Der Artikel wurde in der 80. Ausgabe des Printmagazins von Motorsport-Magazin.com am 02. September 2021 veröffentlicht.

Viel zu oft macht der Motorradsport aus den falschen Gründen Schlagzeilen in den Massenmedien. Nämlich nicht dann, wenn uns die Herren Marquez, Quartararo & Co. wieder einmal Racing vom Allerfeinsten servieren, sondern dann, wenn unser so schöner Sport seine hässliche Seite zeigt und junge Erwachsene oder Jugendliche aus dem Leben reißt. So passiert Ende Juli, als der erst 14-jährige Spanier Hugo Millan bei einem Rennen zum European Talent Cup in Aragon tödlich verunglückte. Eine erneute Tragödie, nicht einmal zwei Monate nach dem Tod von Moto3-Ass Jason Dupasquier. 2018 verstarb Andreas Perez mit 14 Jahren nach einem Unfall in der Moto3-Junioren-WM, ein Jahr später verlor Afridza Munandar im Asia Talent Cup sein Leben. All diese Unglücke weisen eine erschreckende Parallele auf. Sie sind alle in Rennserien passiert, die Teil der von Promoter Dorna ausgeschriebenen "Road to MotoGP" sind. Innerhalb von drei Jahren haben also vier junge Männer respektive Kinder ihr Leben gelassen, weil sie sich den Traum von der Motorrad-Königsklasse erfüllen wollten. Es sind Schicksale, die individuell immer wieder für Bestürzung in der Szene sorgen. Zu oft sind wir als Gemeinschaft danach aber zur Tagesordnung übergegangen. Frei nach dem Motto: "Motorsport can be dangerous." Steht auf jedem Ticket, steht auf jeder Akkreditierung. Weiß jeder. War immer so. Wird immer so sein.

Und ja, Motorradrennen werden in der Rangliste der gefährlichsten Disziplinen wohl immer im Spitzenfeld liegen. Das ist der Grund, warum wir diesen Sport lieben. Nicht, weil wir uns Verletzungen oder Todesfälle wünschen. Aber weil es beeindruckend ist, Menschen dabei zu beobachten, wie sie scheinbar spielerisch auf diesem Grat zwischen Triumph und Tragödie wandeln. Es wäre jedoch ein Fehler, alle Gefahren dieses Sports einfach hinzunehmen. Hätte man stets so gehandelt, würde die MotoGP immer noch auf Straßenkursen von der Isle of Man bis Opatija fahren. Als Absicherung würde man Strohballen akzeptieren. Das ist glücklicherweise nicht der Fall. Der Motorradsport hat sich verändert. Viele Risiken wurden ausgeräumt, gleichzeitig sind neue entstanden. Zu Zeiten von Giacomo Agostini oder Mike Hailwood wurden Rennen üblicherweise mit Runden oder Minuten Vorsprung gewonnen, heute sind es oft nur wenige Hundertstel- oder Tausendstelsekunden. Mehr Fahrer auf engem Raum bedeuten größere Gefahr. Das gilt für die MotoGP, noch mehr aber für die eingangs erwähnten Nachwuchsklassen. Vor allem dort muss sich der Motorradsport überlegen, welches Bild er abgibt. Was denken außenstehende Menschen über eine Branche, die Kinder auf bis zu 250 km/h schnellen Maschinen gegeneinander antreten lässt und dabei geflissentlich Todesfälle in Kauf nimmt. Hugo Millan war nicht alt genug, um Bier zu kaufen. Nicht alt genug, um legal gewisse Filme zu sehen oder manche Videospiele zu konsumieren. Er durfte aber unter Einsatz seines Lebens auf einer Rennstrecke um Punkte und Siege kämpfen. Hält man sich das vor Augen, ist es kein Wunder, das heutzutage viele große Sponsoren ein Engagement in diesem Zirkus kategorisch ablehnen. Alle paar Monate mit dem Tod eines jungen Menschen in Verbindung gebracht zu werden, wollen viele Unternehmen nicht riskieren. Es besteht also Handlungsbedarf. Vor allem zum Schutz dieser Fahrer, aber auch für eine bessere Zukunft des gesamten Motorradsports. Die "Road to MotoGP" ist auf sportlicher Ebene ein voller Erfolg. Promoter Dorna hat hier in den vergangenen Jahren hervorragende Arbeit geleistet und ein System geschaffen, das dafür sorgt, das bestens ausgebildeten Youngsters der Schritt in die WM gelingt und wir uns so auch in Zukunft auf exzellentes Racing bis hoch in die Königsklasse freuen dürfen. Mitunter steht das Spektakel in den kleineren Klassen der MotoGP-Show in nichts nach. Um das zu gewährleisten, hat die Dorna in den vergangenen Jahren ein Regelkorsett genäht, das für immer größere Leistungsdichte sorgt. Die zehn engsten Rennen in der Moto3 beziehungsweise ihrer Vorgängerklasse bis 125ccm fanden allesamt seit 2014 statt. Nie waren in diesen zehn Grands Prix die Top-15 durch mehr als 2,609 Sekunden getrennt. Dermaßen viele adrenalinaufgeladene junge Männer auf schnellen Motorrädern, die um jeden Zentimeter Rennstrecke kämpfen, müssen früher oder später für eine Katastrophe sorgen. Und tatsächlich zieht sich ein Muster wie ein roter Faden durch die tödlichen Unfälle der letzten Jahre: Ein Pilot stürzt und wird von nachfolgenden Motorrädern getroffen. In diesen Situationen können auch die beste Sicherheitsausrüstung und die modernsten Rennstrecken meist nichts für die jungen Racer tun. Zu groß ist die Gewalt des Einschlags, selbst bei kleinen und leichten Moto3-Maschinen.

