"Gestatten, LMP1. Bis zu 1.000 PS stark und möglicherweise bald Königsklasse des Motorsports." Könnten die neuen Autos sprechen, würde es sich wohl etwa so anhören. Gut, sprechen können sie nicht, aber sie können verdammt viel. Sie sind die kompliziertesten Rennautos aller Zeiten und treffen nun erstmals kompetitiv aufeinander. Audi, Toyota und Porsche schicken jeweils zwei ihrer brandneuen Hybrid-Geschosse auf die Insel. In Silverstone wird eine neue Zeitrechnung im Motorsport beginnen. Technisch haben die LMP1-Boliden die Formel 1 bereits seit Jahren überrundet, doch die diesjährigen Fahrzeuge stellen von der Komplexität her alles in den Schatten, was jemals dagewesen ist.

Es wird Racing mit intellektuellem Anspruch sein. Die Spriteffizienz wird den Sieger bestimmen: Wer kommt in akzeptablem Tempo wie weit? Diese Frage wird das Racing in der neuen Saison bestimmen. Doch vor dem Saisonauftakt gibt es noch Ungereimtheiten: Wird der Fuel Flow Meter funktionieren? Ist die Einstufung korrekt? Erst vor wenigen Tagen wurde die endgültige Energiemenge festgeschrieben und Audi dabei leicht eingebremst. Dennoch: Der Kampf der Konzepte wird begeistern. Diesel versus Benzin, Saug- versus Turbomotor, Schwungradspeicher versus Superkondensatoren versus Batterien. 2-Megajoule-ERS versus 6-Megajoule-ERS.

Audi hat viel Erfahrung, doch auch für die Titelverteidiger ist alles neu, Foto: Adrenal Media
Audi hat viel Erfahrung, doch auch für die Titelverteidiger ist alles neu, Foto: Adrenal Media

Gut, ganz so viel wird es dann auch nicht sein, denn die zwei beziehungsweise sechs Megajoule gelten zunächst für Le Mans, weshalb Porsche und Toyota in Silverstone maximal 4,02 und Audi maximal 1,34 Megajoule zurückgewinnen dürfen. Diese Beschränkung der Hybrid-Leistung könnte nach Le Mans aufgehoben werden. Aber genug Komplexität, für den Fan zählt dasselbe wie die vergangenen Jahre: Es wird sechs Stunden Rennen gefahren und wer nach Ablauf der Zeit die zielflagge als Erster sieht hat gewonnen. Drei Werke werden sich eine nie gesehene High-Tech-Schlacht liefern, doch dem Fan wird dabei viel Rennaction geboten werden.

Wie viele Asse stecken noch im Ärmel?

Wer dabei am Ende die Nase vorn haben wird, ist schwer zu sagen: Beim Prolog auf dem Paul Ricard HTTT lagen alle drei Werke dicht beisammen, doch wirklich die Karten auf den Tisch gelegt hat keiner. Die Favoritenrolle hat trotz aller Einbremsungen aufgrund der enormen Erfahrung im Langstreckensport natürlich Audi inne. Lucas di Grassi, Loic Duval und Tom Kristensen steuern nach dem Abtritt von Allan McNish das Weltmeisterauto. Die Vorgänger von 2012, Marcel Fässler, Benoit Treluyer und Andre Lotterer, werden jedoch alles geben, um teamintern die Hackordnung wieder gerade zu rücken. Im Vorjahr waren sie oft die schnellere Paarung. Doch sind nur zwei Megajoule (1,34 für Silverstone) die richtige Lösung?

Für Porsche wird Großbritannien die große Bewährungsprobe. Trotz der enormen Vorbereitung wird es nun zum ersten Mal in den Wettbewerb für die neu zusammengestellte Truppe gehen - etwas, was kein Test simulieren kann. Romain Dumas, Neel Jani und Marc Lieb werden ebenso wie Timo Bernhard, Mark Webber und Brendon Hartley erstmals ein Rennen in dieser Konstellation bestreiten. Ob die mehr als ein Jahr andauernde Vorbereitung Früchte trägt, wird sich beim Auftakt zeigen. Anhänger der Traditionsmarke fiebern dem Moment der Wahrheit auf der ganzen Welt entgegen.

Der Toyota wurde erst im Januar fertig, war aber gleich bei der Musik, Foto: Adrenal Media
Der Toyota wurde erst im Januar fertig, war aber gleich bei der Musik, Foto: Adrenal Media

Der 1.000-PS-Toyota TS040 Hybrid lag beim wenig aussagekräftigen Prolog noch ein wenig hinter der Konkurrenz. Insider behaupten gar, dass der Kölner Bolide bei den Privattests das schnellste der neuen Fahrzeuge gewesen sei. Doch Schnelligkeit ist nur eine Seite der Medaille - die Reichweite ist mit dem neuen Reglement mindestens ebenso wichtig. Pessimisten sehen im Saugmotorkonzept diesbezüglich Nachteile, andere halten dagegen, dass der Turbo nur im Teillastbereich Vorteile bringt und Toyota mit dem schnell ansprechenden Sauger im Verkehr Vorteile haben könnte. Wurz/Nakajima/Sarrazin und Davidson/Lapierre/Buemi werden die Antwort auf der Strecke liefern.

LMP1-L noch nicht in Fahrt

Und dann wären da noch die Privaten, die mit Ultraleichtbau-LMPs ohne Hybrid die Werke herausfordern wollen. Doch in Silverstone wird Rebellion Racing erst einmal alleine dastehen, weil Lotus den T129 noch nicht auf das AER-Aggregat anpassen konnte. Dieses hatte man nach einem plötzlichen Motorenpartnerwechsel im Dezember eilig herbei geschafft. Und Rebellion wird mit dem alten Auto starten, da der R-One von Oreca noch nicht fertig ist. Die Subkategorie LMP1-L wird die Werksklasse LMP1-H in Silverstone speedtechnisch kaum herausfordern können, doch das bewährte, zuverlässige Material könnte sich für Rebellion als Joker erweisen.

Neue Situation in der LMP2

Porsche vor Audi: Gelingt Weissach die Riesenüberraschung?, Foto: Porsche
Porsche vor Audi: Gelingt Weissach die Riesenüberraschung?, Foto: Porsche

Auch die kleine Prototypenklasse wird wieder am Start sein, allerdings ist kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. Oak Racing ist nur noch über G-Drive vertreten, nachdem Roman Rusinov von Delta-ADR nach Frankreich gewechselt ist. Delta-ADR heißt nun Milennium Racing, wird aber beim Saisonauftakt ebenso abstinent sein wie Dome. SMP Racing wird dabei sein, doch die EU-Sanktionen gegen Russland könnten das weitere Engagement der Russen in Frage stellen. Zu guter Letzt startet KCMG in die erste volle WEC-Saison.

Es ist also angerichtet für einen furiosen Saisonstart im Zeichen des neuen Reglements. Selten wurde ein Saisonstart mit derartiger Spannung erwartet, selten war so viel neu. Für die WEC selbst steht viel auf dem Spiel: Es ist die Feuertaufe für das neue Reglement. Mit diesem will man weitere Hersteller locken. Es sind einige interessiert, doch natürlich wollen diese erst sehen, wie sich das neue Regelwerk bewährt. Mit weiteren Herstellern könnte die LMP1 tatsächlich bald Königsklasse des Motorsports werden. Mit 1.000 PS und zukunftsweisender Technik. Doch bis dahin gibt es viele Stolpersteine zu überwinden.