Nach dem bitteren Defekt-Rennen vor zwei Wochen in Kanada fand Mercedes wieder zurück auf die Siegesstraße. Doch während Mercedes in Montreal haushoch überlegen war und nur wegen der technischen Defekte nicht gewinnen konnte, sah es in Österreich anders aus. Denn Williams konnte den Silberpfeilen nicht nur im Qualifying Paroli bieten. Die Strategie des Traditionsrennstalls wirkte etwas sehr konservativ. Hätte Williams gewinnen können? Motorsport-Magazin.com geht dieser und weiteren Fragen des Rennens nach.

Hintergrundwissen: Undercut - darunter versteht man neben einer in Mode gekommenen Frisur in der Formel 1 noch etwas anderes. Nämlich eine Strategievariante: Befinden sich zwei Piloten direkt hintereinander, muss nicht immer ein Überholmanöver für den Platztausch sorgen. Kommt der hintere Pilot früher zum Boxenstopp, hat er früher den Vorteil der neuen Reifen. Kann er diesen nutzen und in seiner Outlap deutlich schneller fahren, kommt es meist zum Platztausch.

Das Recht des Besserplatzierten

Fahren zwei Teamkollegen direkt hintereinander, hat der besserplatzierte Fahrer deshalb im Normalfall das Vorrecht, als Erster zum Reifenwechsel zu kommen. Gibt es den Versuch des Undercuttens, reagiert der betroffene Pilot meist schnell. Um nicht zu viel Zeit auf den abgefahrenen Reifen zu verlieren, wird meist eine Runde später gestoppt. Auch wenn die eigene Strategie oft leicht unterschiedlich ausgelegt war.

So zumindest die graue Theorie. Jetzt zur Praxis: In Runde 10 führt Felipe Massa das Rennen an. Knapp eine Sekunde dahinter folgt Valtteri Bottas, wieder eine Sekunde dahinter Nico Rosberg und nochmals ein paar Zehntel dahinter Lewis Hamilton. Eine Runde später, in Runde elf, stoppt Rosberg zum ersten Mal. Der Mercedes-Pilot wechselt von Supersoft auf soft.

PositionFahrerRückstand
1Felipe MassaRunde 10
2Valtteri Bottas+ 0,996
3Nico Rosberg+ 2,254
4Lewis Hamilton+ 3,091

Doch Williams reagiert nicht. Während die Spitze hohe 1:14er Zeiten fährt, kann Rosberg die Pace der frischen Reifen nutzen. Obwohl er hinter Button wieder zurück auf die Strecke kommt, fährt er eine 1:13,9. An Button ist er schnell vorbei, doch nun ist Perez vor Rosberg. Und an dem kommt er nicht mehr so schnell vorbei.

Rosberg übernahm nach dem ersten Stopp die Führung, Foto: Sutton
Rosberg übernahm nach dem ersten Stopp die Führung, Foto: Sutton

In Runde 13 stoppt dann Teamkollege Lewis Hamilton. Normalerweise wäre Hamilton wohl schon in Runde 12 gekommen, doch weil sich durch Rosbergs Boxenstopp eine kleine Lücke auftat, fährt er erst die Lücke auf Bottas zu - die Pace dazu hat er locker - und stoppt dann. Doch bei Hamilton läuft nicht alles rund, er verliert in der Box acht Zehntel auf seinen Teamkollegen - und reiht sich mit kleinem Rückstand hinter ihm ein.

Dann erst reagiert Williams: In Runde 14 kommt Felipe Massa zum Stopp. Auch beim Brasilianer geht nicht alles glatt beim Stopp, weshalb er direkt hinter Hamilton wieder auf die Strecke kommt. Eine Runde später kommt dann auch Bottas. Der Finne kann seine Inlap mit freier Fahrt nutzen und wird von seiner Crew sensationell schnell abgefertigt. 2,1 Sekunden - Williams-Rekord. Er reiht sich direkt hinter Rosberg wieder ein.

PositionFahrerRückstand
1Sergio PerezRunde 16
2Nico Rosberg+ 0,514
3Valtteri Bottas+ 1,295
4Lewis Hamilton+ 2,060
5 Felipe Massa + 2,760

Die Bilanz nach den ersten Stopps

Der große Verlierer ist Felipe Massa: Der Brasilianer verliert - Perez weggerechnet - gleich drei Positionen. Rosberg gewinnt im Gegenzug zwei Plätze. Williams muss sich zwei Vorwürfe gefallen lassen: Warum holten sie ihre Piloten erst so spät zum Reifenwechsel und wieso dauerte der Stopp bei Massa so lange?

Genau genommen dauerte Massas Stopp gar nicht so lange - nur im Verhältnis zu Bottas'. Mit einer Durchfahrtszeit von 21,896 Sekunden befindet sich die Zeit im Durchschnitt. Beim Teamkollegen ging es aber acht Zehntel schneller. Wäre der Stopp schneller gewesen, hätte sich Massa vielleicht vor Hamilton einsortieren können - und hätte eine Runde später dann den Platz auch nicht gegen Bottas verloren.

