, fuhr er Zeiten um 1:39,0 Minuten herum. Auf den frischen harten Reifen fuhr er mit leichterem Auto im Schnitt fast eine Sekunde langsamer.

Phase 3: Mercedes geht All in

Wahrscheinlich wäre das Rennen so zu Ende gegangen, hätte nicht Esteban Ocon seinen Alpine mit einem technischen Defekt am Streckenrand abstellen müssen. Für die Bergung des Fahrzeugs rief die Rennleitung eine VSC-Phase aus. Die Boxengasse in Singapur ist verhältnismäßig lang. Gleichzeitig gilt aufgrund der engen Anlage ein Tempolimit von 60 Stundenkilometern. Unter normalen Bedingungen verliert man durch einen Boxenstopp rund 28 Sekunden. In einer VSC-Phase sind es etwa zehn Sekunden weniger.

Deshalb nutzte Mercedes die Gunst der Stunde und holte sowohl Russell auf Rang zwei als auch Lewis Hamilton auf Rang vier zum Reifenwechsel. Beide hatten noch einen frischen Satz Medium auf Lager. Genau auf solche Situationen hatte Mercedes spekuliert, als man den Extra-Satz Medium für das Rennen aufhob.

Ferrari hätte Leclerc auch zum Stopp holen können. Der Monegasse hatte nach seinem Start auf Soft ebenfalls noch einen Medium-Satz lagernd. Aber Ferrari ließ Leclerc draußen. Erneut konnte er als Puffer fungieren. Russell und Hamilton fielen durch ihre Reifenwechsel hinter den Ferrari mit der Startnummer 16 zurück.

18 Runden hatte Mercedes auf den frischen Medium Zeit, um 18 Sekunden auf Sainz aufzuholen. Gleichzeitig musste man aber noch den Weg an Leclerc und Norris vorbeifinden. Leclerc stellte keine allzu großen Probleme dar, weil der Monegasse mit einem heiß gelaufenen Motor und abbauenden Reifen kämpfte.

Die Pace der Mercedes-Piloten auf frischen Reifen in freier Fahrt war atemberaubend. Nach dem Stopp fuhr Russell in 1:36,2 Minuten um den Marina Bay Street Circuit. Hinter Sainz war er zuvor noch 3 Sekunden langsamer gefahren. Hamilton hinter Russell fuhr sogar noch schneller.

Aber Sainz wusste natürlich, wie ihm geschah. Als Russell in die Box abbog und das Rennen wenig später wieder freigegeben wurde, gab auch er Gas. Sofort konnte er 1,5 Sekunden schneller fahren. Allerdings zeigte sich dann, warum er zuvor so langsam gefahren war. Sobald er das Tempo anzog, gaben die Reifen nach. Sainz konnte noch immer schneller fahren als zuvor, hatte aber der Mercedes-Offensive im Fernduell nichts entgegenzusetzen.

Phase 4: Sainz vollendet Meisterwerkt mit DRS-Spielchen

Die 18 Sekunden wären kein Problem gewesen für Mercedes. Schon in Runde 57 von 62 fuhr Russell direkt im Heck von Norris. Auf Sainz fehlten ihm noch zwei Sekunden. Aber herankommen ist nicht vorbeikommen. Erst recht nicht auf einem Straßenkurs. Und erst recht nicht, wenn Sainz in die Suppe spuckt.

Denn Sainz fuhr nicht nur sein eigenes Rennen, er blickte auch nach hinten. Als Russell sich an Norris versuchte, machte Sainz absichtlich langsamer, um Norris im DRS-Fenster zu halten. So konnte sich der McLaren-Pilot besser gegen Russell verteidigen. Sainz wusste, dass ihm Norris nicht gefährlich werden würde, Russell aber mit den frischen Medium-Reifen sehr wohl.

In Runde 59 war es dann fast passiert. Eine halbe Fahrzeuglänge fehlte Russell, um an Norris vorbeizugehen. Der McLaren-Pilot kämpfte sich aber wieder zurück. Der Zweikampf kostete die beiden Briten Zeit, Norris fiel dadurch aus dem DRS-Fenster von Sainz. Der Ferrari-Pilot merkte das aber und machte umgehend langsamer, ließ sich absichtlich eine Sekunde zurückfallen.

Der Plan ging auf: Norris bekam wieder DRS und konnte sich gegen Russell verteidigen. Es war besonders wichtig, die ersten Versuche abzuwehren, weil zu Beginn das Reifen-Delta noch größer war. Nachdem die erste Attacke abgewehrt war, bekam Russell im DRS-Zug keine weitere Chance mehr.