Nur zwei Rennen nach dem Europa-Auftakt verabschiedet sich die Formel 1 schon wieder von ihrem Mutterkontinent. Aber nur für einen kurzen Abstecher. In Montréal steht der Kanada GP auf dem Programm. Nach der Ferrari-Gala in Monaco geht die Scuderia erstmals in dieser Saison nicht nur als Mit-, sondern als leichter Favorit in den siebten Saisonlauf auf dem Circuit Gilles Villeneuve.

Völlige Chancenlosigkeit, Ultasoft-Rätsel und Reifen-Arbeitsfenster hin oder her, darf man einem Team wie Mercedes aber nie zusprechen. Und so gibt es erneut vier Siegkandidaten auf der Île Notre Dame. Motorsport-Magazin.com blickt auf das Favoriten-Quartett.

Sebastian Vettel: WM-Flucht nach vorne?

Seit dem ersten Rennen in Melbourne führt Sebastian Vettel die Fahrer-WM der Formel 1 ununterbrochen an. Durch seinen Sieg beim vergangenen Grand Prix in Monaco und ein schwaches Abschneiden von Lewis Hamilton (P7) ist Vettels Vorsprung auf seinen schärfsten Verfolger vor dem Kanada GP allerdings so groß wie. 25 Punkte liegt der Deutsche vor dem Briten. Weil Vettel bereits einen Sieg mehr auf dem Konto hat und auch bei den zweiten Plätzen vorne liegt, wird der Ferrari-Pilot den Platz an der Sonne in Kanada nicht abgegeben können - egal, was geschieht.

Tanzt Neu-Ägypter Vettel auch in Kanada?, Foto: Sutton
Tanzt Neu-Ägypter Vettel auch in Kanada?, Foto: Sutton

Doch warum damit abfinden? Die Chancen stehen ausgesprochen gut, dass Vettel sein Polster auf dem Circuit Gilles Villeneuve nicht verwalten muss, sondern noch einmal ausbauen kann. Aktuell schlägt das Formpendel klar in Richtung Ferrari aus. In Monaco setzte Mercedes keinen Stich gegen die Scuderia. Zuvor in Spanien hatte das zwar anders ausgesehen, doch gab es in Barcelona ganz andere Reifen. In Kanada bringt Pirelli allerdings die gleichen, maximal weichen, Pneus wie in Monaco. Und die schmecken dem Ferrari einfach richtig gut, viel besser, schneller und konstanter als Mercedes bringen die Roten die Verbindung zum Asphalt auf Speed.

Und Sebastian Vettel? Ist jetzt sowieso on fire! Spätestens seit dem für Ferrari historischen Triumph in Monaco. "Es ist sehr, sehr besonders hier zu gewinnen. Wir werden heute Nacht feiern und dann haben wir genug Zeit uns auf Kanada vorzubereiten", sagte ein entspannter Vettel in Monaco. Dort sei er durchaus guten Mutes, die starke Form zu bestätigen. Aber: "Kanada ist aber ein ganz andere Strecke", weiß Vettel. Tatsächlich erreichen die Boliden in Montréal gleich vier Mal mehr als 300 km/h, in Monaco nie. Doch muss Vettel darüber keine ersten Sorgen machen. Der SF70H ist ein Allround-Auto.

Wissenswertes über den Kanada GP (01:06 Min.)

Nur einen wirklichen Fallstrick gibt es in puncto Favoriten-Rolle: Die Turbo-Situation. Bereits jetzt operiert Ferrari am Vettel-Auto am Limit. Muss oder will man eine neue Einheit in Umlauf bringen macht das im überholfreundlichen Kanada mehr Sinn als im engen Baku zwei Wochen später.

Kimi Räikkönen: Iceman mit Wut im Bauch?

Nur einen Fallstrick? Vielleicht sind es auch zwei. Denn Mercedes ist nicht länger Vettels einziger Gegner. Teamkollege Kimi Räikkönen kommt 2017 immer besser in Fahrt. In Monaco schnappte der Finne dem Deutschen sogar die Pole Position weg, führte das Rennen lange Zeit an. Nur durch einen ungewöhnlichen Overcut, eine mögliche Stallorder, kam Vettel vorbei am Iceman. Entsprechend bedient, ja verärgert, schaute Räikkönen auf dem Podium drein. Die Gefahr: Wenn selbst ein Iceman wütend wird, was passiert dann erst, wenn er diese Wut wieder entlädt? Fährt Kimi Räikkönen in Kanada mit Wut im Bauch groß auf?

Treibt ein starker Kimi Räikkönen Lewis Hamilton zur Verzweiflung?, Foto: Sutton
Treibt ein starker Kimi Räikkönen Lewis Hamilton zur Verzweiflung?, Foto: Sutton

Auszuschließen ist es jedenfalls nicht, auch die Kanada-Bilanz des Finnen ist in etwa gleichzusetzen mit jener Vettels. Doch kann ein starker Räikkönen für Vettel genauso gut Segen sein: Sollte beim WM-Leader tatsächlich der Worst Case Startplatzstrafe in Sachen Turbo eintreten wäre für Ferrari und Vettel diesmal nichts willkommener als der erste Räikkönen-Sieg seit 2013. So würde der Finne den Mercedes-Piloten jede Menge wertvoller Punkte rauben während Vettel Schadensbegrenzung betreibt.

