GP-Präsident, Ex-Rennfahrer und Streckendesigner - einen besseren Gesprächspartner gibt es für dieses Thema nicht. Was genau ist das Problem mit den Track Limits?
Alexander Wurz: Wie viel Akku hast du noch auf dem Aufnahmegerät? [lacht] Knapp zusammengefasst: Das Problem Kerbs begann 1994 in Imola, als Rubens Barrichello am Kurvenausgang das Auto verlor und auf einem steilen Kerb abhob. Dann sagte die FIA vernünftigerweise: Kerbs am Kurvenausgang sollen nicht so hoch sein. Zur selben Zeit begann die Entwicklung hin zu mehr asphaltierten Auslaufzonen. Was rein aus Sicht der Sicherheit auch gut ist. Das kommt auch dem Streckenbetreiber entgegen, weil er bei normalen Track Days, wo das meiste Geld herkommt, keine Autos im Kiesbett landen können. Der Kunde, der fahren will, kann mehr Zeit auf der Strecke verbringen. Dieser Kunde ist happy. Der Formel-1-Kunde hingegen ist nicht happy. Weil es dadurch keine natürliche Bestrafung für einen Fehler gibt.

Aber mit der Formel 1 verdient der Streckenbetreiber kein Geld…
Alexander Wurz: Jein, die Formel 1 bildet die Massenmeinung über den Motorsport. Deshalb bin ich nach so einem Tag natürlich nicht glücklich. Ich predige seit vielen Jahren, dass es Lösungen gibt. Die sind nicht zu 100 Prozent für alles und immer perfekt, aber es besteht viel Nachholbedarf und viel Raum für Verbesserung. Ich habe schon immer dafür plädiert, dass wir mit der MotoGP sprechen. Sie brauchen hinter dem Kerb einen Streifen Asphalt, damit sie nicht seitlich in ein Kiesbett rutschen. Da konnten wir uns einigen. Wir haben gesagt, dass Kiesbetten nie zum Standard für jede Kurve werden sollen, aber wir orientieren uns in Richtung einer Anpassung.

Zurück zur Formel 1: Ralf Schumacher hatte einmal in seinem Williams ein Lenkversagen in Italien. Dann sagte die FIA: "Okay, die hohen Kerbs, die diese Shockloads verursachen, wollen wir nicht mehr haben. Wir gehen zu niedrigen Kerbs innen und außen - aus Sicherheitsgründen." Gemeinsam mit mehr asphaltierten Auslaufzonen und der Entwicklung der Kerbs sind wir dort angelangt, wo wir waren.

Dann wurden wieder Sausagekerbs eingeführt, um die Autos fernzuhalten. Die waren insofern wieder sehr schlecht, weil es sich bei den Sausagekerbs um Produkte aus dem normalen Straßenverkehr handelte, die nicht für den Motorsport entwickelt wurden. Für mich war das nie in Ordnung, dass diese teils so positioniert wurden, dass daraus unzählige gebrochenen Rücken resultierten. Nach dem letzten Fall von Adam Fitzgerald haben wir noch einmal mit der FIA gesprochen und gebeten, diese Sausagekerbs trotz der Track-Limit-Problematiken an den gefährlichen Stellen endlich zu entfernen.

Alex Wurz kennt die Problematik aus allen Perspektiven, Foto: Red Bull Content Pool / Harald Steiner
Alex Wurz kennt die Problematik aus allen Perspektiven, Foto: Red Bull Content Pool / Harald Steiner

Jetzt müssen wir nur noch eine Lösung für die Kurven finden, wo die Situation 'kundenunfreundlich' ist. Wie hier in Spielberg in Kurve neun und zehn. Da müssen wir eben mit der MotoGP reden. Am einfachsten wäre es, wie in Kurve vier hinter dem Kerb etwas Asphalt stehen zu lassen und dahinter ein Kiesbett. Andererseits kann das Kurvendesign selbst eigentlich schon bestimmen, ob der Fahrer am Ausgang wirklich den Kerb braucht, ob er mit fünf Zentimetern mehr beim Ausholen wirklich einen Vorteil hat. Das kann man aber nur bei neuen Strecken designen.

