Die legendäre Nordschleife des Nürburgring steht nicht erst seit dem tödlichen Unfall eines Zuschauers beim ersten VLN-Rennen 2015 unter besonderer Beobachtung des Automobil-Weltverbandes FIA. Dabei spielt auch der tödliche Formel-1-Crash von Jules Bianchi im Oktober 2014 in Suzuka sowie der spektakuläre Abflug von Sophia Flörsch beim Formel-3-Weltcup im November 2018 in Macau eine Rolle.

Für die FIA und vor allem deren Präsident Jean Todt hat nämlich das Thema Sicherheit oberste Priorität (Stichwort Serious Accident Study Group oder FIA Action for Road Safety). Das aktuelle Vorgehen der Verantwortlichen, das ständige Wettrüsten von Herstellern und Rennteams auf der Nordschleife zu unterbinden, wird von Fans, VLN-Teams und auch einigen Medienvertretern zu Unrecht kritisiert. Wer, wie Motorsport-Magazin.com, schon mehrfach mit Verantwortlichen der FIA, dem Deutschen Motor Sport Bund (DMSB) und auch Staatsanwälten gesprochen hat, weiß, dass die jetzt vorgenommenen und erneut kritisierten Maßnahmen alternativlos sind!

Die aktuell gefahrenen Rundenzeiten auf der Nordschleife sind nämlich ein Ritt auf der Rasierklinge. Ein weiterer schwerer Unfall, der nicht einmal tödlich enden muss, könnte nach Motorsport-Magazin.com-Informationen das sofortige Aus für Rennen mit GT3-Sportwagen auf der Nordschleife bedeuten!

Eine Chronologie der aktuellen Situation

Mitte Januar dieses Jahres gab es beim Automobil-Weltverband in Paris unter Vorsitz von Sir Patrick Head eine außerordentliche Sitzung der FIA Sicherheitskommission, bei der u.a. auch der FIA Sicherheitsdirektor Adam Baker, Stuart Robertson als Leiter der Rennstrecken- und Rallye-Sicherheit sowie als Vertreter des DMSB der Sportdirektor Michael Günther anwesend waren. Dabei ging es vornehmlich um den schweren Formel-3-Unfall von Sophia Flörsch im November 2018 in Macau.

Am Rande dieses Meetings wurde der DMSB-Sportdirektor von den FIA-Vertretern auf die Problematik auf der Nürburgring-Nordschleife angesprochen - insbesondere wegen der hohen Kurvengeschwindigkeiten.

Anschließend wurde der DMSB am 8.2.2019 von der FIA schriftlich aufgefordert, einen Maßnahmenkatalog zur Performance-Reduzierung einzureichen, damit auch weiterhin GT3-Sportwagen an Rennen auf der Nordschleife (VLN und 24h) teilnehmen dürfen.

Der DMSB informierte daraufhin am 20.2.2019 die FIA nach Rücksprache mit den Serienausschreibern, dass jedem Fahrzeug der Klassen SP9 (GT3), SP9-Pro und SPX nur noch drei Reifenspezifikationen (Mischungen) pro Veranstaltung und während der gesamten Saison maximal sechs Mischungen für die VLN sowie das 24h-Quali- und 24h-Rennen zur Verfügung stehen. Diese Vorgabe bezieht sich allerdings nicht auf das Fahrzeug an sich, sondern die Fahrzeug-Homologation. Weitere Maßnahmen sollten erst in 2020 folgen. Insbesondere sollte es für die Aerodynamik der GT3-Fahrzeuge wegen der Kurzfristigkeit für 2019 keine Änderungen geben.

Mit dem Umfang dieser Maßnahmen war die FIA nicht vollumfänglich einverstanden und ordnete anschließend in einem Schreiben an den DMSB am 26.2.2019 eine fünfprozentige Reduzierung der Motorleistung (was in etwa 25 bis 30 PS entspricht, d. Red.) mit einer Fristsetzung bis zum 4.3.2019 an. Als Begründung nannte die FIA eine Auswertung der Rundenzeitenentwicklung in der Saison 2018 (siehe Tabelle).