Valtteri Bottas: Wieder Mercedes' Speerspitze?

Damit nicht genug der finnischen Gefahren für Vettel. Nicht zu unterschätzen ist in Kanada auch Valtteri Bottas. Zwar ist Lewis Hamilton mit großem Abstand der absolute Kanada-Spezialist im aktuellen Feld, doch weiß auch sein Teamkollege, wie man in Montréal zumindest auf das Podium fährt. Doch 2017 will Bottas mehr, will den Sieg. Seine WM-Ambition hat der Finne alles andere als aufgegeben. In Monaco ärgerte sich Bottas nicht nur wegen der finnischen Brille auf der Nase, dass Räikkönen den Sieg verpasst hatte. "Natürlich hätte ich ihn bevorzugt, auch wegen der Punkte", stellte Bottas seine Absichten kurz und knackig dar.

Noch dazu taucht der Name Bottas in diesem Check nicht zufällig vor Vettels eigentlich schärfstem Konkurrenten auf. Anders als Lewis Hamilton plagen die Ultrasofts den Finnen nicht maximal. Und wieder befindet sich der Ultrasoft in Pirellis Kanada-Angebot."Es wird schwer mit den Reifen", fürchtet Hamilton bereits. Ideal läuft es auf den weichsten Reifen zwar auch bei Bottas nicht, doch noch immer um Klassen besser als beim Briten: Sowohl in Sochi als auch Monaco hatte der Finne klar die Nase vorne - beide Male war der Ultrasoft beteiligt. Auch Bottas' starker Einstand in Australien ließe sich so erklären.

Valtteri Bottas könnte wegen der ultraweichen Reifenwahl für Kanada zur Mercedes-Speerspitze werden, Foto: Sutton
Valtteri Bottas könnte wegen der ultraweichen Reifenwahl für Kanada zur Mercedes-Speerspitze werden, Foto: Sutton

In Bahrain, China und Spanien dagegen hatte Hamilton bei Mercedes die Hosen an - jeweils ohne ultrasofte Reifen im Sortiment. Setzt sich diese Konstante fort, heißt die Mercedes-Speerspitze in Kanada Bottas, nicht Hamilton. Auch, wenn das aus Sicht des WM-Standes wenig Sinn ergibt.

Lewis Hamilton: Endgegner Ultrasoft?

Reifen, Reifen, Reifen und die Farbe Lila - etwas anderes wird Lewis Hamilton kaum durch den Kopf schwirren, denkt der dreifache Weltmeister an das kommende Kanada-Wochenende. Nicht einmal im Ansatz kommt Hamilton mit dem weichsten Reifen von Pirelli zurecht. In Russland war er zwar langsamer als Bottas, qualifizierte sich jedoch zumindest noch passabel. Ganz anders in Monaco als Hamilton sogar das Q3 verpasste! Auch im Rennen nahm der Brite erst nach Wechsel auf Supersoft richtig Pace auf.

Entsprechend groß sind die Sorgen, dass es in Kanada nahtlos so weitergeht. "Es sind so viele Sachen, die wir anschauen müssen um zu verstehen, warum es bei dem einen Auto klappt und beim anderen nicht", zweifelt Hamilton daran, das Rätsel schnell und vollständig zu lösen. "Ich hoffe aber sehr, dass wir das in den Griff kriegen. Wenn wir den Ultrasoft verstehen, sind wir in einer viel besseren Position, um anzugreifen".

Ultrasoft-Opfer Lewis Hamilton musste in Monaco ungewöhnliche Schlachten schlagen, Foto: Mercedes-Benz
Ultrasoft-Opfer Lewis Hamilton musste in Monaco ungewöhnliche Schlachten schlagen, Foto: Mercedes-Benz

Genau hier liegt die Gefahr für die anderen drei Piloten des Favoriten-Quartetts. Legt Mercedes mit Hamilton den Reifenschalter erst einmal um, wird der Brite sofort wieder da sein, an die Spitze des Favoritenzettels schießen. Verlernt, ein F1-Auto brutal schnell um die Ecke zu schmeißen, hat Hamilton sicher nicht von Heute auf Morgen. Gerade in Kanada: Fünf Siege hat Hamilton dort bereits gesammelt, niemand im aktuellen Feld kann dem Briten in Montréal auch nur ein Tröpfchen Wasser reichen. Das kann nur Michael Schumacher.

Mögliche Überraschungskandidaten

Fehlanzeige. Anders als in Monaco bleibt diese Rubrik in Kanada wieder leer. Auf dem Vollgas-Straßenkurs in Montréal zählt Red Bull Racing nicht mehr zum potentiell engen Favoritenkreis, zumal das zwischenzeitlich einmal für Kanada angekündigte Renault-Upgrade nun doch nicht kommt, auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Andere (Mit-)Favoriten? Höchstens im extrem erweiterten Kreis. Läuft alles normal haben Force India, Toro Rosso, Renault und Co. jedoch nicht annähernd eine Chance, die großen Vier auch nur zu ärgern.