Machen wir uns nichts vor: für die Urgesteine des Motorsports sind Simulationen oder Spiele für PC beziehungsweise Konsole nur Zeitverschwendung und keinesfalls repräsentativ für die fahrerischen Fähigkeiten eines Piloten in der Realität. Und wer sich für die virtuelle Welt nicht begeistern kann, verkennt ihr Potential. Wohl auch deshalb verpasste es die Formel 1 unter Bernie Ecclestone für lange Zeit, auf den selbst während seiner Regentschaft bereits boomenden eSports-Zug aufzuspringen. Seit dem kommerziellen Machtwechsel hat sich jedoch einiges geändert - auf und abseits der echten Rennstrecken. Im Jahr 2019 ist die Königklasse längst in der virtuellen Welt angekommen.

Mit Max Verstappen und Lando Norris stehen mittlerweile zwei eingefleischte Simracer im Grid, die zwischen den Rennen regelmäßig gegen- oder auch miteinander virtuell Rennen fahren. Verstappen weiß genau, welche Vorteile das virtuelle Racing für einen Rennfahrer mit sich bringt. "Du versuchst immer, das Beste herauszuholen. Du versuchst, die beste Runde hinzubekommen und am Setup zu arbeiten, um schneller zu werden. Du schaust dir Onboards an, wertest Daten aus, alles, um einfach noch mehr herauszuholen. Du machst genau dasselbe, nur ohne die G-Kräfte", so der siebenmalige Grand-Prix-Sieger.

Interview: Wie werde ich F1 Esports Profi? (25:27 Min.)

Keine Sportart lässt sich virtuell so realitätsnah abbilden wie der Automobilrennsport. Doch während andere Computerspiel-Genres längst bezahlte Pro-Gamer hervorbrachten, dauerte es in der Formel 1 bis zur Übernahme durch Liberty Media. Die US-Amerikaner erkannten 2017 sofort das kommerzielle Potential dieses Geschäftszweiges und schufen die Formula One Esports Series, mit dem offiziell lizensierten F1-Spiel aus dem Hause Codemasters als Plattform. Bereits in der ersten Saison nahmen über 60.000 Gamer am Wettbewerb teil. Und was als vorsichtiger Einstieg der F1 ins eSports-Business begann, ist mittlerweile ein knallhartes Profi-Geschäft.

Alle Formel-1-Teams im eSports vertreten

In der Saison 2019 ging es um einen Preisgeldtopf in Höhe von 500.000 US-Dollar. 2018 stiegen alle Teams bis auf Ferrari in die Esports Series ein. Die virtuellen Cockpits bei Mercedes, Red Bull & Co. sind mittlerweile fast genauso hart umkämpft wie ihre realen Pendants. Aus den über 60.000 Teilnehmern der drei online ausgetragenen Hotlap-Events werden die 30 schnellsten für den Pro Draft ausgewählt. In diesem bedienen sich die Teams, um ihre Fahrerpaarungen zusammenzustellen. Zusätzlich landen sechs Piloten der Vorsaison sowie sechs Wildcards im Pro-Draft, um eines der begehrten Stammcockpits zu ergattern - und von diesen sind längst nicht alle zu haben.

Etablierte Piloten verfügen wie ihre realen Vorbilder über bezahlte Profi-Verträge. Brandon Leigh, seines Zeichens Champion der Saisons 2017 und 2018, ist seit seinem zweiten Jahr bei Mercedes unter Vertrag. Doch nicht nur der virtuelle Lewis Hamilton ist eine feste Größe. Mit Marcel Kiefer zählt auch ein Deutscher zu den Top-Piloten.

Der 20-Jährige wurde 2018 beim Pro Draft von Force India verpflichtet und schloss seine Debütsaison für die Pinken als Fünfter ab. Beim Nachfolger Racing Point hat er in diesem Jahr seine zweite Saison bestritten und auf Platz sechs abgeschlossen. Der 20-Jährige ist als Pro-Gamer angekommen - und damit auch im knallharten Profi-Alltag der Formel 1. Denn die Teams hieven auch den virtuellen Sport mit nie zuvor gesehenen Budgets auf ein ganz neues Level. Kiefer musste sein altes Leben in seiner Heimatstadt Karlsruhe für das ganz große Ziel hinter sich lassen und zum Team nach Silverstone ziehen.

"Es wird immer professioneller, denn es wird immer mehr Geld investiert. Die Teams nehmen eSports zunehmend ernst, weil dieses Business stark wächst", erklärt Kiefer, für den der Umzug nach Großbritannien der logische Weg war. "Für mich war es recht einfach, denn ich wollte diesen Schritt machen. Von Zuhause wegzugehen ist natürlich nicht einfach, auch für mich nicht. Aber ich will diesen Weg gehen." Ein Schritt, der natürlich nur dadurch möglich wurde, dass er auf diesem Weg seinen Lebensunterhalt finanzieren kann.

Kiefer stand bei verschiedenen Teams hoch im Kurs

"Ich kann definitiv davon leben und das Team übernimmt auch viele Kosten, für die ich normalerweise selbst aufkommen müsste. Das ist schon super, in welche Richtung es sich in den letzten Jahren entwickelt hat", sagt Kiefer, der es bei seinem Arbeitgeber gut erwischt hat. "Die Möglichkeit, vom eSports zu leben, hat man nicht bei allen Teams. Und die Voraussetzungen, die wir bei Racing Point haben, dass wir uns voll und ganz auf unsere Aufgabe konzentrieren können, bieten auch längst nicht alle."