Druckmittel der FIA war dabei die anstehende Streckenabnahme der Nordschleife, deren Lizenzgültigkeit im April 2019 endet. Als Frist zur Einreichung einer überarbeiteten Balance of Performance (BoP) setzte die FIA den 4.3.2019.

Zufall oder nicht? Just an diesem Tag war die FIA-Streckenabnahme terminiert, bei der die Vertreter der FIA, Roland Bruynseraede (Rennleiter und Streckenabnahme-Chef) und Stuart Robertson mit den DMSB-Offiziellen Christian Schacht (Vorsitzender der FIA-GT-Kommission), Michael Günther (Sportdirektor), Mischa Eifert (Koordination Automobilsport) und Niels Wittich (Rennleiter) sowie Vertretern der capricorn Nürburgring GmbH (cNG) zusammenkamen.

Hierbei legte die FIA Computer-Simulationen vor, um damit die aus ihrer Sicht nicht ausreichenden Maßnahmen zu dokumentieren. Dabei wurde an mehr als einem Dutzend neuralgischer Streckenabschnitte der Nordschleife bei einem möglichen Unfall der zu erwartende und realistische Einschlagwinkel bezüglich Abstand zwischen Asphaltband und Streckenbegrenzung sowie Geschwindigkeit (anhand von Daten) errechnet.

Die Parteien haben sich anschließend auf folgende noch durchzuführende wesentliche Maßnahmen geeinigt: Das Installieren weiterer FIA-Zäune hinter den Leitplanken sowie Reifenketten mit und ohne Inserts vor der eigentlichen Streckenbegrenzung. Des Weiteren fünf elektronische Blinkleuchten als Unterstützung für die Streckenposten, weil deren Signale von Teilnehmern in der Vergangenheit entweder zu spät oder gar nicht erkannt wurden.

Für all diese Maßnahmen muss der DMSB spätestens bis zum 31.3.2019 einen Zeitplan zur Umsetzung bei der FIA einreichen. Zudem ist eine Übersicht der bisher umgesetzten Maßnahmen aus dem in 2019 endenden Fünfjahresplan nach dem Unfall im März 2015 von der cNG vorzulegen. Sie sind die Voraussetzung für die unter Vorbehalt erteilte Abnahme der Nordschleife ab April 2019 für weitere drei Jahre.

Unabhängig davon sollen die VLN Test- und Einstellfahrten am kommenden Samstag (16.3.) sowie das erste VLN-Rennen am übernächsten Samstag (23.3.) wie geplant über die Bühne gehen.

Rückblick

Der britische Nissan-Pilot Jann Mardenborough hatte am 28. März 2015 beim ersten VLN-Rennen 2015 im Streckenabschnitt "Quiddelbacher Höhe" die Kontrolle über den vom Team RJN eingesetzten Nissan GT-R NISMO GT3 verloren. Der japanische Sportwagen bekam an der dortigen Sprungkuppe Unterluft, hob vor einer Rechtskurve spektakulär vom Boden ab, stellte sich in der Luft senkrecht auf und landete in der zusätzlich mit Reifenketten gesicherten Streckenbegrenzung. Durch die Wucht des Aufpralls flog der Nissan anschließend über den vor Saisonbeginn 2008 installierten FIA-Sicherheitszaun hinweg in den Zuschauerbereich. Dabei starb ein 49 Jahre alter Zuschauer aus den Niederlanden, zwei weitere Besucher sowie Mardenborough wurden verletzt.

Die Umstände, die zum tragischen Todesfall, dem ersten eines Zuschauers bei einem VLN-Rennen, führten, wurden nicht nur vom DMSB und der FIA untersucht. Auch die Polizei und die Staatsanwaltschaft Koblenz leiteten mithilfe eines Gutachters sofortige Ermittlungen ein. Der verunfallte Nissan wurde beschlagnahmt.

