Der Artikel wurde in der 81. Ausgabe des Printmagazins von Motorsport-Magazin.com am 28. Oktober 2021 veröffentlicht.
Wir schreiben das Jahr 2002: Am Sachsenring gibt ein 15-jähriger Schweizer namens Tom Lüthi sein Debüt in der Weltmeisterschaft. 19 Jahre später erklärt er nach einem WM-Titel, 17 Grand-Prix-Siegen, 65 Podestplätzen und über 300 Rennen seinen Rücktritt vom aktiven Rennsport. Die Weltmeisterschaft verliert damit einen Marathonmann, der jahrelang zur Creme de la Creme der mittleren Kategorie gehörte und gegen Fahrer wie Johann Zarco oder Franco Morbidelli im Titelkampf einige Male nur knapp unterlag. Im Interview mit Motorsport-Magazin.com erinnert sich Lüthi an seine lange Karriere zurück.
MSM: Tom, wann hast du konkret die Entscheidung zum Rücktritt getroffen? Kannst du uns deine Beweggründe etwas näher erläutern?
TOM LÜTHI: Das ist natürlich keine Entscheidung, die man spontan über Nacht trifft. Es gab daher nicht diesen einen Moment, in dem ich mich dazu durchgerungen habe. Es war einfach Zeit aufzuhören. Dieser Grundgedanke hat mich schon länger begleitet, für mich selbst musste ich aber alles auf den Tisch packen und mir genau anschauen, welches Paket ich noch zusammenschnüren kann und wie die Erfolgschancen damit aussehen. Ich habe dabei gespürt, dass der Tag gekommen ist, die aktive Laufbahn zu beenden. Gleichzeitig hat sich eine neue Chance bei Prüstel GP aufgetan, die für mich eine neue berufliche Möglichkeit ergab, im Paddock weiterarbeiten zu können. Auch diese Überlegung hat natürlich eine Rolle bei meiner Entscheidung gespielt.
Auf deine neuen Aufgaben im Prüstel-Team kommen wir später noch zu sprechen. Gab es mit irgendeinem Team konkrete Gespräche über ein Engagement als Fahrer für 2022?
Es gab schon Gespräche, aber keine tiefgründigen. Schlussendlich muss man ganz klar sagen: Meine Resultate waren zuletzt nicht gut genug und ich war viel zu weit weg. Das braucht man gar nicht schönreden. Diese Ergebnisse sind für meine eigenen Ansprüche nicht gut genug, aber auch nicht gut genug, um ein konkurrenzfähiges Paket zu schnüren. Ich bin kein Fahrer, der einfach nur dabei sein will. Wenn ich fahre, dann will ich erfolgreich sein.
Du hast nur noch drei Rennen vor dir und wirst deine Karriere dann mit 317 Grand-Prix-Starts in der Motorad-WM beenden. In der Geschichte der Weltmeisterschaft haben nur Andrea Dovizioso, Loris Capirossi und Valentino Rossi noch mehr Einsätze bestritten als du. Aktive Rennfahrer wischen solche Zahlen gerne als journalistische Spielereien weg. Da du jetzt bald kein aktiver Fahrer mehr bist, ändert sich auch deine Sicht auf diese beeindruckende Zahl?
Ja, meine Sicht auf solche Dinge ändert sich nun schon ein wenig. Ich bin stolz auf diese Zahl und darauf, dass ich so viele Starts geschafft habe. Dass ich so lange auf Weltmeisterschafts-Niveau fahren konnte, ist schon etwas ganz Besonderes.
Blicken wir doch zurück auf die vergangenen zwei Jahrzehnte: Wie sehr hat sich in deiner Karriere die Professionalität der MotoGP-Weltmeisterschaft verändert?
Rennsport entwickelt sich extrem schnell. Die Technik hat sich zum Beispiel brutal verändert, wenn ich da etwa an die Reifen denke. Wenn man sich Bilder von vor zehn Jahren anschaut und die Schräglagen mit jenen von heute vergleicht, ist da ein klarer Unterschied für jeden ersichtlich. Als Fahrer musst du über so einen langen Zeitraum immer dranbleiben.
Wie sehr hat dich als Mensch diese Zeit in der Motorrad-WM geprägt?
