Eigentlich sollte man nach dem Österreich-Qualifying über einen tollen sportlichen Wettkampf zwischen Max Verstappen und Charles Leclerc diskutieren. Um 0,048 Sekunden verfehlte der Ferrari-Pilot die Pole nur. Stattdessen flogen im Pressekonferenzraum Wörter wie 'Idioten' oder 'Amateure' umher - und das auch noch vom Pole-Setter.

Für den Ärger des Weltmeisters gibt es 47 Gründe: Sage und Schreibe 47 Rundenzeiten wurden in der Qualifikation gestrichen, weil die Piloten die Strecke verlassen hatten. Zumeist passierte das in den Kurven neun und zehn, vereinzelt aber auch in Kurve sechs. "Wir sehen dumm aus, wie Amateure. Aber wir sind nicht alle Idioten da draußen", ärgerte sich Verstappen.

Verstappen selbst wurde eine Zeit in Q2 gestrichen, danach ging er die Sache etwas lockerer an. Diesen Luxus konnten sich andere Piloten nicht leisten - und wurden mehrfach bestraft. Red Bulls Motorsportchef Dr. Helmut Marko war nach dem Qualifying angesichts der Tracklimits-Thematik aufgebracht: "Es muss etwas anderes her, so kann es nicht weitergehen. Die Atmosphäre, die super ist, wird zerstört."

Wittich hält sich an Regeln, Masi mit Eigeninterpretation

Nirgends im Kalender ist die Tracklimits-Diskussion so schlimm wie auf dem Red Bull Ring. Seit Jahren gibt es die Problematik, seit 2022 wurde sie allerdings noch deutlich verschärft. 2021 gab es bei den zwei Grands Prix in Spielberg insgesamt elf gestrichene Rundenzeiten in den beiden Qualifikationen. 2022 waren es 17, in diesem Jahr besagte 47.

Michael Masi versuchte es mit gesundem Menschenverstand - und sorgte für Wirrwarr, Foto: LAT Images
Michael Masi versuchte es mit gesundem Menschenverstand - und sorgte für Wirrwarr, Foto: LAT Images

Das liegt am neuen Rennleiter. Niels Wittich hat eine andere Herangehensweise als Vorgänger Michael Masi. Wittich legt das Reglement so aus, wie es ist: Er zieht die weiße Linie als Streckenbegrenzung heran. Masi versuchte es mit gesundem Menschenverstand. Der allerdings funktioniert in der Formel 1 selten. Masi machte für verschiedene Kurven verschiedene Regeln.

In den letzten beiden Kurven des Red Bull Rings funktionierte Masis Herangehensweise. Der Australier vergrößerte die Rennstrecke künstlich, indem er die Kerbs zur Strecke selbst zählte. Die weiße Linie verläuft eigentlich zwischen Asphalt und Kerbs. Durch das Überfahren der Kerbs bekam die Piloten Rückmeldung und konnten sich besser orientieren.

Die weiße Linie als solche ist für die Piloten schwer zu sehen. Vor allem mit der neuen Fahrzeuggeneration. Die größeren Reifen und die Kotflügel rauben Sicht. Deshalb wurde mancherorts die weiße Linie verbreitert. "Das fand ich gut, das sollten wir hier auch probieren", meint Charles Leclerc.

Ob es der Weisheit letzter Schluss wäre, sei dahingestellt. Speziell in den beiden Zielkurven kommen noch andere Probleme für die Piloten hinzu. Am Ende der Runde überhitzen die Reifen bereits. "Dadurch rutscht man mehr", führt Verstappen als eine Erklärung für die vielen Vergehen an. "Dazu eine Kompression in Kurve zehn, das macht es noch schwieriger."

System Masi: Regel-Wirrwar vs. Gesunder Menschenverstand

Doch warum geht man nicht einfach wieder zurück zum Masi-System und bezieht die Kerbs mit ein? Die Flut an gestrichenen Runden mag lästig sein, aber sie ist verständlich. Beim System Masi gab es zwei Probleme: Vor allem die Fans blickten nicht mehr durch, in welchen Kurven was erlaubt war. In einer Kurve galt die weiße Linie, in einer anderen der Kerb als Tracklimit. Auf jeder Rennstrecke musste neu gelernt werden, welche Regel für welche Kurve galt.

Zusätzlich zum Irrsinn hat die FIA noch andere Bedenken. Die Auslaufzonen und Streckenbegrenzungen werden nach Geschwindigkeitsprofilen erstellt. Ändert man die Tracklimits, ändern sich Ideallinien und Geschwindigkeiten. Einen extremen Auswuchs sieht man, wenn IndyCars auf dem Circuit of the Americas fahren. In der vorletzten Kurve fahren die Autos dort komplett durch die Auslaufzone. Man muss nicht Vorsitzender der Circuit Comission der FIA sein, um zu verstehen, dass das nicht im Sinne der Streckensicherheit ist.

