An diesem Wochenende kehrt die DTM an den Ort zurück, der im vergangenen Jahr Diskussionen auslöste, wie sie die Traditionsserie seit vielen Jahren nicht mehr erlebt hatte. Norisring, 2021 erstmals Austragungsstätte des Saisonfinales. Was sich am 09. und vor allem am 10. Oktober auf dem berühmten Nürnberger Stadtkurs abspielte, geht in die Geschichtsbücher der 1984 gegründeten DTM ein.

Im abschließenden Sonntagsrennen entlang des Dutzendteichs kam so ziemlich alles zusammen: Der haushohe Titelfavorit Liam Lawson von DTM-Neueinsteiger AF-Corse-Ferrari musste 'nur' in die Top-6 fahren, um sich aus eigener Kraft zum Champion zu krönen. Seine verbliebenen Titelrivalen Kelvin van der Linde (19 Punkte Rückstand) und der spätere Meister Maximilian Götz (22 Punkte Rückstand) mussten unterdessen zwingend das Rennen gewinnen, um überhaupt eine Titelchance zu haben.

Eine Schande für den Sport

Lawsons Ausgangslage war nicht nur nach Punkten, sondern auch nach Positionen fast optimal, um den Titel einzufahren. Der 19-jährige GT3-Neuling startete bei seinem ersten Einsatz auf dem Norisring in beiden Rennen von der Pole Position. Der Ausgang ist bekannt, AF-Corse-Teammanager Ron Reichert beschrieb das Geschehen anschließend als eine "Schande für den Sport". Red-Bull-Berater Dr. Helmut Marko legte später nach und bezeichnete van der Lindes Turn-1-Attacke auf seinen Schützling Lawson als "hirnlos" und "äußerst unsportliches Verhalten".

Abt-Audi-Pilot van der Linde entschuldigte sich im Nachgang bei Kontrahent Lawson ("Ich habe mich für die Aktionen entschuldigt, die ihn die Meisterschaft gekostet haben"). Währenddessen musste der Südafrikaner in den sozialen Medien teilweise wüste Beleidigungen weit unter der Gürtellinie über sich ergehen lassen, erhielt sogar Morddrohungen.

"Die Welt sah für einen Moment ganz schwarz aus"

Van der Lindes Berater, Dennis Rostek, erinnerte sich später im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com an die harte Phase: "Nach diesem Wochenende sah die Welt bei uns für einen Moment ganz schwarz aus. Kelvin hat erst mal zwei Tage lang nicht ins Internet geschaut, aber die Nachrichten häuften sich an, auch bei mir persönlich. Ich fand es erschreckend, wer sich zu dieser Situation alles zu Wort meldete."

Als hätte der Van der Linde/Lawson-Clash nicht schon längst gereicht, goss die Titelentscheidung noch mehr Öl ins Feuer. Dass Titelaußenseiter Götz (damals HRT-Mercedes) im letzten Rennen tatkräftige Unterstützung seiner Mercedes-AMG-Markenkollegen Lucas Auer und Philip Ellis - beide ausgerechnet vom gegnerischen Mercedes-Team Winward - erhielt, löste einen weiteren Tumult unter den Fans aus. An diesem Sonntag kam einfach alles zusammen...

Bis heute wird im DTM-Fahrerlager eifrig diskutiert, ob Lawson mit einer anderen Herangehensweise den Titel nicht locker nach Hause hätte fahren können. Dass es - wie schon im Samstagsrennen - auf eine heikle Situation in der ersten Kurve nach dem Start hinauslaufen würde, konnte für alle Beteiligten zumindest keine Überraschung gewesen sein.

Van der Linde hatte es wenige Stunden zuvor sogar angekündigt: "Wenn ich ihn (Lawson; d. Red.) nach Turn 1 auf Platz 1 fahren lasse, dann fährt er vorne weg, weil er klar schneller ist. Ich muss etwas in Turn 1 machen und schauen, wie ich es schlauer machen kann als gestern." Im Samstagsrennen hatte es der Audi-Pilot bereits mit der Brechstange probiert, doch Pole-Setter Lawson reagierte schnell und geschickt, öffnete die Lenkung am Kurveneingang und ließ den Audi links ins Leere laufen.

Damals am Boden zerstört: Liam Lawson, Foto: LAT Images
Damals am Boden zerstört: Liam Lawson, Foto: LAT Images

Angestauter Frust

"Lawson hätte es einfach machen müssen", war etwa Götz' damaliger HRT-Teamboss Hubert Haupt im Nachgang überzeugt. "Er hätte sich nur aus allem raushalten müssen. Und van der Linde hat vielleicht ein bisschen die Nerven verloren, da war er vielleicht etwas ungestüm."

Zu viel Frust hatte sich während der Saison bei van der Linde und seinem Team Abt Sportsline angestaut: Kollisionen mit Lawson in vorangegangenen Rennen, ein baubedingter Nachteil gegenüber Ferrari und auch Mercedes bei den Boxenstopps, dazu der über die gesamte Saison hinweg auffällig starke Ferrari von AF Corse. "Mit der Balance of Performance, dem Boxenstopp-Thema und einigen Schiedsrichter-Entscheidungen waren wir nicht immer auf der glücklichen Seite. Das alles hat dazu geführt, dass wir ein sehr hohes Risiko eingehen mussten - an der Box genauso wie auf der Strecke", argumentierte damals Abt-Teamchef Thomas Biermaier.