Als Sofortmaßnahme beschloss das Präsidium des Deutschen Motor Sport Bundes (DMSB) für Teilbereiche der Nordschleife, wie die Streckenabschnitte "Quiddelbacher Höhe", "Flugplatz" und "Schwedenkreuz" (200 km/h) sowie auf der "Döttinger Höhe" (250 km/h) ein Tempolimit. Außerdem wurde die Motorleistung von Fahrzeugen der Top-Klassen um fünf Prozent reduziert. Zudem wurden die Rekordversuche von Automobilherstellern (Stichwort: Nordschleifen-Bestzeiten sind Marketingtools) bis auf weiteres untersagt. All diese Maßnahmen sind von der FIA und der Staatsanwaltschaft ausdrücklich begrüßt worden.

Rundenzeitenentwicklung Nürburgring (Kombination aus Kurzanbindung und Nordschleife), Streckenlänge = 24,433 km

Vor dem tödlichen Unfall eines Zuschauers beim ersten VLN-Rennen im März 2015 wurden von den Topautos in der Saison 2014 folgende schnellste Rundenzeiten erzielt:

AutoZeitRundenschnitt
Audi R8 LMS ultra (Team Phoenix)7:57,474 Minuten183,651 km/h
BMW Z4 GT3 (Team Schubert)7:59,045 Minuten183,049 km/h
Ford GT3 (Team Jürgen Alzen)7:59,284 Minuten182,958 km/h
Mercedes-SLS AMG GT3 (Team ROWE)7:59,797 Minuten182,762 km/h
McLaren MP4 12C (Team Dörr)8:00,034 Minuten182,672 km/h
Porsche 911 GT3 RSR (Team Manthey)8:03,535 Minuten181,349 km/h
Nissan GT-R NISMO GT3 (Team RJN)8:07,059 Minuten180,037 km/h
Bentley Continental GT3 (Team Bentley)8:08,126 Minuten179,644 km/h
Aston Martin Vantage GT3 (Team AM Testcenter)8:09,857 Minuten179,009
Ferrari F458 Italia GT3 (Team Corse by Rinaldi)8:12,714 Minuten177,971 km/h

Durch die Reduzierung der Motorleistung sowie dem Tempolimit wurden in der Saison 2015 wieder Rundenzeiten erzielt, die im Schnitt bis zu zehn Sekunden langsamer waren als zuvor und die auch wieder über acht Minuten lagen.

Dagegen unterstreicht die nachfolgende Aufstellung die Sorge der FIA bezüglich der Entwicklung der Rundenzeiten, die 2018 zum Teil sogar deutlich wieder unter der Acht-Minuten-Schallmauer fielen, und das bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von mehr als 185 km/h! Es gab im vergangenen Jahr VLN-Veranstaltungen, bei denen Fahrer von gleich acht Sportwagen eine Bestzeit unter acht Minuten erzielten und sogar 22 Piloten, die schneller als 8:07 Minuten waren - eine Zeit, die von den Verantwortlichen nach dem tödlichen Unfall 2015 anvisiert worden war.

Schnellste gefahrene Rundenzeiten (unter acht Minuten) in der VLN-Saison 2018

AutoZeitRundenschnitt
BMW M6 GT3 (Team Walkenhorst)7:52,474 Minuten185,554 km/h
Audi R8 LMS (Team Land)7:52,822 Minuten185,458 km/h
Ferrari 488 GT3 (Team WTM)7:55,589 Minuten184,379 km/h
Mercedes-AMG GT3 (Team Black Falcon)7:55,713 Minuten 184,331 km/h
Porsche 911 GT3 R (Team Falken)7:56,259 Minuten184,120 km/h
Renault R.S.01 (Team R-ace GP)7:58,334 Minuten183,321 km/h
Lamborghini Huracan GT3 (Team Konrad)7:59,134 Minuten183,015 km/h