Ride on in heaven: Jason Dupasquier, Foto: LAT Images
Ride on in heaven: Jason Dupasquier, Foto: LAT Images

Enges Racing - ja zu enges Racing, ist die größte Gefahr im modernen Motorradsport. Es ist aber eine Gefahr, die sich zumindest teilweise auslöschen lässt. Wie gefährliche Strecken oder schlechte Ausrüstung vor vielen Jahrzehnten. Eine Meinung, die FIM-Sicherheitsinspektor Franco Uncini unmittelbar nach dem Tod von Hugo Millan noch nicht teilen wollte. "Es war wieder einmal dieselbe Art von Unfall, aber die können wir aktuell nicht vermeiden. Da geht es nicht um das Alter oder einen Mangel an Erfahrung. Für mich ist das einfach nur Pech. So ein Sturz kann jedem Fahrer passieren", sagte Uncini, der 1983 in Assen in einen ähnlichen Unfall verwickelt war. Wayne Gardner traf ihn damals bei voller Fahrt. Uncini lag mehrere Tage im Krankenhaus im Koma. Zur nächsten Saison gab er sein Comeback, der Weltmeister von 1982 stand aber nie wieder auf einem Podium. Uncini kündigte trotz seiner Ansicht, wonach es sich beim jüngsten Unglück um reines Pech handelte, eine genaue Untersuchung an: "Hoffentlich finden wir eine Lösung." Tatsächlich beschäftigte das Thema in den folgenden Wochen die Spitzen von Promoter Dorna und Motorradweltverband FIM gleichermaßen. Am ersten MotoGP-Rennwochenende nach der Sommerpause, dem Grand Prix der Steiermark, hielt man im Paddock von Spielberg ein ausgedehntes Meeting ab und kam direkt zu einem ersten Lösungsansatz. In den betroffenen Serien sollen zukünftig weniger Fahrer parallel auf der Strecke sein. In der Moto3-Weltmeisterschaft würde man etwa für Trainings und Warm-Up das Feld in zwei Blöcke aufteilen, wodurch nur noch 14 statt 28 Fahrer zeitgleich zirkulieren. Im Rennen könnten nur die Top-20 an den Start gehen, die restlichen Piloten in einer Art Hoffnungslauf. Für das Qualifying gibt es durch das System mit den zwei Abschnitten Q1 und Q2 ja ohnehin bereits eine Trennung. Der Weisheit letzter Schluss? Wohl kaum. Natürlich schrumpft in der Theorie das Risiko, wenn weniger Fahrer einander bekriegen. Doch wenn im Rennen die 20 schnellsten anstatt der 28 schnellsten Piloten an den Start gehen, wird das keinen großen Einfluss auf die entstehende Führungsgruppe haben. Auch MotoGP-Superstar Marc Marquez gibt sich kritisch: "Wenn etwas passieren soll, dann passiert es. Natürlich wird durch weniger Motorräder das Risiko reduziert, aber es reichen zwei Maschinen für so eine Tragödie aus. Dieses Risiko, dass ein Fahrer stürzt und dann auf der Strecke liegt, wird es immer geben." Das soll keine Vorverteilung der geplanten Maßnahme sein, die schon in dieser Saison umgesetzt werden könnte. "FIM und Dorna sind sehr besorgt und wir sehen uns alle Möglichkeiten an, um die Gefahr in Zukunft zu reduzieren. Die Teilung des Feldes ist die einfachste und schnellste Lösung", weiß auch FIM-Präsident Jorge Viegas. Eine echte Entschärfung kann aber nur dann stattfinden, wenn die Leistungsdichte vom European Talent Cup bis hin zur Moto3-WM etwas dosiert wird. Das ist praktisch nur über neue technische Vorgaben nötig. Stärkeren Fahrern muss es wieder einfacher gemacht werden, den Unterschied gegenüber der durchschnittlichen Konkurrenz zu machen. Und das Mittelfeld muss sich wieder von den Nachzüglern trennen. Die Reifenauswahl ist hier immer ein großes Thema. Auch die Elektronik kann entscheiden. Und manche Experten sehen die Getriebebestimmungen für die Moto3-Maschinen als größtes Übel. Diese lassen aktuell Konfigurationen zu, mit denen es sehr einfach ist, den Anschluss an seinen Vordermann zu halten. So groß ist der Vorteil eines Windschattens. Das führt wiederum auch zu den großen Zügen von Fahrern, die wir immer wieder in Trainings und Qualifyings beobachten können. Änderungen in diesen Bereichen brauchen aber Zeit. FIM und Dorna müssen Rücksprache mit Fahrern, Teams und den technischen Verantwortlichen der Hersteller halten. Ein Motorsportreglement schreibt sich nicht über Nacht.