Die Möglichkeit zu wechseln hätte Kiefer gehabt, doch er entschied sich zur Vertragsverlängerung mit Racing Point. "Es gab Anfragen von anderen Teams, aber ich bin froh, mit Racing Point weiterzumachen. Das war die beste Entscheidung und auch von Anfang an mein Plan. Es ist ein super Team und es fühlt sich alles sehr familiär an. Und mit den neuen Investoren habe ich hier eine gute Perspektive", erklärt er seine Entscheidung.

Die Notwendigkeit, als virtueller Profi in die Nähe des Teams zu ziehen, erschließt sich nicht jedem sofort. Schließlich kann ein Gamer auch zuhause seine Runden drehen, was zweifelsohne einer der größten Vorteile des eSports ist. Doch die Formel-1-Teams verlangen von ihren Gamern wie von den echten Piloten den maximalen Fokus auf ihren Job. "Wir sind hier in Silverstone nur aufs Fahren konzentriert, sowie auf die Verbesserung der Fitness und all die anderen Anforderungen, die das Team an uns stellt", so Kiefer. "Die Fabrik ist zu Fuß nur 25 Minuten weg. So können wir viel enger mit dem Team zusammenarbeiten."

Der Simulator für die Trainingseinheiten befindet sich im Apartment in Silverstone, in dem Kiefer mit seinen Teamkollegen lebt. "Wir haben einen Coach, der uns beim Fahren so gut wie jeden Tag über die Schulter schaut. Wenn wir Hilfe beim Setup brauchen, kann er mit seiner Erfahrung aus dem echten Motorsport helfen. Klar lässt es sich nicht immer übertragen, denn wir befinden uns ja in einem Spiel. Aber trotzdem hilft er uns damit sehr", erklärt Kiefer. In seiner ersten Saison wurden seine Trainingssessions noch per Bildschirmteilung an den Coach in UK übermittelt. Ein deutlich aufwändigerer Prozess, der durch die direkte Arbeit mit dem Trainer in einem Raum optimiert wurde.

Fitness- und Mentaltraining sind auch im eSports wichtig

Neben jeder Menge Tracktime sorgt das Team dafür, dass die Piloten physisch und mental immer in bester Verfassung sind. Kiefers Alltag hat einige Parallelen zu dem von Sergio Perez und Lance Stroll: "Wir haben auch einen Fitnesstrainer und einen Mentalcoach. Hin und wieder gibt es auch PR-Aktivitäten in der Fabrik." Im Gegensatz zu den echten F1-Piloten verbringt Kiefer aber deutlich mehr Zeit beim Fahren. Und das Pensum des virtuellen Profis ist beinahe schockierend: "Im Durchschnitt sitze ich von Montag bis Freitag täglich zehn bis zwölf Stunden im Simulator."

In Kiefers Fall ist es allerdings auch so, dass er sich das Trainingspensum selbst auferlegt. "Das Team verlangt es nicht. Aber ich bin davon überzeugt, dass ich bessere Resultate einfahre, wenn ich mehr dafür tue." Das Gefühl eines spaßigen Zeitvertreibs, das ein Videospiel dem Benutzer eigentlich vermitteln will, hat er dabei wenig überraschend nicht mehr. "Größtenteils macht es nicht besonders viel Spaß. Wenn es nicht vorwärts geht und nicht so läuft, wie man es sich vorstellt", so Kiefer.

Der Großteil seiner Anstrengungen fließt in das Verstehen des Setups, der Reifenphysik und der Strategien: "Fahrerisch verzweifle ich eher selten. Natürlich kann man immer noch mehr rausholen, aber im eSports ist das minimal. Manchmal findet man nach neun Stunden dann endlich etwas Zeit, und wenn es nur eine halbe Zehntelsekunde ist. Es kann aber auch gar nichts sein, aber dann hat man immerhin Erkenntnisse gesammelt. Es ist wichtig, immer das Positive zu sehen."

Dass er sich für den Erfolg quälen muss, gehört für ihn dazu: "Das ist wie in jedem anderen Sport auch. Man stößt an seine Grenzen und muss diese überwinden, um zu wachsen. Aber wenn dieser Punkt erreicht ist, fühlt es sich gut an und macht Spaß. Danach kommt wieder der Punkt der Frustration und dann wiederholt es sich. Es ist ein ewiger Kreislauf. Und für mich ist es auch kein Spiel mehr, sondern eine Berufung." Für ihn eine weitere Parallele zur realen Formel 1. "Bis man dorthin kommt, ist alles spaßig, aber dann wird es ernst."

"Ich wäre gerne der erste Fahrer, der es vom eSports bis in die echte Formel 1 schafft. Ich werde dafür natürlich alles geben", sagt Kiefer. Doch ob beim Streben nach der realen Karriere oder dem virtuellen Fahrertitel, auch ihn holt am Ende wieder die Realität des Business ein. Denn an oberster Stelle steht wie in der Formel 1 das Teamergebnis, und das aus demselben Grund: das Preisgeld wird nur an die Rennställe ausgeschüttet. Kiefer weiß, dass er seinen Job für den Arbeitgeber zu erledigen hat. "Das hat oberste Priorität."

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