Für Roland Bruynseraede, FIA-Rennleiter und Streckenabnahme-Chef, ist diese Entwicklung "besorgniserregend". Im Motorsport-Magazin.com-Gespräch meinte der Belgier: "Das Befahren der Nordschleife mit GT3-Sportwagen oder Prototypen ist nicht mehr zeitgemäß und viel zu gefährlich." Bruynseraede erinnerte in diesem Zusammenhang an Rennserien, die ebenfalls nach schweren Unfällen von der Nordschleife verbannt worden sind.

Für die Formel 1 und Niki Lauda wurde der 1. August 1976 zum Schicksalstag. Beim Großen Preis von Deutschland verlor der Österreicher im Bereich "Bergwerk" die Kontrolle über seinen Ferrari 312 T2 und raste in eine Böschung. Den Feuerunfall überlebte Lauda, der davon bis heute gekennzeichnet ist, nur mit viel Glück. Die Königsklasse kehrte nicht mehr auf die Nordschleife zurück!

Fast sieben Jahre später umrundete Stefan Bellof die Nordschleife am 28. Mai 1983 beim Abschlusstraining zum 1000-km-Rennen mit einem Porsche 956 als erster Mensch mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von mehr als 200 km/h! Dabei erzielte der Porsche-Werksfahrer mit dem Gruppe-C-Prototyp eine nicht für möglich gehaltene Rekordzeit von 6:11,13 Minuten - 30 Sekunden (!) schneller als die Bestzeit des damals amtierenden Formel-1-Weltmeisters Keke Rosberg. Im tags darauf folgenden Rennen, dem dritten Lauf zur Sportwagen-WM, bekam Bellofs Porsche im Streckenabschnitt "Pflanzgarten" Unterluft, hob spektakulär ab und zerschellte anschließend an einer Leitplanke. Wie durch ein Wunder überstand der damals 25-jährige Gießener den schweren Unfall unverletzt. Trotzdem war damit das Ende der Sportwagen-WM auf der Nordschleife besiegelt.

Zehn Jahre später verabschiedete sich auch die DTM von der "Grünen Hölle". Hintergrund war ein spektakulärer Unfall von Ellen Lohr am 10. Juni 1993, bei der die Mönchengladbacherin nach einem Abflug mit ihrem Mercedes-AMG 190E Klasse 1 im Bereich "Hatzenbach" hinter (!) einer Leitplanke gelandet war.

Für Bruynseraede ist es nur eine Frage der Zeit, "bis wieder etwas Schlimmes passiert". Spätestens dann würde man sich Gedanken machen und unpopuläre Entscheidungen treffen müssen. "Warum wartet man so lange?"

Die Beispiele Jules Bianchi und Sophia Flörsch zeigen, wie nahe Tragik und Glück beieinanderliegen. Im Fall Bianchi hat die Familie des Franzosen sogar rechtliche Schritte gegen die FIA, die Formula One Group sowie das Team Manor Racing eingeleitet. Verständlich und sicher kein Zufall, dass ausgerechnet FIA-Präsident Jean Todt, dessen Sohn Nicolas Todt Manager von Bianchi war, keine Kompromisse eingehen möchte.

Das betrifft auch den schweren Unfall von Sophia Flörsch in Macau, der aus Sicht der FIA weltweit für viel zu viel Wirbel gesorgt hat und dessen umfangreiche Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind. Die Erkenntnisse aus diesen Fällen fließen beispielsweise auch in die Beurteilung über die mögliche Streckenabnahme der Nordschleife ein. Denn auf den legendären Eifelkurs hat die FIA laut Bruynseraede ein ebenso großes Augenmerk gelegt wie auf den berühmten Circuit de la Sarthe in Le Mans.