Es gibt dann auch noch andere Lösungen, die wir gerade als Streckendesigner am Patentieren sind. Da gibt es andere Technologielösungen. Da geht es nicht um elektronische Track Limits, es geht bei diesen Lösungen nicht um das Wegnehmen von Leistung, davon halte ich nichts. Das soll keine PlayStation werden.

Dort soll das Feedback und die Bestrafung für den Fahrer sofort kommen?
Alexander Wurz: Und auch visuell für den Zuschauer. Weil dann gibt’s keine Diskussionen mehr. Ich glaube, der Wille der Industrie ist da, aber man kann diese Dinge nicht immer sofort ändern. Und auch noch ein Aufruf an die FIA: Wir dürfen nicht immer von Streckenbetreibern verlangen, dass sie jedes Jahr alles umbauen müssen. Das sind unsere Sportstätten, die wir befahren. Sie verdienen ohnehin wenig bis fast nichts, machen teilweise sogar Verluste. Wenn sie die Strecken andauernd für mittlere sechststellige Summen umbauen müssen, nur weil es dann besser zum Reifen oder zur Aufhängung passt, ist das schlecht.

Kiesbetten kommen langsam wieder an die Strecken zurück, Foto: LAT Images
Kiesbetten kommen langsam wieder an die Strecken zurück, Foto: LAT Images

Wir brauchen eine Lösung, die für Tourenwägen, Monoposti, Sportwägen und Motorräder geeignet ist. Man muss nur vernünftig drüber nachdenken und dort bin ich an der vordersten Front und möchte da auch mithelfen, um das umzusetzen. Da bin ich aber auch zweigeteilt, da das ja auch mein Geschäft ist. Deshalb kann ich da nicht einfach wild hinausposaunen, was wir vorhaben.

Warum ist Kunstrasen, wie wir ihn schon hatten, keine Lösung?
Alexander Wurz: Das will allerdings die MotoGP nicht.

Könnte man den nicht leicht entfernen?
Alexander Wurz: Das ist dennoch sehr wartungsintensiv. Du musst dafür auch einen hochqualitativen Untergrund schaffen, der Klebstoff ist sehr teuer und auch das Material gehört zu den teuersten Optionen. Deshalb stellen mich Astro-Turfs nicht wirklich zufrieden. Astro-Turfs funktionieren - das hat mir beispielsweise Eduardo Freitas nie geglaubt - am Kurveneingang richtig gut. Da würde ein Stück Astro-Turf ausreichen und bräuchte keinen Kerb. Denn am Kurveneingang vertraut der Fahrer nicht darauf, ob er den Grip hat oder nicht. Am Kurvenausgang, spätestens wenn dort 40 bis 50 Leute drüberfahren, bleibt ein bisschen Gummi kleben und zum Schluss hat der Astro-Turf mehr Grip als der Asphalt selbst. Das wäre dann kontraproduktiv. Es gibt mehrere Ansätze, um ein natürliches Track Limit zu kreieren, wo auch der Zuschauer sofort weiß: Ok, jetzt hat der Fahrer Zeit verloren. Aber es geht dabei kein Karbon kaputt, es ist nicht gefährlich, weil es das Drehen oder Abflüge provoziert.

Vor drei Jahren gab es deutlich weniger Track-Limit-Verstöße, weil Michael Masi eine andere Herangehensweise wählte: Er bezog die Kerbs mit in die Strecke ein, Niels Wittich hält sich an die weiße Linie.
Alexander Wurz: Wir sind gerade auch dabei, uns an die neue Kultur des neuen Renndirektors zu gewöhnen. Und er sagt, die Grenze ist die weiße Linie und nicht hinter dem Kerb.

