Die Track-Limit-Problematik lässt die Formel 1 auch im Jahr 2023 nicht los. Nachdem es beim Großen Preis von Österreich zum vorläufigen Höhepunkt gekommen war, kochte die Diskussion in Katar und Austin erneut hoch. Um einer weiteren Track-Limit-Farce entgegenzuwirken, wird die FIA beim Saisonabschluss in Abu Dhabi eine neue, auf künstlicher Intelligenz basierende Technologie debütieren: Die 'Computer Vision'. Ist damit ein Ende der lästigen Problematik in Sicht?

Track-Limits-Messung: Mensch weiterhin genaustes Instrument

"Früher hatten wir drei konkurrierende Datenquellen, um eine potenzielle Streckenbegrenzung zu erkennen: Die fahrzeugseitige Erkennung, bei der das Fahrzeug seine Position im Verhältnis zur Strecke schätzt, eine Schleifenerkennung und eine manuelle Erkennung durch die Augen einer Person", erklärte der Leiter des 'Remote Operations Centre' (ROC) und stellvertretender Rennleiter Tim Malyon. Das ROC ist seit dem Bahrain GP 2022 in der Formel 1 im Einsatz und unterstützt die Stewards unter anderem bei der Beurteilung der Track-Limit-Vergehen aus einem Büro in Genf.

"Wir kamen allerdings zu dem Schluss, dass die Schleifen nicht genau genug waren. Die bei weitem genaueste Lösung bestand darin, dass sich ein Datenanalytiker das Video selbst ansah", erklärte der ROC-Leiter die Problematik bei der Track-Limit-Messung.

"Im Moment haben wir die Situation mit Brachialgewalt gelöst, indem wir gesagt haben: Wir müssen Tausende von Überprüfungen durchführen, wie machen wir das? Nun, wir setzen mehr Leute darauf an, weil das die genaueste Lösung ist. Was wir jetzt anstreben, ist die Einführung einer höheren Ebene als ROC, und das ist KI-Software."

Computer-Vision: KI soll offensichtliche Fälle herausfiltern

Diese KI-Software wird nun in Abu Dhabi das erste Mal eingesetzt und trainiert werden. Die 'Computer Vision' soll dabei vor allem die offensichtlichen Fälle herausfiltern und dem Menschen, also dem weiterhin genaustem Messinstrument, lediglich die weniger eindeutigen Fälle zur Beurteilung weiterleiten. Inspiration holte sich die FIA bei der Technologie aus der Krebsforschung. Die Einführung der 'Computer Vision' hat das Ziel, die derzeit 800 Meldungen, die bei einem Grand Prix zu erwarten sind, auf 50 Stück zu reduzieren.

Computer Vision Technologie der FIA
Die Computer-Vision der FIA, Foto: FIA

"Dazu gehört die Formanalyse, bei der wir eine Linie haben, die den Rand der Strecke darstellt, und die Software berechnet die Anzahl der Pixel hinter dieser Linie", erklärte Malyon. "Die Methodik dieser KI weist viele Parallelen zu den Diskussionen auf, die derzeit in der Medizin geführt werden, zum Beispiel in der Krebsforschung. Man ist zu dem Schluss gekommen, dass man die Computer-Vision nicht zur Krebsdiagnose einsetzen will, sondern um die 80 Prozent der Fälle, in denen eindeutig kein Krebs vorliegt, auszusortieren, damit die gut ausgebildeten Mitarbeiter mehr Zeit haben, sich die 20 Prozent anzusehen. Und genau darauf zielen wir ab."

Doch allein bei der Einführung einer KI-Technologie soll es nicht bleiben. "Die Fahrzeugortung wird weiterentwickelt, um die Genauigkeit zu verbessern. Außerdem planen wir, die Zahl der Mitarbeiter im ROC im nächsten Jahr von vier auf acht zu verdoppeln, und wir werden die Verbindungsbandbreite zwischen der Rennstrecke und Genf verdoppeln, um mehr Mitarbeitern die Arbeit aus der Ferne zu ermöglichen", fügte Malyon hinzu.

ROC: In Zukunft eigene Entscheidungsgewalt?

Das ROC nimmt den Stewards an der Strecke bereits jetzt einiges an Arbeit ab. Durch die Einführung der KI sollen diese zusätzlich entlastet werden. Doch eine Sache konnte das ROC bisher nicht: Strafen verhängen. Dieses Privileg lag weiterhin ausschließlich bei den Stewards. Das ROC ist hingegen lediglich in einer assistierenden Rolle tätig. Bereits getroffene Entscheidungen kann es nicht revidieren. Das könnte sich perspektivisch allerdings ändern.

"Wenn es um Dinge wie Track Limits geht, ist das ROC im Moment eine Einrichtung zur Datenverarbeitung", erklärte Malyon, der sich in Zukunft mehr Autonomie bei den Mitarbeitern im ROC vorstellen kann. "Wird es sich in Zukunft weiterentwickeln? Ehrlich gesagt, denke ich, dass es sich ein wenig in Richtung VAR entwickeln könnte, wo wir tatsächlich Leute ernennen, die aus der Ferne als sogenannte Tatsachenrichter in der Terminologie des Motorsports arbeiten. Aber im Moment handelt es sich um ein Datenverarbeitungssystem, das die Rennleitung unterstützen soll."