Die engen Abläufe in der Moto3 sorgen oft für Unfälle, Foto: LAT Images
Die engen Abläufe in der Moto3 sorgen oft für Unfälle, Foto: LAT Images

So manchem alten Paddock-Hasen gehen diese Schritte gar nicht weit genug. Sie wünschen sich eine vollkommene Umgestaltung der kleineren Klassen mit einer Rückkehr zu alten Mustern. Ihnen stößt der Jugendwahn im Motorradsport sauer auf. Müssen Fahrer, die gerade einmal volljährig sind, schon in die MotoGP? Müssen 15-Jährige ihr Debüt auf WM-Ebene geben? Und müssen Kinder auf pfeilschnellen Maschinen Rennen fahren, um nicht schon im jungen Alter völlig ins Hintertreffen zu geraten? Vor rund 30 Jahren war es noch gang und gäbe, dass Rennfahrer erst dann ihre Karrieren starteten, wenn sie diese selbst finanzieren konnten. Ein Ansatz, an dem man durchaus Gefallen finden kann. Gestandene Männer - oder Frauen - die sich der Risiken des Sports bewusst sind, anstatt beeinflussbarer Kinder, die nicht selten eher aufgrund des elterlichen Drucks als aufgrund des eigenen Willens auf dem Motorrad sitzen. Höhere Alterslimits wären eine simple Lösung für dieses Problem. Denkverbote soll es in dieser wichtigen Debatte keine geben, doch die Forderung scheint zu radikal, um wirklich in Taten umgesetzt zu werden. Die Gründe dafür sind klar: Hebt man die Eintrittsgrenzen um zwei oder drei Jahre an, raubt man einer aktuellen Generation an Youngsters die Chance auf ihr rennfahrerisches Vorankommen. Gleichzeitig versiegt für diesen Zeitraum der Zustrom an neuen Talenten in die Weltmeisterschaft, was zu einem für die Popularität des Sports gefährlichen Vakuum an hochkarätigen Rennfahrern führen könnte. Ein Risiko, dass die Dorna wohl nicht eingehen wird. Vor allem, weil man mit der "Road to MotoGP" viel Geld in eine Professionalisierung der Nachwuchsarbeit investiert hat. "Ob die Fahrer jetzt 14 oder 16 Jahre alt sind, macht keinen Unterschied", meint Aleix Espargaro, selbst Vater von Zwillingen. "Eine Anhebung des Alterslimits auf 20 Jahre würde etwas ändern, aber das kannst du nicht machen. Ich mag es trotzdem nicht, wenn Leute solche Unfälle auf reines Pech schieben. Ja, es gehört Pech dazu, aber unser Sport ist nicht perfekt. Wir können uns immer verbessern." Auch Marc Marquez sieht das Alter der Fahrer nicht als vorrangiges Problem. "Ich bin zum ersten Mal mit elf Jahren ein Grand-Prix-Bike gefahren", erinnert sich der achtfache Weltmeister. "Heute haben die Kids viel bessere Möglichkeiten, um in diese Aufgabe hineinzuwachsen. Die Philosophie ist jetzt eine ganz andere." Außerdem: Den Youngsters bei ihren Rennen zuzusehen, gehört zu den beeindruckendsten Erlebnissen in unserem Sport. Dazu braucht es noch nicht einmal enges Racing. Dass Kinder diese Maschinen derart spektakulär um die Rennstrecken dieser Welt bewegen können, ist einfach nur faszinierend. Es ist eine schöne Erinnerung daran, wozu junge Menschen in der Lage sind. Ganz abgesehen davon ist dieser Sport mit all seinen Höhen aber auch Enttäuschungen eine ausgezeichnete Lebensschule. Nirgendwo anders habe ich dermaßen kluge und reife Teenager kennengelernt wie im MotoGP-Paddock. Das ist kein Zufall. Also: Lassen wir diese Jungs und Mädels ihr Können zeigen. Das haben sie sich verdient. Aber opfern wir sie nicht auf dem Altar der Show.

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