FIA-Rennleiter Niels Wittich hält sich an die Regeln: Die weiße Linie ist die Grenze, Foto: LAT Images
FIA-Rennleiter Niels Wittich hält sich an die Regeln: Die weiße Linie ist die Grenze, Foto: LAT Images

Seid ihr Fahrer damit einverstanden?
Alexander Wurz: Das ist Geschmackssache. Wir alle müssen respektieren, dass er die Verantwortung hat, die Sporthoheit repräsentiert und damit auch Autorität innehaben muss. Ich persönlich würde genauso streng sein wie er. Aber ich würde nicht immer genau nach der weißen Linie gehen, sondern ich würde beispielsweise in den letzten beiden Kurven des Red Bull Rings die Außenkante des Kerbs zur Grenze erklären und innerhalb dieser sollten sich die Autos mit allen vier Rädern aufhalten müssen.

Aber dann hättest du ja wieder das Problem mit der Einheitlichkeit, die dann nicht vorhanden wäre. Dann hat die eine Kurve die eine Regel und in der anderen wird es wieder anders ausgelegt…
Alexander Wurz: Naja, ich glaube, die Fahrer könnten sich das schon merken.

Michael Masi versuchte, die Track Limits pragmatisch auszulegen, Foto: LAT Images
Michael Masi versuchte, die Track Limits pragmatisch auszulegen, Foto: LAT Images

Aber der Zuschauer nicht zwangsläufig. Für die ist es schwer nachvollziehbar, dass in unterschiedlichen Kurven unterschiedliche Regeln gelten…
Alexander Wurz: Ja durchaus, aber das finde ich immer noch einfacher, als wenn jede Runde Strafen ausgesprochen werden und vor allem, wenn du jetzt mit den Ingenieuren sprichst: Sie tun sich insofern schwer, dass die Entscheidungen manchmal drei Minuten später und teilweise 10 Minuten später kommen. Dann tun die sich auch mit der Strategie schwerer. Weil wenn du gerade den Boxenstopp durchführen willst und kriegst dann Strafe; da fände ich es kundenfreundlicher, wenn hier in diesen kleineren sauren Apfel zu beißen und das Limit je nach Kurve anders auszulegen. Das gefiel mir bei Michael Masi eigentlich sehr gut.

Ich sage aber immer dazu: Zu einhundert Prozent müssen wir ein einfach respektieren, was der Renndirektor macht. Und wenn sich die Kultur einmal in unseren Köpfen niedergesetzt hat, dann sind wir vielleicht sowieso glücklicher damit. Ich glaube nur, dass die Teams, Sporthoheit und Fahrer vielleicht nochmal gemeinsam die Sache überdenken könnten oder schauen, was kurz- sowie mittel- und langfristig möglich ist, um die Situation zu verbessern.

Du bist Streckenexperte und kennst dich auch mit Sturzräumen und Auslaufzonen aus. Wenn man jetzt auf einmal hingeht und den Kerb miteinbezieht, änderst du dann nicht eigentlich die homologierte Rennstrecke und kommst dadurch in die Bredouille, dass die Auslaufzonen zu kurz sind?
Nur an ganz wenigen Stellen. Hier am Red Bull Ring sehe von den projizierten Linien her kein Problem. Die letzte Kurve ist sowieso relativ einfach, weil die MotoGP am Ausgang ihren eigenen Kerb lackiert. Sie gehen glaube ich drei bis vier Meter vom Formel-1-Kerb nach innen und lackieren den Kerb und fahren nur bis zu diesem. Deshalb wäre der letzte Kerb eigentlich der, der am einfachsten zu Verändern wäre, weil der sowieso nur von der Formel 1 genutzt wird.

