Nach dem Sieg in Russland gönnte sich Lewis Hamilton einen Moment der Ruhe. Fast schon andächtig kniete der Weltmeister vor seinem Mercedes-Silberpfeil. In diesem Augenblick dürfte ihm bewusst geworden sein: Das Ding ist durch, jetzt kann mich nur noch der Blitz vom Titelgewinn abhalten…

Den ersten Titel hat Mercedes in Russland bereits einsackt, der nächste könnte schon bald folgen. Nach dem Gewinn der Konstrukteurs-Meisterschaft befindet sich Hamilton auf dem besten Wege, den Fahrer-Titel vorzeitig perfekt zu machen. Der Sieg in Sochi war ein riesiger Schritt in Richtung erfolgreicher Titelverteidigung. Vor dem nächsten Rennen in den USA ist die Rechnung simpel. Hamilton muss neun Punkte mehr holen als Sebastian Vettel beziehungsweise zwei Zähler mehr als Teamkollege Nico Rosberg – dann triumphiert Hamilton drei Rennen vor Schluss.

Hamilton bedankt sich für das beste Auto seiner F1-Karriere, Foto: Sutton
Hamilton bedankt sich für das beste Auto seiner F1-Karriere, Foto: Sutton

Hamilton hat nur ein Ziel

Trotz seiner immer weiter ansteigenden Extrovertiertheit besann sich Hamilton nach dem neunten Saisonsieg auf die üblichen Phrasen. "Ich hatte nie das Gefühl, dass schon alles durch ist", sagte er. "Es gibt immer noch viele Punkte zu holen." 302 Punkte hat der Brite schon auf dem Konto. Vettel, ab jetzt sein engster Verfolger, konnte 236 Zähler sammeln. Die 66 Punkte Vorsprung dürften Hamilton trotz jeglicher Eigen-Mahnung gut schlafen lassen.

"Das Ziel ist, den dritten Titel zu gewinnen", ließ er sich immerhin entlocken. "Bis ich das erreicht habe, gibt es kein anderes Ziel." Auf der anderen Seite der Garage war die Stimmung hingegen gedrückt. Bis zur zweiten Kurve deutete alles darauf hin, dass Rosberg seinem perfekten Wochenende in Sochi die Krone aufsetzen würde. Ein defektes Gaspedal zerstörte jedoch früh jegliche Hoffnungen, Hamilton im Titelkampf noch abfangen zu können.

Für Hamilton ist der WM-Gewinn zum Greifen nah, Foto: Sutton
Für Hamilton ist der WM-Gewinn zum Greifen nah, Foto: Sutton

Unstimmigkeit bei Mercedes

In der Weltmeisterschaft ist der Pechvogel nun sogar auf den dritten Platz zurückgefallen. Sieben Punkte Rückstand auf den Zweitplatzierten Vettel – der nächste Dämpfer. "Ich bin sicher, dass er in den 2016er Modus umschaltet und dann zurückschlägt", wollte ihn Toto Wolff aufbauen. Die Aussage des Mercedes-Teamchefs klang jedoch wie eine vorzeitige Entscheidung um die Weltmeisterschaft.

Das wollte Rosberg so nicht auf sich sitzen lassen. Von wegen: Saison abgehakt. "Nein, daran denke ich jetzt gar nicht", entgegnete er auf Nachfrage von Motorsport-Magazin.com. "Es sind noch vier Rennen, und die möchte ich gewinnen. Darauf liegt jetzt der Fokus." Also weiter volle Attacke, auch wenn vom Titelsieg inzwischen keine Rede mehr ist. Rosberg: "Ich muss realistisch sein. Es sind viele Punkte. Mit Blick darauf ist es natürlich enttäuschend, weil ich die Lücke zu Lewis schließen wollte."

Seuchenjahr für Rosberg

Es wird wohl kaum jemand bestreiten, dass Hamilton den WM-Titel verdient. Zu dominant trat der zweifache Champion in dieser Saison auf. Selbst im Qualifying ließ er Rosberg nur selten eine Chance. Pluspunkt für den Deutschen: Beim Saisonfinale war er häufig vom Pech verfolgt, immer wieder ging etwas schief. "Ich hatte das Gefühl, dass es ein Seuchenjahr ist", antwortete Rosberg auf die Frage von Motorsport-Magazin.com nach dem ersten Gefühl infolge des Russland-Ausfalls. "Ich hatte so viele Probleme in der Zeit, in der ich attackieren sollte."

Am Montag nach dem Rennen feiert Mercedes die große WM-Party im Teamsitz von Brackley. Man kann sich vorstellen, in welcher Stimmung Rosberg sein wird. Sein Frust über den wohl verlorenen Fahrertitel dürfte überwiegen. Es wäre menschlich. "Das ist bei mir kein Problem, weiter geht´s", antwortete er professionell auf die Frage nach der Motivation für die kommenden Rennen. "In Texas will ich wieder auf Sieg fahren. Morgen ist es wieder okay, wenn ich meine Familie sehe." Und doch wird die Mercedes-Führungsebene nun noch mehr bemüht sein, Rosberg Rückhalt zu geben und die gute Stimmung innerhalb der Mannschaft aufrechtzuerhalten.

Mercedes feiert den Gewinn des Konstrukteur-Titels, Foto: Sutton
Mercedes feiert den Gewinn des Konstrukteur-Titels, Foto: Sutton

Lauda entschuldigt sich

Einen solchen Schritt kündigte Niki Lauda bereits im Interview mit Motorsport-Magazin.com an. "Ich werde mich bei ihm entschuldigen, das mache ich sowieso immer, für das ganze Team und die ganze Verantwortung", so der Mercedes-Aufsichtsratsvorsitzende. "Mehr kann man momentan leider nicht machen. Aber er ist Rennfahrer und weiß, dass solche Dinge passieren können."

Von Wolff gab es unterdessen Lob für Rosbergs Professionalität trotz der bitteren Niederlage: "Ich muss meinen Hut davor ziehen, wie er die Situation handhabt. Er ist ruhig geblieben. Diese Jungs sind ihr ganzes Leben lang im Motorsport unterwegs. Sie haben Rennen gewonnen und verloren, haben Meisterschaften gewonnen und verloren. Der Grund, warum sie jetzt hier sind, ist, dass sie starke Charaktere und starke Persönlichkeiten sind. Es tut mir leid für Nico, aber er kommt wieder zurück."

Schnappt sich Vettel die Vize-Weltmeisterschaft im Schlussspurt?, Foto: Sutton
Schnappt sich Vettel die Vize-Weltmeisterschaft im Schlussspurt?, Foto: Sutton

Vettel wittert seine Chance

Eine andere Wahl wird er auch nicht haben. Sollte Rosberg die Vize-Weltmeisterschaft im Endspurt an Landsmann Vettel verlieren, wäre die Pleite perfekt – egal, wie unwichtig der zweite Gesamtplatz erscheinen mag. Alles andere als ein Doppelsieg der dominanten Silberpfeile wäre eine Enttäuschung.

Das Ferrari-Lager dürfte mit Interesse in Richtung Mercedes blicken. Für die Scuderia wäre die Vize-WM auf Anhieb ein großer Erfolg. "Wir müssen bescheiden bleiben und uns von einem zum nächsten Rennen konzentrieren", sagte Ferrari-Teamchef Maurizio Arrivabene. "Und dann werden wir sehen."