Bist du über die aktuelle Lage der Formel 1 besorgt?
Emanuele Pirro: Ich bin nicht besorgt, aber ich denke, unser Sport muss sich selbst entwickeln und dem Rest der Welt folgen. Auf der einen Seite muss er auf die Umwelt und damit auf Dinge achten, die vor wenigen Jahren noch nicht wichtig waren, weil es eine der Aufgaben des Motorsports ist, Autos mit neuen Technologien für den Straßenverkehr zu entwickeln. Ich bin sehr glücklich mit der Richtung, welche die Formel 1 und auch Le Mans beim Spritverbrauch eingeschlagen hat.

Was ich ein bisschen vermisse, ist der menschliche Aspekt, der früher offensichtlicher war. Die Leute hatten mehr Freiheiten um zu sagen, was sie dachten. Ich glaube, die Leute - inklusive der Fahrer - konnten mehr Persönlichkeit haben. Heute gibt es mehr Interesse seitens der Medien, daher ist es für die Fahrer schwieriger, exklusive Interviews zu geben und für die Medien, exklusive Storys zu liefern. Die Distanz zwischen den Akteuren, also den Teams und Fahrern, wird meiner Meinung nach zu groß. Als Rennsportfan würde ich gerne die Wahrheit und nicht die gefilterte Wahrheit sehen.

Wir müssen in Betracht ziehen, dass es andere jüngere Sportarten gibt, die für die jungen Leute sehr anziehend sind. Ich spreche von Skateboarding, Motocross oder Windsurfing. In diesen Sportarten zeigen sich die Athleten so, wie sie wirklich sind. Ich denke, das ist eine der Aufgaben für die Zukunft, der die Formel 1 sich stellen muss.

Während die Formel 1 auf der Suche nach nachhaltigen Energiekonzepten ist, die jedoch sehr teuer sind, haben viele Teams finanzielle Probleme und kämpfen um das Überleben. Wie kann man hier eine Lösung finden?
Emanuele Pirro: Ich denke, die Geschichte zeigt, dass die Teams immer ausgeben, was sie haben, egal welchen Regeln sie unterliegen. In meiner idealen Vision würde ich liebend gerne sehen, dass Motorsport für alle zugänglich ist. Ich kämpfe für solche Regeln in den nationalen Verbänden und der Fahrerkommission der FIA. Ich würde Motorsport gerne für mehr und mehr Leute zugänglich machen.

Emanuele Pirro bestritt 37 Grands Prix, Foto: Sutton
Emanuele Pirro bestritt 37 Grands Prix, Foto: Sutton

Die beiden einzigen schlechten Dinge im Motorsport sind leider noch immer die Gefahr und der Umstand, dass man Geld benötigt. Abgesehen davon ist es ein großartiger Sport. Wann immer es Möglichkeiten gibt, weniger Geld auszugeben, bin ich dafür. Ich denke aber nicht, dass die Regeln so viel damit zu tun haben. Die Regeln für begrenzte Kosten sollten in den niedrigeren Rennserien viel strikter sein, denn die Formel 1 ist die Spitze und das gesamte Geld sammelt sich dort. Wie ich gesagt habe, werden Teams immer das Geld ausgeben, das sie haben. Selbst wenn sie es nicht leisten können, werden sie einen Weg finden, um alles auszugeben, was sie haben. Aber die niedrigeren Serien folgen ein bisschen dem Standard der Formel 1 und wenn ich sehe, welche Budgets dort notwendig sind, glaube ich, dass das überdacht werden muss.

Sollte innerhalb der Formel 1 die Verteilung des Gelds verändert werden?
Emanuele Pirro: Die Verteilung der Gelder ist eine Konsequenz der Resultate. Wenn ich sehe, dass Marussia keinen einzigen Sponsor am Auto hat, werde ich sehr traurig. Die Zuverlässigkeit der Autos ist heutzutage sehr hoch. Zu meiner Zeit konnten zweit- und drittklassige Teams manchmal darauf hoffen, in einem schwierigen Grand Prix ein gutes Ergebnis zu erzielen, weil es mehr Improvisation gab und wir nicht so nahe an der Perfektion dran waren, wie es heute der Fall ist. Wenn man Hoffnungen hat, kann man sie auch an die Sponsoren verkaufen. Wenn die Hoffnungen jedoch sehr limitiert sind, ist es sehr, sehr schwierig, sie zu verkaufen. Daher sieht man bei Teams wie Marussia und Caterham sehr wenige Sponsoren.

Aber selbst Traditionsteams wie Williams und Sauber haben zu kämpfen...
Emanuele Pirro: Das stimmt, aber wenn man von dieser Kategorie Teams spricht, liegt es mehr an der Weltwirtschaftslage. Ich denke, ein Team wie Sauber ist potenziell für Sponsoren attraktiv. Wenn sie also keinen Sponsor finden, ist es wohl nicht nur ein Problem der Formel 1, sondern eines der schwierigen Wirtschaftslage. Ich bin nicht so besorgt, weil ich glaube, dass diese Teams immer irgendwie überleben werden. Die Teams, die in Gefahr sind, sind die beiden letzten. Das ist ein wirkliches Problem, denn ich glaube, dass sie für Sponsoren nicht attraktiv sind, da sie nur um den letzten und vorletzten Platz kämpfen können. Ich würde gerne eine technische Situation sehen, in der die Besten natürlich gewinnen, es aber auch Chancen für die weniger guten gibt.

