"Wenn es regnet, kann alles passieren - genau so kam es." Man muss kein zweifacher Formel 1-Weltmeister sein, um diese Weisheit zu durchschauen, doch Fernando Alonso traf damit in Silverstone den Nagel auf den Kopf. Während die Fahrer über den Asphalt aquaplanten oder gleich ein halbes dutzendfach von der Strecke kreiselten, rauchten am Kommandostand die Köpfe. "Es war ein sehr spannendes Rennen für uns an der Boxenmauer", meinten Willy Rampf und Mario Theissen unisono. Der Reifenpoker verlangte den Superhirnen alles ab - und kein Albert² dieser F1-Welt konnte ihnen helfen. In Sekundenschnelle mussten Entscheidungen gefällt, wieder revidiert oder gänzlich verworfen werden.

Eine Frage schwirrte permanent durch die Gedanken der Verantwortlichen: "Welche Reifen sollen wann benutzt werden?" Die Entscheidung wird zur Hälfte vom Fahrer und zur Hälfte vom Team getragen. "Das Team erkennt auf dem Monitor wie die Wetterlage aussieht, der Fahrer weiß wie die Streckenbeschaffenheit ist", erklärt Christian Klien. Einfacher macht das die Wahl nicht: "Man hat zeitweise Unterschiede in den Rundenzeiten von bis zu zehn Sekunden zwischen den Fahrern gesehen - je nach Reifentyp", rechnet Theissen vor. "Es war also auch ein bisschen Glück dabei."

Die richtige Wahl

BMW Sauber hatte das Glück auf seiner Seite. "Wir hatten beim ersten Stopp überlegt, den gebrauchten Satz Intermediates draufzulassen", enthüllt Nick Heidfeld. Diese Idee verwarf das Team jedoch schnell wieder, da eine neue Wettervorhersage erneuten Regen vorhersagte. "Die Versuchung war groß, die gebrauchten Reifen drauf zu lassen, da diese auf abtrocknender Strecke schneller gewesen wären", verrät Rampf. Die Standhaftigkeit zahlte sich aus: der Wechsel von gebrauchten auf frische Intermediates bescherte Heidfeld den zweiten Platz. "Es war die absolut richtige Entscheidung", lobt Klien.

McLaren hatte einen guten Draht zum richtigen Reifen., Foto: Sutton
McLaren hatte einen guten Draht zum richtigen Reifen., Foto: Sutton

Auch McLaren lagen die gleichen Informationen vor, weshalb Lewis Hamilton neue Reifen aufgezogen bekam. "Das hat Ferrari nicht und das werden sie jetzt bedauern", feixte Martin Whitmarsh nach dem Rennen. Die zweite Reifenentscheidung des Rennens trafen die drei Top-Teams McLaren, BMW Sauber und Ferrari übereinstimmend: alle setzten sie im Schlussstint auf Intermediates statt Extremwetterreifen. "Wir wussten, dass wir 5-10 Minuten starken Regens durchstehen müssten", verrät Whitmarsh. "Es war riskant, auf Intermediates zu bleiben, weil du als Fahrer leicht abfliegen konntest", betont Klien. "Aber auch diese Entscheidung entpuppte sich als richtig."

Denn Hamilton und Heidfeld kamen auf den Plätzen 1 und 2 ins Ziel. Hinter ihnen überquerte jedoch ein Pilot die Ziellinie, der zur Rennmitte auf Extremwetterreifen setzte. "Wir gingen nicht davon aus, dass sie so lange durchhalten würden", zeigte sich Whitmarsh überrascht, "aber das taten sie und sie waren die bessere Wahl." Sowohl McLaren als auch BMW Sauber hatten befürchtet, dass die extremen Regenreifen auf abtrocknender Strecke zu stark abbauen würden. "Denn wenn die Strecke abgetrocknet wäre, hätten wir die Reifen in den Highspeedkurven schnell zerstört", betont Whitmarsh. Im Hinterfeld, wo Honda angesiedelt war, hätte man so ein Risiko eingehen können, aber an der Spitze mussten die Teams konservativ denken.