Ich bin in diesem Sport gewachsen und habe extrem viel gelernt, nicht nur sportlich, sondern auch an Lebenserfahrung gewonnen. Wenn ich mich zum Beispiel zurückerinnere, als ich 2005 den WM-Titel gewonnen habe: Damals hatte ich keine Ahnung von irgendetwas. Ich wollte einfach nur ein bisschen Motorrad fahren und 2005 ging das dann so gut, dass ich von den Medien in der Schweiz regelrecht überrannt wurde. Das war krass, was damals bei uns abging. Damals habe ich allmählich begriffen, worum es in diesem Sport überhaupt geht und was da alles dranhängt. Wenn dich so eine Welle überrollt, musst du damit erstmal klarkommen und verstehen, wie du damit umzugehen hast. Gottseidank bin ich aber immer der Tom geblieben, der ich davor auch war. Mir war Bodenständigkeit immer wichtig und dass ich beide Füße auf dem Boden behalte. Es gab in meiner Karriere natürlich auch Rückschläge. Während dieser schweren Zeiten habe ich gelernt: Wer abhebt, kann auch tiefer fallen. Deshalb habe ich immer versucht, auch in Zeiten des Erfolges gleich hart weiterzuarbeiten.
2005 hast du in der Wahl zum "Sportler des Jahres" in der Schweiz Roger Federer geschlagen, einen der größten Sport-Starts der Welt. Wie ordnest du diesen Erfolg heute ein?
Das war eine riesige Anerkennung vom Schweizer Volk und ich wurde von dieser Wahl komplett überrascht. Diese Auszeichnung macht mich mächtig stolz. Vor allem auch, dass ich Roger Federer ausstechen konnte. Denn wenn man sich die sportlichen Erfolge ansieht, liegt Roger natürlich sehr weit vor mir.
Sportliche Erfolge hattest du in der Motorrad-WM im Jahr 2005, vor allem aber später in der Moto2. Warum hat es ausgerechnet in dieser Klasse so gut funktioniert für dich?
Diese Klasse kam genau zum richtigen Zeitpunkt für mich. Ich war damals schon drei Jahre in der 250cc-Klasse unterwegs und hatte eine schwierige Zeit. 2010 brauchte ich unbedingt Veränderung und da kam mir die Einführung des Moto2-Reglements gerade recht. Es war ein frischer Wind, ich hatte ein neues Team und neue Leute um mich herum. Ich bin davor noch nie ein Viertakt-Motorrad gefahren, kam aber schon ab dem ersten Test mit diesen Bikes super zurecht. Dadurch konnte ich dort einige Erfolge feiern. Auch der Wechsel von den Honda- auf die Triumph-Motoren kam dann genau zum richtigen Zeitpunkt für mich. Nach meiner misslungenen Saison in der MotoGP ging es für mich zurück in die Moto2, wo ich aber keinen Nachteil hatte, da die Triumph-Motorräder für alle Fahrer neu waren. Das hat auch meiner Motivation extrem geholfen.
Du hast in der Moto2 viele Rennen gewonnen und hast einige Male im Titelkampf mitgemischt. Wie sehr schmerzt es dich, dass es dort nie zum Titel gereicht hat?
Es ist ganz klar, dass dieser Titel in meiner Karriere fehlt. Die Moto2 hätte ich sehr gerne gewonnen. Ich habe lange darum gekämpft, aber es hat nicht gereicht und nie sollen sein. Wenn ich zurückblicke, kann ich immerhin sagen, dass ich viele Jahre um Titel kämpfen konnte - einige Male auch bis ganz zum Schluss. Ich verbuche das als Erfolg.
Du hast bereits kurz dein missglücktes Jahr in der MotoGP angesprochen. Nach einigen Rennen ist dein Team damals quasi implodiert. Wie hast du dich damals motiviert?
Dieses Jahr ist tatsächlich komplett schiefgegangen. Schon ab dem dritten Rennen ist das Team zerfallen und ich stand mehr oder weniger allein da. Das war sehr schade, aber auf dich allein gestellt kannst du in der MotoGP-Klasse nichts hinbekommen. Ich wurde in den vergangenen Wochen in diversen Interviews immer wieder nach den Highlights meiner Karriere gefragt und da habe ich immer auch mein Jahr in der MotoGP genannt - trotz all der Widrigkeiten. Auch wenn es nicht erfolgreich war, so war diese Saison für mich doch etwas ganz Besonderes. Ich durfte ein Jahr lang eine MotoGP-Maschine bewegen und darauf bin ich stolz.
Kamen dir damals bereits erste Gedanken, deine Karriere zu beenden?
Nein, das war für mich damals überhaupt kein Thema. Mir selber war klar: Das kann noch nicht alles sein, ich habe das Motorradfahren doch nicht verlernt. Für mich stand damals fest, dass ich weitermache. Als ich dann zurück in die Moto2 ging und bei Intact GP gefahren bin, war ich daher auch so richtig scharf. Diese Motivation hat man 2019 auch an den guten Ergebnissen gesehen, denke ich. Damit habe ich die offene Rechnung beglichen.