Früher hatten die Hinterbänkler größere Chancen auf Punkte, Foto: Sutton
Früher hatten die Hinterbänkler größere Chancen auf Punkte, Foto: Sutton

Hat das Reifen-Drama von Silverstone der Formel 1 Schaden zugefügt und war es vermeidbar?
Emanuele Pirro: Es hat Schaden angerichtet. Die Fans werden immer anspruchsvoller und das Produkt muss immer perfekter sein. Vor ein paar Jahrzehnten haben die Leute noch viel mehr Fehler akzeptiert. Heute ist der Zugang der Menschen hingegen darauf ausgerichtet zu sehen, was falsch läuft und wer daran Schuld hat. Die Formel 1 hat sehr viele Fans, sieht sich aber auch großer Kritik ausgesetzt. Manchmal ist das Wissen der Kritiker ziemlich gering, weil nicht die gesamte Situation für sie zugänglich ist. Manchmal werden Entscheidungen - inklusiver jener der Stewards - ohne umfassende Kenntnisse getroffen. Daher denke ich, dass die Formel 1 Schaden genommen hat.

Die F1 erlebte in Silverstone eine dunkle Stunde, Foto: Sutton
Die F1 erlebte in Silverstone eine dunkle Stunde, Foto: Sutton

Ob die Sache vermeidbar war, ist eine schwierige Frage. Reifen zu produzieren, sie aber nie zu testen, ist eine sehr schwere Aufgabe. Wir wissen, dass die Teams bei der Reifenwahl vor allem darauf achten, was für ihre Autos gut ist. Hoffentlich war das ein Weckruf für alle. Eine positive Folge ist, dass es nun die Möglichkeit geben wird, zu testen. Wir stimmen alle zu, dass die Formel 1 teuer ist und die Kosten kontrolliert werden müssen, aber ich sehe es lieber, wenn ein paar Euro auf der Strecke statt im Windkanal ausgegeben werden. Es gibt keinen anderen Sport, in dem es Athleten verboten ist, sich selbst zu trainieren. Im Motorsport geht es beim Testen immer darum, die Autos zu verbessern, es gibt keinen Raum für die Fahrer, um zu üben, wie es in jedem anderen Sport der Fall ist.

Gerade junge Piloten werden vom Testverbot hart getroffen...
Emanuele Pirro: Testen ist wirklich wichtig. Moderne Technologien wie CFD, Simulatoren und Windkanäle können Testfahrten auf der Strecke nicht ersetzen.

Hättest du das Rennen in Silverstone abgebrochen, wenn du an Charlie Whitings Stelle gewesen wärst?
Emanuele Pirro: Ich glaube nicht. Es ist sehr einfach zu kritisieren, wenn man auf dem Sofa sitzt, aber man muss auch an alle Folgen denken. Es liegt in der Verantwortung der Teams, vielleicht einen zusätzlichen Reifenwechsel durchzuführen, wenn sie glauben, dass das notwendig ist, denn die Reifen sind verfügbar.

Warst du über die Sicherheit besorgt?
Emanuele Pirro: Ich war sehr besorgt, weil ich weiß, was es bedeutet, einen Reifenplatzer zu haben. Wir haben aufgrund dessen Michele Alboreto verloren, was nie in Vergessenheit geraten wird. Ich hatte zudem nach einem Reifenschaden in Road Atlanta einen schweren Unfall und war danach zwei Monate ans Bett gefesselt. Ich habe mich zunächst gut gefühlt und bin am Nachmittag sogar noch gefahren, aber am nächsten Tag fühlte ich mich komisch und nach zwei Kurven bin ich im Freien Training wie ein blutiger Anfänger gecrasht.

Ich habe mich bei den Mechanikern entschuldigt und sie haben das Auto repariert. Dann bin ich wieder auf die Strecke gegangen und spürte, das Auto war schneller als ich und fühlte mich eigenartig. Um es kurz zu machen: Ich hatte eine Gehirnerschütterung und musste daher zwei Monate im Bett verbringen. Ich fühlte mich wirklich schlecht, konnte nicht sprechen und nicht lesen. Daher war ich besorgt, weil ich weiß, wie das ist. Wenn man im Auto sitzt, spürt man den Speed viel mehr, als es vor dem Fernseher der Fall ist.

Wird die Gefahr von den Leuten nicht mehr so sehr wahrgenommen?
Emanuele Pirro: Ich denke, sie halten Motorsport für sicher, weil sie die Statistiken kennen. Abgesehen davon, was in den letzten beiden Wochen passiert ist, ist der Sport definitiv sicherer geworden, aber wenn man sich die Geschwindigkeiten vor Augen führt, kann es sehr schnell gefährlich werden, selbst wenn es große Auslaufzonen gibt. Die Fahrer sind sich weiterhin bewusst, dass man nie zu einhundert Prozent sicher sein kann.