Die ganze Formel 1 steht vor dem Rennen morgen in Australien vor einem riesigen Mysterium: Die Reifen. 2024 hat der Einheits-Ausrüster Pirelli für Melbourne eine signifikante Veränderung in der Auswahl vorgenommen. Die machte allen Teams bislang Probleme, und zwingt sie bis an die Grenzen. Das macht das Rennen zu einer haarigen Angelegenheit, wie der Favoritencheck aufrollt.

Dieses Jahr hat sich Pirelli entschlossen, die weichste mögliche Reifenpalette nach Australien zu bringen. C3, C4 und C5 stehen den Teams als Hard, Medium und Soft zur Auswahl. Diese Reifen sind zwar bestens bekannt, weil im Vergleich zum Vorjahr technisch identisch - aber auf dem Albert Park Circuit stellt sich diese Entscheidung als ein Grenzgang heraus.

An und für sich bietet der Stadtkurs guten Grip, wenig Abbau und Verschleiß. In den Vorjahren war man mit der konservativen Auswahl C2-3-4 daher immer bei eher eintönigen Einstopp-Rennen gelandet. Mit der weicheren Palette stoßen die Teams mit dem sogenannten Graining-Phänomen nun ans Limit.

Reifen mit 100 Prozent Verschleiß als Gefahr

Graining bedeutet, dass sich die Reifenoberfläche unter Last beginnt zu verformen, etwa durch Mikrorisse. Das senkt den Grip, was wiederum das Problem verstärkt. In Australien wird das ausgelöst dadurch, dass sich alle sehr schwertun, die Reifen ins optimale Arbeitsfenster zu bringen. Normalerweise hilft dagegen, wenn der Gummi auf dem Asphalt im Verlauf des Wochenendes immer mehr wird - aber dieser Effekt ist in Australien ungewöhnlich gering ausgeprägt.

"Am Freitagabend haben wir wie immer ein paar Reifen analysiert, und manche hatten nach erst wenigen Runden bereits 100 Prozent Verschleiß erreicht", hält Pirelli-Sportchef Mario Isola fest. Hier geht es um Medium-Reifen - damit fuhr fast das ganze Feld am Freitag die Rennvorbereitung. Isola schätzt, dass ein Soft-Reifen selbst bei sorgfältigem Management nach 15 Runden bereits erledigt wäre.

Ferrari-Fahrer Charles Leclerc
Den Reifen gelten in Australien als Schlüssel, Foto: LAT Images

"Du darfst in den ersten Runden die Reifen nicht überstrapazieren", hält Isola fest. Wer es übertreibt, der betritt schnell eine echte Gefahrenzone. Die Abnutzung ist kontrollierbar, aber wer dabei nicht aufpasst, kann beim Verschleiß in Schieflage geraten. Der kann sich schnell verschlimmern. Bis zu einem Punkt, wo die Lauffläche einen signifikanten Teil ihrer Gummischicht verloren hat. Dann gerät nicht nur das Reifenmanagement völlig außer Kontrolle - ein Verbremser würde die Konstruktion bis hin zur Gefahr eines Reifenschadens malträtieren.

Medium-Hard-Hard ist die zu erwartende Strategie. Weil jeder nur zwei Sätze Hard zur Verfügung hat, fuhr jedoch kein einziger Fahrer an diesem Wochenende eine ernsthafte Runde auf Hard. Eben, um die Reifen zu sparen. Man verlässt sich auf Wissen aus der Vergangenheit. Den hier als Hard deklarierte C3 fuhr man schließlich schon in Bahrain (als Soft) und Saudi-Arabien (als Medium).

Reifensparen extrem: Wer ist wirklich Favorit in Australien?

Wem gerät so ein Rennen zum Vorteil? Leider, für die Konkurrenz, wohl trotzdem Max Verstappen. "Autos, die weniger Probleme mit Abnutzung in den letzten Rennen haben, werden wohl dieses Rennen besser managen", heißt es von Pirelli. Niemand war in den letzten Rennen in diesem Bereich so souverän wie Red Bull.

