In unserer Moto2-Saisonvorschau hatten wir es bereits vermutet, aber das Ausmaß der ersten Rennen 2024 überrascht dann doch. Den jahrelangen Moto2-Dominatoren von Kalex droht nicht nur der Verlust ihrer Vormachtstellung, aktuell scheinen sie bereits abgelöst zu sein. Der italienische Herausforderer Boscoscuro hat nur vier Bikes am Start, aber vier der fünf bisherigen Rennen gewonnen. In Le Mans fügten sie Kalex nun die Höchststrafe zu.

Kalex: 204 Rennen auf dem Moto2-Podium enden in Le Mans

Im Frankreich GP der Moto2 siegte Sergio Garcia vor Ai Ogura und Alonso Lopez. Alle drei fahren das Boscoscuro-Chassis. Erstmals seit Valencia 2012 (!) schaffte es damit keine einzige Kalex-Maschine auf das Podest. Die aktuelle Kalex-Speerspitze Joe Roberts musste sich im Duell mit Lopez auf der Zielgeraden geschlagen geben. Damit ging eine Serie von 204 Moto2-Rennen in Folge zu Ende, in denen immer mindestens eine Kalex-Maschine auf dem Podest stand. Meistens waren es aber sogar deren drei.

Das Moto2-Podium in Le Mans
Ogura, Garcia und Lopez: Keiner von ihnen fährt Kalex, Foto: LAT Images

Besonders beunruhigend muss diese Niederlage für Kalex sein, da mit Fermin Aldeguer die eigentliche Nummer Eins bei Boscoscuro kein gutes Wochenende erwischte und 'nur' siebter wurde. Damit waren aber in den Top 7 mehr Boscoscuros als Kalex. Oder um genauer zu sein: Alle Boscoscuros. Mit dem hauseigenen Team von Speed Up und der neuen Kundenmannschaft von MT-Helmets-MSI stellt Luca Boscoscuros Firma aus Lugo di Vincenza in Venetien nur vier Maschinen. Zum Vergleich: Von Kalex stehen 24 (!) Bikes am Start.

Und dennoch sieht es übel aus für Kalex. Einzig Aron Canet konnte die Boscoscuros bei seinem Debütsieg in Portugal bisher schlagen. In der Herstellerwertung führen die Italiener mit 113 Punkten. Das deutsche Unternehmen aus Bobingen hat 98 Zähler auf dem Konto. Die vier Boscoscuros liegen allesamt unter den Top 5 der Fahrerwertung. Einzig Joe Roberts durchbricht als Zweiter ihre Phalanx.

Aron Canet feiert den Sieg in Portugal
Aron Canet feierte in Portimao den bisher einzigen Kalex-Sieg der Saison, Foto: LAT Images

Zweites Team und starke Fahrer: Boscoscuro hat aufgerüstet

Doch woran liegt das? Sicherlich hat Boscoscuro technisch aufgeholt, sie gewannen ja bereits in den beiden Vorjahren mit Lopez und Aldeguer insgesamt 7 Rennen. 2024 scheint aber der große Schritt erfolgt zu sein. Die Erweiterung auf ein zweites Team hat in Sachen Setup-Arbeit und beim Verständnis der neuen Pirelli-Reifen geholfen. MT-Helmets-MSI ist der Nachfolger des jahrelangen Spitzenteams von Motorrad-Legende Sito Pons. Luca Boscoscuro hat sich also ein Kundenteam mit enormer Erfahrung und Qualität gesichert.

Fermin Aldeguer feiert den Sieg im Spanien GP
Ab 2025 MotoGP-Pilot: Fermin Aldeguer, Foto: LAT Images

Der zweite Schlüssel ist mit Sicherheit im starken Fahrer-Aufgebot zu suchen. Fermin Aldeguer gilt spätestens nach seinen vier Siegen in Serie zum Ende der Saison 2023 als Supertalent. Nicht umsonst hat sich Ducati bereits seine Dienste für die MotoGP ab 2025 gesichert. Neben ihm fährt mit Alonso Lopez ein starker Mann, der bereits 2022 wie eine Bombe in die Moto2 einschlug. Ai Ogura war im selben Jahr Vizemeister der höchsten Nachwuchsklasse und knüpft nun auf neuem Bike wieder an diese Leistungen an. Und mit Sergio Garcia ist da auch noch der aktuelle WM-Führende. Der junge Spanier zeigte schon 2023 sein Potential als Rookie des Jahres und hat nun den nächsten Schritt in seiner Entwicklung gemacht.

Topleute auf Kalex straucheln: Joe Roberts als einziger Lichtblick

Auf Seiten von Kalex hingegen ist eine (momentane) Schwächung in Sachen Fahrerqualität eingetreten. Weltmeister Pedro Acosta stieg in die MotoGP auf. Vizemeister Tony Arbolino ist völlig außer Form. Jake Dixon, 2023 noch WM-Vierter, verletzte sich gleich in Katar und ist nach drei gefahrenen Rennen punktelos. Bei Aron Canet erfolgte ein Knochenbruch vor dem Start beim Heimspiel in Jerez. Ebenso fällt mit Celestino Vietti derzeit ein weiterer potenzieller Spitzenmann mit Verletzung aus. So bleiben bei Kalex aktuell nur Joe Roberts und gelegentlich Manuel Gonzalez als Herausforderer der Boscoscuro-Jungs übrig.

Joe Roberts in Le Mans
Nur Joe Roberts kann aktuell die Boscoscuros dauerhaft herausfordern, Foto: LAT Images

Wenn sich die Spitzenleute bei Kalex nicht bald berappeln bzw. genesen oder andere Fahrer sich überraschend steigern, dann könnte 2024 der ganz große Verlust für die Firma von Alex Baumgärtel & Co. bevorstehen. Im Rennen um den Fahrertitel scheint ohnehin nurmehr Roberts bei der Musik zu sein. Aron Canet wird wohl noch länger mit seinem Knochenbruch aus Jerez zu kämpfen haben. Auch in der Konstrukteurswertung sieht es nicht viel besser aus. Seit 2013 hat Kalex alle Titel eingefahren. Die Chancen, dass auch diese Serie reißen wird, sind aktuell mehr als nur vorhanden.