Norisring-Crash mit Konsequenzen

Der Vorfall weitete sich zu einem echten Politikum aus. DTM-Boss Gerhard Berger musste fürchten, dass Red Bull als Großsponsor von AF Corse entnervt nach nur einer Saison wieder den Stecker zieht. Dabei betrachtete der Österreicher und Vertraute von Didi Mateschitz die Kollaboration zwischen Red Bull und Ferrari als einen Meilenstein bei der Rettung der DTM nach den Hersteller-Ausstiegen.

Hatte Berger die Vorfälle am Sonntagnachmittag in Nürnberg noch als "nicht schön, aber verständlich und Realität" bezeichnet, legte er mit einigen Tagen Abstand in der Bild-Zeitung wortgewaltig nach und fällte ein vernichtendes Urteil: "Was ich klar sagen muss: Beide Themen, die Mercedes-Stallorder und das Manöver von van der Linde, haben nicht nur Diskussionen ausgelöst, sondern der DTM einen Schaden zugefügt."

Ein Bekenntnis von Red Bull bzw. AF-Corse-Ferrari zur DTM 2022 sollte gar bis zum 23. März - 164 Tage nach dem skandalträchtigen Norisring-Finale - auf sich warten lassen. Da hatte Meister Götz das Team HRT schon längst verlassen und war aus kommerziellen Gründen zu den Mercedes-Markenkollegen von Winward gewechselt - ausgerechnet mit Auer als neuem Teamkollegen, der am Norisring auf Ansage von Mercedes-AMG seinen sicheren Sieg hatte herschenken müssen.

Van der Linde gegen Lawson: Es rummste am Norisring, Foto: LAT Images
Van der Linde gegen Lawson: Es rummste am Norisring, Foto: LAT Images

"Die haben sich gegenseitig zerfleischt"

Spuren hinterließ die Anweisung - 2021 war Stallregie noch nicht verboten und das diskutable Vorgehen vehement von Mercedes verteidigt worden - nicht zwischen den zwei AMG-Fahrern. Und dass die beiden sich schon am frühen Montagmorgen nach der feucht-fröhlichen DTM-Abschlussparty in Nürnberg ein Taxi geteilt hatten, bekam damals in der Öffentlichkeit kaum jemand mit...

Einige DTM-Fans gönnten Götz angesichts der Norisring-Vorgänge den Titelgewinn nicht, doch der langjährige Rennfahrer zuckte nur mit den Schultern und feierte den prestigeträchtigen Erfolg. "Die anderen haben sich gegenseitig zerfleischt", verwies er auf van der Linde und Lawson. "Wir haben nur genommen, was auf dem Silbertablett präsentiert wurde. Natürlich wird viel gesprochen, aber wir waren nicht der ausschlaggebende Punkt, warum es gekommen ist, wie es gekommen ist."

Maximilian Götz gewann überraschend die DTM-Meisterschaft 2021, Foto: Mercedes-Benz AG
Maximilian Götz gewann überraschend die DTM-Meisterschaft 2021, Foto: Mercedes-Benz AG

Teamorder-Verbot: Vorlage für Proteste?

Während die Angelegenheit für Götz schnell abgehakt war, mussten sich Berger und Co. mächtig ins Zeug legen, um Red Bull zu besänftigen und vom Verbleib in der DTM zu überzeugen. Zu jedem Zeitpunkt war klar: Ohne den Getränkehersteller würde auch AF-Corse-Ferrari keine Zukunft in der Serie haben.

Wenige Tage nach der Bekanntgabe des Teams folgte dann, was Berger schon in seinem Bild-Interview angekündigt hatte: die Rückkehr des Teamorder-Verbots ins Sportliche Reglement 2022. Geldstrafen wie noch 2020 (250.000 Euro) sind jetzt nicht mehr vorgesehen. Im schlimmsten Fall droht nun ein Ausschluss aus der Meisterschaft. "Geldstrafen sind möglich, aber ein Ausschluss ist schmerzhafter als eine Geldstrafe", sagte DTM-Manager Frederic Elsner.

An den bisherigen drei Rennwochenenden spielte das rigorose Teamorder-Verbot wenig überraschend noch keine Rolle. Das war in früheren Zeiten schon mal anders, als die Hersteller sich nach wenigen Rennen auf ihre Favoriten festlegten. Insider blicken aber schon mit Sorge auf die heiße Phase der Saison, wenn es um den Titel geht.

Im Motorsport einzigartige Regel-Formulierungen - "Bewerber und/oder Fahrer müssen mit 100 Prozent ihrer Fähigkeiten fahren, mit dem Ziel, ihre bestmögliche Position in der Veranstaltung zu erreichen" - sollen Tür und Tor öffnen für Proteste, befürchten nicht wenige Beobachter. DTM-Boss Berger vertraut unterdessen auf das "Fingerspitzengefühl" der Sportkommissare und des neuen Rennleiters Scot Elkins. Ob das diesjährige DTM-Finale am 08. und 09. Oktober, diesmal wieder auf dem Hockenheimring, ruhiger über die Bühne geht?