Die falsche Wahl

Nicht alle Teams bekamen es so gut hin wie McLaren und BMW Sauber. "Ich hatte überall Aquaplaning und verlor 15 Sekunden pro Runde", klagte Jarno Trulli, der sich etwas mehr Risiko bei der Reifenwahl gewünscht hätte. "Wir hätten es riskieren sollen, auf die Extreme Wets zu setzen, aber als es daran ging, die Entscheidung zu treffen, wussten wir, dass es nicht mehr regnen würde." So konnte er aus seinem zwischenzeitlichen 3. Platz kein Kapital schlagen.

Auch sein Teamkollege Timo Glock klagte über die Reifenwahl. "Als der Regen kam, war es für mich unmöglich, das Auto auf der Strecke zu halten", so Glock. "Deshalb ärgere ich mich etwas, dass ich am Anfang nicht auf mein Bauchgefühl gehört und beim ersten Regenguss auf Heavy Wets gewechselt habe." Manchmal fällt eben der Bauch die besseren Entscheidungen als die Gehirnakrobaten und Supercomputer in der Box.

"Es gab Momente, in denen man die richtigen Reifen hatte, und andere Momente, in denen man die falschen Reifen hatte", fasste Fernando Alonso das Entscheidungschaos zusammen. Manche Entscheidungen holten die Fahrer auch erst später ein und sorgten so für eine unerwartete Wendung. So konnte Alonso in den Schlussrunden seinen Verfolgern Kovalainen und Räikkönen nichts entgegensetzen. Er hatte früh gestoppt, um seine falsche Reifenwahl zu revidieren und dabei so viel Sprit mitgenommen, um bis zum Ende durchzufahren. "Dadurch waren meine Reifen zum Schluss komplett kaputt." Die beiden Finnen gingen vorbei.

Die völlig falsche Wahl

Hier verliert Kimi Räikkönen einen möglichen Sieg., Foto: Bridgestone
Hier verliert Kimi Räikkönen einen möglichen Sieg., Foto: Bridgestone

Komplett daneben lag Ferrari mit seinen Entscheidungen beim ersten Boxenstopp. Die Roten wechselten bei keinem ihrer Autos die abgefahrenen Intermediates und fielen daraufhin bei einsetzendem Regen von Runde zu Runde immer weiter zurück - sofern dies bei Massa angesichts eines dutzend Drehers überhaupt noch möglich war. "Ferrari war die Pleite des Tages", schimpfte Niki Lauda. "Sie hätten die Reifen wechseln müssen, das wäre ganz einfach gewesen. Es war ein absoluter Teamfehler, aber Alonsos Team war genauso deppert."

Die Verteidigung der Roten war schwach, aber ehrlich: "Wir hatten ehrlich gesagt keinen Regen erwartet", sagte Kimi Räikkönen. Also habe man die alten Reifen draufgelassen, da dies ohne weiteren Regen die bessere Wahl gewesen wäre. "Dieser Fehler hat uns das Rennen gekostet." Schuldzuweisungen machte Räikkönen nicht. "Wir treffen die Entscheidungen gemeinsam und oft stimmen sie auch. Heute war das leider nicht der Fall."

Teamchef Stefano Domenicali musste sich trotzdem harsche Kritik gefallen lassen. Neben der fehlenden Regenvorhersage des italienischen Wetterfrosches führte er die guten Rundenzeiten anderer Fahrer auf gebrauchten Reifen als Begründung an. "Aber rückblickend war das natürlich die falsche Entscheidung." Jetzt müsse man darüber nachdenken, wie man solche Fehler in Zukunft vermeiden könne. "Wir hätten das Rennen gewinnen können, wenn wir nicht den Fehler bei Kimi gemacht hätten. Aber die Formel 1 ist keine exakte Wissenschaft, manchmal gehen strategische Entscheidungen auf und manchmal eben nicht." Aus sportliche Sicht müsse man das Wochenende schnell vergessen, aus strategischer Sicht müsse sich aber immer an dieses Wochenende und dessen Lehren erinnern.

Die 6 Fragezeichen

Warum war Hamiltons Sieg in Gefahr?
Der Vorsprung auf die Konkurrenz war groß, doch ganz ohne Probleme kam Lewis Hamilton nicht durch seinen Heim GP. "Ich hatte Probleme mit der Sicht und versuchte mehrmals, mein Visier zu reinigen", verriet Hamilton. Martin Whitmarsh wurde deutlicher: "Lewis konnte zeitweise nichts sehen, weil die Innenseite seines Visiers beschlagen war", erklärte der McLaren-CEO. Am Kommandostand habe man deshalb ernsthaft darüber diskutiert, den Briten an die Box zu holen. "Er sagte uns, er könne die Pfützen nicht mehr sehen, was sehr gefährlich war." Beim Boxenstopp wurde deshalb sein Visier von den Mechanikern geöffnet und gesäubert.

