Die Strafe stand schon fest: 100 Millionen Dollar Geldstrafe und der Abzug aller Konstrukteurspunkte. Einen Tag nach der Verhandlung wurde die Urteilsbegründung der FIA mindestens mit genauso viel Spannung erwartet wie zuvor das Strafmaß selbst. Wie kam der World Motor Sport Council zu diesem harten Urteil, wo er doch vor wenigen Wochen noch keine Strafen aussprechen wollte?

Rückblende: Am 26. Juli tagte der WMSC schon einmal in Spionagesachen. Damals kam man zu dem Schluss, dass McLaren im Besitz von technischen Dokumenten war, mit denen man unter anderem ein Ferrari F1-Auto "testen, designen, bauen und entwickeln" könnte. Allerdings konnte das Team den WMSC davon überzeugen, dass dies eine Einzeltat des mittlerweile entlassenen Designers Mike Coughlan gewesen sei und die Informationen niemand anderes kannte und sie nicht verwendet wurden. Deshalb sprach man beim ersten Meeting, obwohl man es gekonnt hätte, keine Strafe aus. Nachdem neue Beweise auftauchten, deren Herkunft noch nicht geklärt ist, sieht das WMSC die Sachlage anders.

Die meisten dieser Beweise sind E-Mails und SMS zwischen Pedro de la Rosa, Fernando Alonso und Mike Coughlan sowie Telefongespräche zwischen Coughlan und Nigel Stepney. Zu diesem Zweck erhielt die FIA von Ferrari Informationen über telefonische Kontakte zwischen Coughlan und Stepney, die von der italienischen Polizei stammen. Insgesamt sollen zwischen dem 11. März und 3. Juli 288 SMS und 35 Anrufe zwischen Coughlan und Stepney stattgefunden haben.

Der Pariser Rummel danach., Foto: Sutton
Der Pariser Rummel danach., Foto: Sutton

Während der Inhalt dieser Gespräche unbekannt bleibt, legte die FIA E-Mailwechsel zwischen den beiden spanischen Fahrern im Wortlaut vor. Am 21. März schrieb de la Rosa an Coughlan: "Hi Mike, kannst Du mir die Gewichtsverteilung des roten Autos mitteilen? Das wäre wichtig für uns, damit wir es im Simulator ausprobieren können. Danke im Voraus, Pedro. P.S.: Ich bin morgen im Simulator." De la Rosa bestätigte dem WMSC, dass Coughlan ihm in seiner Antwort präzise Daten über die Gewichtsverteilung des Ferrari übermittelte.

In der Folge sandte de la Rosa eine E-Mail an Fernando Alonso, in der er seinem Landsmann die Gewichtsverteilung des Ferrari für den Australien GP bis auf zwei Dezimalstellen nannte. Alonso antwortete in einer Mail, dass ihn diese Gewichtsverteilung "überrasche, ich weiß nicht, ob es 100% zuverlässig ist, aber es lässt zumindest einige Schlüsse zu." De la Rosa antwortete: "Alle Informationen von Ferrari sind äußerst zuverlässig. Sie stammen von Nigel Stepney, ihr ehemaliger Chefmechaniker - ich weiß nicht, welche Position er jetzt hat. Er hat uns auch in Australien gesagt, dass Kimi in Runde 18 stoppen würde. Er ist ein Freund von Mike Coughlan, unserem Chefdesigner, und hat ihm das gesagt."

Der besagte Simulatortest fand nicht statt, da die Gewichtsverteilung des McLaren zu anders ist. Allerdings glaubt der WMSC dem Team nicht, dass de la Rosa so eine Entscheidung alleine und ohne Rücksprache mit dem Team treffen würde. Das bestätigte auch Chefingenieur Paddy Lowe, der betonte, dass so eine Entscheidung normalerweise eine Vielzahl an Ingenieuren betrifft. "Es erscheint sehr unwahrscheinlich, dass so eine Entscheidung von einem Testfahrer auf eigene Faust getroffen wird", schlussfolgert der WMSC. In weiteren E-Mailwechseln wird dargelegt, dass Alonso, Coughlan und de la Rosa Informationen über das Ferrari-Bremssystem, ein bestimmtes Gas, welches Ferrari angeblich den Reifen zuführt, um Blasenbildung zu verhindern, Flexi-Wings und die Aero-Balance des Ferrari ausgetauscht haben. Dabei soll Coughlan gesagt haben, dass man "etwas ähnliches" selbst anschaue - gemeint ist das Bremssystem des Ferrari.