Für Lewis Hamilton soll es teilweise unmöglich gewesen sein, auf der Strecke zu bleiben, Foto: LAT Images
Für Lewis Hamilton soll es teilweise unmöglich gewesen sein, auf der Strecke zu bleiben, Foto: LAT Images

Eine unpopuläre Lösung zum Schluss: Einfach auf dem Asphalt bleiben. Über die Hälfte der Fahrer hat es in Österreich schließlich auch ohne Strafe geschafft…
Alexander Wurz: Deshalb sage ich ja, du müsstest einfach nur respektieren, was der Renndirektor sagt. Wenn wir jetzt in die Internet-Foren schauen, da wissen wir, dass sich da vor allem die Leute mit extremen Meinungen artikulieren aber nicht wirklich die breite Fangemeinde widerspiegeln. Also ich sehe nicht so überspitzt wie so mancher im Fahrerlager hier. Vielleicht müssen wir uns hier einfach nur dran gewöhnen. Denn wie du sagst: Wenn einer mit Millionen fürs Fahren bezahlt wird, sollte man auch davon ausgehen können, dass der es schafft, sich zwischen den weißen Linien zu halten.

Gleichzeitig gilt auch: Wenn wir sehen wollen, dass der Fahrer immer zum absoluten Limit pusht und dann bestraft wird, weil er durch einen Fahrfehler richtig Zeit verliert, dann ist das authentischer als wenn Verstappen im besten Auto die ein bis zwei Zehntel in der letzten Kurve einfach liegen lässt und überhaupt keinen Fehler macht, weil er es sich im besten Auto erlauben kann. Da würde ich lieber sehen, wie er das Risiko eingeht als mit den drei Verwarnungen. Wenn man sieht, dass ihn der Kerb oder etwas Schotter querstellt, dann versteht das jeder sofort. Dann schreien wir Kommentatoren: Oh, da macht er einen Fehler. Ich möchte nicht schreien: Ah, wäre das Track Limit nicht. Da geht es eigentlich nur da drum, wie wir uns verkaufen wollen. Aber ich sehe es wie du, wir brauchen jetzt nicht aus einer Mücke einen Elefanten machen. Aber selbst für diese Aussage werde ich natürlich gerne kritisiert in vielen Foren.

Das Interview wurde noch vor dem Bekanntwerden des Aston-Martin-Protests geführt - als nur das halbe Ausmaß des Strafen-Wirrwarrs bekannt war...

Das Strafen-Chaos von Österreich in Zahlen

Insgesamt wurden im Rennen von Österreich 84 Track-Limit-Übertretungen gezählt. Das resultierte in 130 gestrichenen Runden. Die Diskrepanz rührt daher, dass in Kurve 10, der letzten Kurve, bei einem Übertreten sowohl die aktuelle als auch die darauffolgende Runde gestrichen wurden. Im Hinblick auf eine Strafe zählen nur die Übertretungen, nicht die gestrichenen Runden.

Alle Track-Limit-Vergehen aller Fahrer im Rennen:

FahrerVergehen
Ocon10
Albon9
Tsunoda9
Gasly7
Sainz6
Hamilton6
Sargeant6
De Vries6
Magnussen4
Perez3
Norris3
Piastri3
Stroll3
Hülkenberg3
Leclerc2
Bottas2
Verstappen1
Alonso1
Russell0
Zhou0

Noch im Rennen bestätigte Strafen:

FahrerVergehen #Strafe
Hamilton45 Sekunden
Tsunoda45 Sekunden
Sainz45 Sekunden
Magnussen45 Sekunden
Sargeant45 Sekunden
Albon45 Sekunden
Tsunoda710 Sekunden
Gasly45 Sekunden

Erst nach dem Rennen ergänzte Strafen:

FahrerVergehen #Strafe
Sainz510 Sekunden
Hamilton510 Sekunden
Gasly510 Sekunden
Albon510 Sekunden
Ocon45 Sekunden
Ocon510 Sekunden
Ocon95 Sekunden
Ocon1010 Sekunden
Sargeant510 Sekunden
De Vries45 Sekunden
De Vries510 Sekunden
Tsunoda95 Sekunden
Pures Chaos in der Formel 1! Warum gab es noch 12 Strafen? (09:42 Min.)