In welchem Team und mit welchem Teamkollegen hast du dich in all den Jahren am wohlsten gefühlt?
Es gab natürlich viele lustige Momente und viele gute Zeiten. Da ist es schwierig, einzelne Highlights herauszupicken. Das Team aus meinem Weltmeister-Jahr lag mir natürlich sehr am Herzen. Wir waren damals eine kleine Truppe, in der alles sehr einfach gehalten war. Umso professioneller mussten wir an die Sache herangehen, da wir damals gegen das große KTM-Werksteam um die Weltmeisterschaft gekämpft und sie letztlich besiegt haben. Das war auf jeden Fall eine coole Zeit. Später war es dann aber auch mit meinen Schweizer Teamkollegen sehr witzig, als wir unter dem Namen "Swiss Mafia" den Fans ein Begriff waren.
Was wirst du am Leben als Rennfahrer am wenigsten vermissen?
Eigentlich war immer meine Hoffnung, dass ich nicht mehr so viel reisen muss, wenn ich einmal meine aktive Karriere beende. Denn das ist der brutalste und anstrengendste Teil dieses Jobs. Da es jetzt aber mit Prüstel GP in anderer Funktion weitergeht und ich erneut bei den Rennen vor Ort sein werde, muss ich diese Hoffnung aufgeben. [lacht]
Kommen wir doch direkt auf deine neue Funktion zu sprechen. Wie wird dein Job beim Prüstel-Team aussehen und wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
Ich werde dort das Sportliche managen - wie auch immer man diese Funktion dann nennen will, Sportdirektor, Sportmanager. Im Grunde werde ich mit den Fahrern zusammenarbeiten. Nicht unbedingt als klassischer Riding Coach draußen an der Strecke, obwohl solche Aufgaben auch zu meinem Gebiet zählen werden. Ich habe in all meinen Jahren in der WM sehr viel Erfahrung sammeln können, von der ich jetzt etwas weitergeben möchte. Ich kann nun mit jungen Fahrern arbeiten und ihnen Tipps geben, wie sie von Anfang an alles richtig machen können, ohne sich selbst über manche Dinge den Kopf zerbrechen zu müssen. Das ist in etwa der Grundgedanke, den ich mit Florian Prüstel besprochen habe. Er war schon länger daran interessiert, mich in sein Projekt zu holen und ich fand das auch von Anfang an eine gute Idee und eine coole Chance für mich.
Da es kein Schweizer Team mehr in der Weltmeisterschaft gibt, ist nun geplant, dass Prüstel GP dank dir künftig auch Ankerpunkt in der Moto3 für junge Talente aus der Schweiz sein wird?
Ja und das ist auch das Ziel. Durch meine lange Karriere gibt es eine gute Plattform für Motorradsport in der Schweiz. Die werde ich versuchen zu nutzen und mich zu engagieren. Noah Detwiler ist der nächste Schweizer, der in meinen Augen eine Chance verdient hat. Ich werde ihn künftig managen und natürlich auch alles tun, damit er den Schritt in die Weltmeisterschaft schafft. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es sehr schwierig ist, aus unserem Land den großen Schritt zu schaffen. Aber es ist nicht unmöglich. Ich möchte nicht wieder eine so große Lücke haben, wie es sie vor meiner Zeit gab, als lange kein Schweizer Fahrer in der WM zu finden war.
Welche Schwierigkeiten musstest du damals für den Sprung in die Weltmeisterschaft überwinden?
Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort und konnte die richtigen Rennen gewinnen. Es gab eigentlich keine großen Stolpersteine. 2001 habe ich am Sachsenring das Rennen des Junior Cup gewonnen. Damals sind wir im Rahmenprogramm der WM gefahren und mein jetziger Manager hat mich dort fahren sehen und wurde aufmerksam auf mich. Er hatte damals ein Team und stellte mir dort einen Platz zur Verfügung. Diesbezüglich konnte ich mich wirklich glücklich schätzen.
Ist es mittlerweile schwieriger geworden für Fahrer aus dem deutschsprachigen Raum? Denn die Nachwuchsarbeit in Spanien und Italien fabriziert Talente ohne Ende, während die Dorna auch die Junior-Serien immer weiter professionalisiert.
Die Leistungsdichte ist heute viel höher als damals. Das beginnt bereits in nationalen Meisterschaften und geht hoch bis in die Junioren-WM in Spanien. Das Niveau ist brutal und man muss schon früh viel Geld in die Finger nehmen, damit man erfolgreich sein kann. Daher ist es auch schwieriger, in der WM Fuß zu fassen. Früher haben das nötige Talent und harte Arbeit dafür gereicht. Heutzutage braucht es auch das Finanzielle dazu.
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