Verstappens Nachteil ist ein nach einem Schaden in FP1 komprimiertes Trainings-Programm. Das verkürzte seinen Freitags-Longrun deutlich. Den ganzen Samstag hindurch tat er sich mit der Balance schwer. Zu viel Untersteuern - ein nachvollziehbares Problem im Angesicht der Graining-Lage. Es wäre nur logisch, dass Red Bull hier mangels Freitagsdaten zu konservativ ans Setup heranging. Die Hinterachse zu schützen ist wichtiger.

Im Qualifying schien die Balance endlich gefunden. Die letzten Probleme tarierte Verstappen bis Q3 mit Frontflügel und Reifendruck aus. Das deutet auf ein gerade noch rechtzeitig aussortiertes Setup hin. Der Ferrari von Charles Leclerc sah zwar in den Freitags-Longruns ebenfalls stark aus, doch Leclerc fand am Samstag nicht mehr in den Tritt. Er überkorrigierte im Qualifying - und hatte zu viel Übersteuern. Nur Startplatz vier.

Carlos Sainz ist auf Startplatz zwei erster Verstappen-Jäger, damit aber realistisch erster Mann im Nachteil. Schafft er es am Start nicht vorbei, könnte das sein Graining-Untergang werden: "Hinter dem Red Bull zu stecken dürfte nicht das Beste für den Reifen sein." Umgekehrt gilt das natürlich auch für Verstappen, sofern er den Start verlieren sollte. Sainz fügt an: "Die Rennpace heute und gestern war gut genug, um mich daran glauben zu lassen, dass ich morgen um den Sieg kämpfen kann, wenn ich mich gut fühle."

Chaos-Gefahr in Australien nimmt wieder zu

Die Ungewissheit um die Reifen erhöht allerdings auch das Chaos-Potenzial. Das ist in Melbourne sowieso hoch. Hier gibt es echte Kiesbetten und nahe Wände. Die schwer zu handhabenden Reifen provozierten bereits zahlreiche Ausritte, Alex Albon schrieb ein Chassis ab. Im Rennen steigt die Gefahr dadurch, dass bei einigen im Hinterfeld durch die starke Abnutzung in der verwirbelten Luft des engen Feldes die Balance schnell den Bach runtergehen wird.

Die Boxenstopp-Entscheidung bei einer Neutralisierung wird dann besonders schwierig. Zu früh zu stoppen ist hier potenziell fatal, man würde sich dem Verschleiß-Untergang weihen. Außerdem haben alle in ihrem Spar-Wahn nur mehr einen Satz Medium für eine Kompromiss-Strategie bei der Hand. Und auch ohne Unterbrechung werden die Strategie-Abteilungen aufpassen müssen. Der Undercut könnte mächtig sein, und ein früher Stopp zum Positionsgewinn verlockend. Aber wieder gilt: Zu früh, und man gräbt sich ein Loch.

Alex Albon sorgte im Vorjahr für eine von zwei roten Flagge, Foto: LAT Images
Alex Albon sorgte im Vorjahr für eine von zwei roten Flagge, Foto: LAT Images

Vorne bleibt es dabei: Verstappen größter Favorit, dann die Ferrari. Lando Norris, der den dritten Startplatz des bestraften Sergio Perez erbt, darf nicht unterschätzt werden, er war am Freitag im Longrun ebenfalls gut. Wenn auch nicht ganz auf Ferrari-Niveau.

Mercedes dürfte keine guten Chancen haben. "Ich denke, wir werden morgen mit mehr Benzin im Tank besser sein", klammerte der siebtplatzierte George Russell sich nach einem schwachen Qualifying an einen letzten Strohhalm. Weder die Longruns vom Freitag noch die Ergebnisse der ersten zwei Rennen geben Grund zu der Annahme, dass er damit Recht haben könnte.