MotoGP vermasselt Formel-1-Kiesbetten

Auch die MotoGP fährt auf dem Red Bull Ring, Foto: Joerg Mitter Red Bull Ring
Auch die MotoGP fährt auf dem Red Bull Ring, Foto: Joerg Mitter Red Bull Ring

Ursprung aller Tracklimits-Diskussionen sind aber die Strecken selbst. Mit Kiesbett gäbe es die Diskussionen erst gar nicht. Dabei gibt es am Red Bull Ring sogar Kiesbetten - und sogar dort gab es vereinzelt Probleme mit den Begrenzungen.

Das Problem am Red Bull Ring ist die hohe Auslastung der Strecke. Die Formel 1 muss sich den Kurs über das Jahr hinweg noch mit diversen anderen Rennserien teilen, allen voran mit der MotoGP. Eigentlich mögen die Motorradfahrer Kiesbetten, aber nicht direkt neben der Strecke. Denn dann würden schon die kleinsten Fehler mit brutalen Stürzen bestraft. Also gibt es Asphaltstreifen zwischen Kerbs und Kiesbetten.

Die Wurst-Kerbs sorgten einst für großen Ärger bei Fahrer und Teams, Foto: Motorsport-Magazin.com
Die Wurst-Kerbs sorgten einst für großen Ärger bei Fahrer und Teams, Foto: Motorsport-Magazin.com

Vor einigen Jahren versuchte man die Tracklimits noch mit hohen Wurstkerbs zu regeln. Fahrer und Teams fluchten aber aufgrund der hohen Reparaturkosten an ihren Autos. Also wurden die Kerbs entfernt. Generell höhere Kerbs, die den Fahren besseres Feedback geben, sind wiederum ein Problem für die MotoGP. Deshalb gibt es am Red Bull Ring sogenannte negative Kerbs. Die Strecke fällt hinter der weißen Linie leicht ab.

Die negativen Kerbs sind nicht besonders aggressiv, Foto: Motorsport-Magazin.com
Die negativen Kerbs sind nicht besonders aggressiv, Foto: Motorsport-Magazin.com

Dass ausgerechnet Red Bull so poltert, ist überraschend. Schließlich ist man in Spielberg Hausherr. "Man muss einen Kompromiss finden, aber die Formel 1 hat sicher Priorität", fordert Marko. Die Strecke ist die eine Sache, die Überwachung eine andere. "Wir wussten nicht, ob unsere Runde gestrichen wird und deshalb sind wir sicherheitshalber mit einem frischen Satz noch einmal rausgegangen", ärgerte sich Carlos Sainz.

Den Zusatz-Versuch hätte es nicht gebraucht, die Runde war gültig. Doch der Zusatz-Satz war bereits angefahren. Sainz hat deshalb keinen frischen Satz für die Samstags-Qualifikation übrig. Warum aber dauert es, bis ein Verstoß aktenkundig ist?

Tracklimit-Verstöße müssen bildlich belegt werden

Am Red Bull Ring gibt es in den Kurven neun und zehn elektronische Schleifen. Aber die Schleifen geben nur Anhaltspunkte. Weil sich Linien auch über Jahre hinweg ändern, müsste man für alle Eventualitäten kleine Krater in die Auslaufzone fräsen, um die Schleifen zu verlegen.

Wenn die Schleifen Vergehen melden, wird die Rennleitung an der Strecke und im Genfer Keller aktiv und prüft das Bildmaterial. Zusätzlich helfen Richter an der Strecke, Verstöße zu melden. Meldungen und Prüfung können - vor allem wenn es viele Fälle gibt - etwas Zeit in Anspruch nehmen.

Dass das System nicht perfekt ist, weiß auch die FIA. Eine Patentlösung hat jedoch noch niemand gefunden. Die Fahrer loben den Regelhüter. "Man hört uns nun mehr zu", meint Sainz. Erst am Donnerstagabend gab es ein Treffen mit allen 20 Fahrern, Rennleiter Niels Wittich und Sportdirektor Steve Nielsen. Dabei ging es um Änderungen an Rennstrecken. Die Fahrer wurden über Änderungen in dieser Saison informiert, Feedback eingeholt. Derlei Meetings sollen nun in unregelmäßigen Abständen abgehalten werden. Den ganzen Sprint-Tag der Formel 1 heute in Österreich gibt es hier im Liveticker.