Warum fuhr Hamilton dem Team zu langsam?
Nach 60 Runden hatte Lewis Hamilton 68,5 Sekunden Vorsprung auf den Zweiten, ab Rang 4 hatte er jeden im Feld verbliebenen Piloten überrundet. "In der letzten Runde sah ich wie die Zuschauer aufstanden und betete, dass ich ins Ziel komme", sagte er. Aus Sicht des Teams nahm Hamilton auf den letzten Runden sogar zu viel Tempo raus. "Wenn man einen Fahrer einbremst, verliert er manchmal die Konzentration", so Whitmarsh. "Deswegen wären wir ruhiger gewesen, wenn er zwei, drei Sekunden schneller gefahren wäre."

Kovalainen hatte keine Chance gegen Hamilton., Foto: Sutton
Kovalainen hatte keine Chance gegen Hamilton., Foto: Sutton

Warum konnte Kovalainen nicht mithalten?
Er fuhr überlegen auf die Pole Position und war damit der Favorit auf den Sieg in Silverstone. Im Rennen spielte Heikki Kovalainen plötzlich keine Rolle bei der Vergabe des ersten Platzes. "Ich hatte das ganze Rennen Probleme mit den Hinterreifen", enthüllte er. "Sie gingen sofort weg und ich habe sie stark kaputt gefahren. Die Kontrolle wurde schwer, ich musste langsamer werden und konnte nicht mithalten." Danach gefragt, ob das an seinem Fahrstil oder am Setup lag, meinte er, es sei wohl etwas von beidem. "Bei wenig Grip habe ich wohl etwas mehr Last auf den Reifen. Deswegen haben sich meine Reifen stärker abgenutzt als bei Lewis."

Was war so toll an Heidfelds Manövern?
Nick Heidfeld machte es in Silverstone nur im Doppelpack: zunächst überholte er Glock und Alonso auf einen Schlag, dann quetschte er sich in der letzten Kurve erst an Räikkönen und danach an Kovalainen vorbei. "Das war wirklich geil", freute sich Heidfeld, der schon in Malaysia zwei Piloten auf einmal aufschnupfte. "Aber das war noch außergewöhnlicher. Natürlich war es ein bisschen mit ungleichen Mitteln, weil ich zu diesem Zeitpunkt die besseren Reifen hatte, aber trotzdem: einen McLaren und einen Ferrari auf einmal zu schnappen, passiert nicht alle Tage." Mario Theissen machte sich im Kommandostand keine Sorgen. "Ich hab das Gefühl, dass Nick in solchen Situationen eine besondere Übersicht und ein besonderes Talent hat, das Richtige zu tun", sagte er. "Das hat er in den letzten Jahren bewiesen."

Warum hätte Barrichello noch besser abschneiden können?
Platz 3 ist das beste Ergebnis des Brasilianers seit er für Honda fährt. Doch es wäre noch mehr möglich gewesen. "Ohne ein Problem mit der Tankanlage hätten wir sogar noch eine Position besser abschneiden können", spielte Teamchef Ross Brawn auf einen möglichen zweiten Platz an.

Wieso entschuldigte sich Coulthard bei Vettel?
Es war der letzte Heim GP in der Karriere des David Coulthard. In guter Erinnerung wird er ihn nicht behalten. "Ich war nach Abbey nahe an Sebastian [Vettel] dran, als er einen Wackler aus der Kurve heraus hatte", erklärte der Schotte, der glaubte, eine Lücke zu sehen und hinein stach. "Leider war das eine schlechte Entscheidung", gestand er und entschuldigte sich artig bei Vettel. "Er wollte an der Stelle vorbei, hat bemerkt, dass keine Lücke da war, doch da war es schon zu spät und er hat mich hinten links getroffen", bestätigte Vettel. "Wir haben uns beide gedreht, es ging ab ins Kiesbett und das war zu tief. Es gab keinen Ausweg mehr."