Die Lage ist ernst. Red Bull hat in Singapur am Freitag schwach angefangen, und bis zum 2. Training stark nachgelassen. Plötzlich sind die Seriensieger nur mehr fünfte Kraft. Die vier vor ihnen - Ferrari, Mercedes, Aston Martin und McLaren - trauen dem Frieden nicht. Die Trainings-Analyse enthüllt zwar ein zweites Gesicht des RB19, stellt die Sieg-Chancen aber dennoch ernsthaft in Zweifel.

Im Rekord-Team wird der Ernst der Lage hochgespielt. Nicht zu Unrecht. Die sieben Zehntel Rückstand von Max Verstappen und Sergio Perez sind nicht aus der Luft gegriffen. Als in FP2 alle Soft-Reifen für Qualifying-Simulationen aufzogen, waren die beiden der Verzweiflung nahe. Das Heck verabschiedete sich auf der Bremse, kam bis zum Ausgang nicht wieder.

"Beim starken Bremsen fühlte es sich an, als ob ich gleich abfliegen würde", berichtete Perez. Über die ganze Runde verlor der RB19 kontinuierlich Zeit, mit beiden Fahrern am Steuer. Ausreißer relativ zu den tonangebenden Ferrari-Piloten gehen auf Einzelfehler zurück. So bleibt nur die nüchterne Feststellung: Der RB19 ist fundamental schlecht ausbalanciert.

Ferrari macht auf Red Bull: Klarer Singapur-Favorit

"Ferrari ist sehr schnell, ich denke wir sind einfach viel schlechter als erwartet", zeigt Max Verstappen daher wie alle anderen auf Ferrari als Favorit. Beide Bestzeiten holte die Scuderia, einmal Charles Leclerc, einmal Carlos Sainz. Und der erste Verfolger, der drittplatzierte George Russell, mahnt: "Ich denke nicht, dass Ferrari die Power Unit voll aufgedreht hat."

Sainz und Leclerc waren fast gleich schnell, streuten beide zwei Fehler um zwei Zehntel ein. Die Konkurrenz sieht sie folglich als Favoriten auf die Pole. Wie in Monza rollte der SF-23 wundervoll ausbalanciert in FP1 auf die Strecke. "Vom Start weg", bestätigt Leclerc. "Die Balance war sofort hervorragend."

Obwohl es eine komplett andere Strecke ist. Es darf aber nicht vergessen werden: Der Ferrari ist in langsamen Kurven gut. Und der Großteil von Singapur besteht aus dem gleichen Kurventypus: Langsame 90-Grad-Kurven.

Beide Mercedes sowie Fernando Alonso und Lando Norris bildeten hinter Ferrari ein Paket innerhalb von vier Zehnteln, scheinen fehlerbereinigt so alle ein Paket im Kampf um die zweite Reihe bilden. Mercedes sprach vom besten Freitag des Jahres. Norris erfreute sich am McLaren-Update, das die Probleme des MCL60 in langsamen Kurven reduzierte. Die alte Version in den Händen Oscar Piastris verdeutlichte den Fortschritt mit signifikantem Rückstand von fast acht Zehntel.

Red Bulls Renn-Macht zu brechen? Hier lauert die Gefahr

Sie alle schieben Ferrari die Favoritenrolle zu. Nur Ferrari selbst zweifelt. Carlos Sainz setzt stattdessen auf die, die es nicht einmal in dieses Paket geschafft haben. Red Bull. Die vermeintliche fünfte Kraft: "Wenn du dir die Longrun-Pace anschaust, sind sie schon wieder das stärkste Auto. Sobald sie das Qualifying aussortiert haben, werden sie da sein."

Sainz' Einwand ist berechtigt. Sergio Perez war im Longrun der Schnellste. Allerdings ist der Red-Bull-Vorsprung ungewöhnlich klein, ja fast nicht vorhanden. Aston Martin, Mercedes und Ferrari liegen innerhalb von zwei Zehnteln. Lando Norris fuhr nicht auf Medium, sondern auf Soft und Hard. Seine fünf guten Soft-Runden legen aber im Renn-Trimm sogar einen Fünfkampf auf Augenhöhe nahe.

Ein Fünfkampf, das klingt spektakulär - und doch gibt es ein signifikantes Problem. Nämlich Singapur. Politik kommt ins Spiel. Zwei Schikanen wurden entfernt, die Strecke schneller gemacht. Die Fahrer warben um eine vierte DRS-Zone auf der neu entstandenen Gerade, um das chronische Überholproblem des Stadtkurses zu beheben.

Doch nicht alle Teams stimmten dafür. Lewis Hamilton machte nach dem Training seinem Ärger Luft: "Ich denke momentan nicht, dass es mehr Überholmanöver geben wird. Wir brauchen DRS in dieser letzten Passage. Alle Fahrer haben die FIA darum gebeten."

Was kann Red Bull in Singapur wirklich ausrichten?

Red Bulls Job könnte also schwierig werden. Ein Auto, auf eine Runde nicht aussortiert, landet im Qualifying schnell in der zweiten oder dritten Reihe. Dass es im Renntrimm besser ist, hilft in Singapur nichts, wenn der Vorteil nur ein oder zwei Zehntel groß ist. Das ist nicht ausreichend, um zu überholen, und es gibt keine zusätzliche DRS-Zone, um dem Super-DRS des RB19 entgegenzukommen.

Selbst strategisch wäre Red Bull nach einer Qualifying-Niederlage schon im Hintertreffen. Wegen der ewig langen Boxengasse und dem schwierigen Überholen ist sich Reifenausrüster Pirelli mit der Einstopp-Prognose sehr sicher. Medium-Hard oder Soft-Hard wären möglich, glaubt man. Zwar ist der hitzebedingte Abbau hier extrem, aber ohne Überholgelegenheit spielt das keine Rolle.

Ferrari-Fahrer Charles Leclerc
Ferrari könnte mit gutem Qualifying einen wichtigen ersten Schritt machen, Foto: LAT Images

Red Bull abzuschreiben ist aber gefährlich. Eine Nacht im Simulator? Feintuning am Setup? Nicht zu vergessen ist die hohe Streckenentwicklung. Singapur ist ein Stadtkurs, der Grip nimmt über das Wochenende hinweg rapide zu. Die Strecke kann im Qualifying ganz anders sein als noch am Freitagabend.

Und schließlich muss man die Reifen im Qualifying auf den Punkt bringen. Die Hinterachse überhitzt auf einer schnellen Runde hier praktisch sofort, die Vorderachse muss aber vorsichtig ins Fenster bugsiert werden. Wer es perfekt erwischt, der kann, so schätzt George Russell, Zehntel finden. Und wer will es der 2023er-Version von Max Verstappen schon absprechen, Perfektion zu schaffen? Alle Stimmen zum Formel-1-Qualifying heute in Singapur gibt es im Live-Ticker.