"Diese Aussage legt nahe, dass das McLaren-System auf dem Detailwissen des Ferrari-Systems aufbaut", heißt es in der Urteilsbegründung der FIA. "Selbst wenn es also keine direkte Kopie des Ferrari-Systems ist, ist es von Vorteil das System mit diesem Wissen zu designen." Der WMSC geht deshalb, entgegen seiner ersten Annahme im Juli, davon aus, dass durchaus Wissen aus den Ferrari-Dokumenten in den McLaren eingeflossen ist. Diese Annahme wird dadurch gestärkt, dass der WMSC die Rolle von Coughlan nicht mehr nur als nebensächlich betrachtet, wie es McLaren im ersten Meeting betonte. "Die neuen Beweise zeigen, dass Coughlan vielleicht eine aktivere Rolle im Design des McLaren-Autos hatte, als das bislang vom WMSC angenommen wurde."

McLaren hat das Recht auf Berufung., Foto: FIA
McLaren hat das Recht auf Berufung., Foto: FIA

Dennoch muss der WMSC in der Urteilsbegründung zugeben: "Dem WMSC liegen keine Beweise vor, dass ein komplettes Ferrari-Design kopiert und in das McLaren-Auto eingebaut wurde. Allerdings ist es schwierig zu akzeptieren, dass die geheimen Ferrari-Informationen nie die Ausübung von Coughlans Arbeit beeinflusst haben." So könnte Coughlan mit seinem Wissen die Auswahl von Entwicklungsprojekten bewusst beeinflusst haben. "Das kann soweit gehen, dass Coughlan alternative Designwege vorschlagen konnte." Beweise dafür konnte der WMSC nicht vorlegen.

Aus diesem Grund betonte McLaren, dass der WMSC keine Strafe aussprechen könne, ohne eine "tatsächliche Benutzung" nachzuweisen. "Diese Annahme lehnt der WMSC ab." Der WMSC müsse nicht beweisen, dass Informationen, die sich im unerlaubten Besitz des Teams befanden, dem Team einen bestimmten sportlichen Vorteil verschafft haben. Der WMSC dürfe den Besitz der Informationen eines anderen Teams als Verstoß ansehen und dementsprechend bestrafen.

Aufgrund der neuen Beweise akzeptiere der WMSC nicht mehr, dass Coughlan alleine gehandelt habe. "Der Fall mag durch die Aktionen eines einzelnen schurkischen McLaren-Mitarbeiters ohne das Wissen von McLaren entstanden sein, aber jetzt sind Beweise vorhanden, die zeigen, dass...

  • Coughlan mehr Informationen hatte, als bislang angenommen wurde und das auf systematische Art und Weise über mehrere Monate hinweg;
  • die Information zumindest zu einem gewissen Grad innerhalb des McLaren Teams verbreitet wurde (z.B. die Herren de la Rosa und Alonso);
  • die verbreiteten Informationen nicht nur höchstsensible technische Informationen enthielten, sondern auch geheime Informationen über Ferraris Strategie;
  • Herr de la Rosa in seiner Funktion als McLaren-Mitarbeiter geheime Ferrari-Informationen verlangte und erhielt von einer Quelle, von der er wusste, dass sie unerlaubt in den Besitz der Informationen gekommen ist, und diese Informationen zum Zweck eines Simulatortests wollte;
  • die geheime Information mit Herrn Alonso geteilt wurde;
  • es eine eindeutige Absicht einiger McLaren-Mitarbeiter gab, einige der vertraulichen Ferrari Informationen in eigenen Tests zu verwenden. Sollte das nicht umgesetzt worden sein, so lag dies nur daran, dass es technische Gründe gab, es nicht zu tun;
  • Coughlans Rolle innerhalb von McLaren (wie sie jetzt vom WMSC angesehen wird) ihn in eine Position gebracht hat, in der sein Wissen über die geheimen Ferrari-Informationen die Ausübung seiner Arbeit beeinflusst haben könnte.

Daraus schlussfolgert der WMSC: "Es scheint klar, dass Coughlans Aktionen die Absicht hatten, McLaren einen sportlichen Vorteil zu verschaffen. Er fütterte den Testfahrer mit Informationen über die Boxenstoppstrategie, das Bremssystem, die Gewichtsverteilung und andere Dinge. Außerdem erscheint es als sicher, dass er aufgrund seiner großen Erfahrung genau wusste, wie man einen Vorteil erlangt und welche Rolle bestimmtes Personal innerhalb des Teams dabei spielt. Es erscheint äußerst unwahrscheinlich, dass er seine Aktivität nur auf Herrn de la Rosa beschränkt hat. Es erscheint ebenfalls äußerst unwahrscheinlich, dass seine eigene Arbeit durch sein Wissen über das Ferrari-Auto nicht beeinflusst wurde. Die Beweise führen den WMSC zu dem Schluss, dass bis zu einem gewissen Grad ein sportlicher Vorteil erlangt wurde, obwohl es möglicherweise niemals möglich sein wird, diesen genau zu beziffern." Die Folge dessen sind der Entzug aller Konstukrteurs-WM-Punkte und eine Geldstrafe von 100 Millionen US-Dollar.