Interessanter ist aber die Frage, ob Williams früher hätte kommen müssen. Mercedes stoppte bei Rosberg absichtlich extrem früh, weil der Mercedes schonender mit den Reifen umging. Hätte Williams gleich nachgezogen, wären sie das Risiko eingegangen, dass der nächste Satz Reifen zu früh eingegangen wäre und vielleicht ein zusätzlicher Stopp nötig gewesen wäre. Also wartete Williams lieber, um zum geplanten Zeitpunkt Reifen zu wechseln.

Genau damit hatte Mercedes spekuliert. "Man konnte sehen, dass sie nicht sofort reagiert haben, denn es ist auch eine Frage, ob man sich zutraut, das durchziehen zu können", gibt Toto Wolff zu bedenken. "Williams kommt gerade aus einer Situation, in der es mehr mit einer aggressiven Strategie mehr zu verlieren als zu gewinnen gibt." Allerdings war Williams mit zwei Boliden in Front, hätte die Strategie also splitten können.

Der Strategie-Überblick

FahrerRundeDurchfahrtszeitReifenwechsel
Nico Rosberg1121,474Supersoft - Soft
Lewis Hamilton1322,226Supersoft - Soft
Felipe Massa1421,896Supersoft - Soft
Valtteri Bottas1521,133Supersoft - Soft
Lewis Hamilton3922,555Soft - Soft
Nico Rosberg4021,664Soft - Soft
Valtteri Bottas4122,208Soft - Soft
Felipe Massa4322,096Soft - Soft

Auch bei Mercedes läuft derzeit noch die Analyse: Wieso war Hamiltons Stopp so langsam? Lag es an einer schlechten Standposition? Ausgeschlossen ist das nicht. Was wäre passiert, hätte der Stopp einwandfrei funktioniert? Hamilton wäre wohl genau auf Rosbergs Höhe aus der Box gekommen. Ausgang? Unvorhersehbar. Hätte, wäre, wenn: Hamilton hätte die virtuelle Führung übernehmen können.

Sergio Perez sammelte Führungskilometer, Foto: Sutton
Sergio Perez sammelte Führungskilometer, Foto: Sutton

Nachdem die ersten Stopps erledigt sind, groovt sich die Spitze hinter Sergio Perez ein, der noch immer auf den Soft-Reifen fährt, auf denen er gestartet ist. Erst in Runde 27 kommt Rosberg am Force-India-Piloten vorbei, Bottas kann mitziehen. Hamilton ist nun in Zugzwang, muss jetzt ebenfalls schnell am Mexikaner vorbei, um nicht zu viel Zeit auf die Spitze zu verlieren. Eine Runde später gelingt ihm das, Massa muss eine weitere Runde warten, bis Perez zum Stopp kommt.

PositionFahrerRückstand
1Nico RosbergRunde 38
2Valtteri Bottas+ 2,005
3Lewis Hamilton+ 2,767
4 Felipe Massa + 5,970

In Runde 39 kommt Hamilton zu seinem zweiten und letzten Stopp. Wieder läuft nicht alles rund, wieder verliert er etwas Zeit. Auch weil Rosberg schon eine Runde später kommt, reicht es nicht, um am Teamkollegen vorbeizugehen. Doch das war auch nicht die Intension von Mercedes, aus diesem Grund hätte Hamilton gar nicht früher geholt werden dürfen - Stichwort: Recht des Besserplatzierten.

Es ging lediglich darum, Hamilton vor Bottas zu bringen. Dazu musste Hamilton als erster Mercedes-Pilot kommen, weil Williams sonst vorgewarnt gewesen wäre und Bottas eine Runde später - also dann gleichzeitig mit Hamilton reinholen hätte können. Doch erneut reagiert Williams nicht sofort: Bottas kommt erst in Runde 41, Massa in Runde 43. Die Folge: Bottas verliert Platz zwei an Lewis Hamilton.

Fazit: Verständnis für Williams

Williams muss sich den Vorwurf gefallen lassen, zu konservativ agiert zu haben. Auch wenn das Risiko, am Ende mit den Reifen in die Bredouille zu kommen, da war: Man hätte die Strategie zumindest splitten können. Natürlich war Mercedes deutlich stärker, doch überholen ist nicht einfach, zumal Felipe Massa erneut das schnellste Auto auf der Geraden hatte.

Das Problem: Für Williams ist es sehr wohl relevant, ob Felipe Massa am Ende Zweiter oder Fünfter wird. Ein tolles Einzelergebnis darf nicht über die eng umkämpfte Konstrukteurs-WM hinwegtäuschen - und die bringt letztendlich Geld. Insofern ist es zwar schade, dass Williams nicht versucht hat, Mercedes die Stirn zu bieten, aber auch verständlich. Wie heißt es so schön: Lieber den Spatz auf dem Teller, als die Taube auf dem Dach.