Spa steht Kopf: Seit Monaten gibt es keine Tribünen-Tickets mehr, die Zufahrtsstraßen zur Rennstrecke sind selbst am Trainingstag schon früh am Morgen verstopft. 40.000 Niederländer haben sich auf den Weg in das Nachbarland gemacht. Verantwortlich dafür: ein 18-Jähriger. Die Fans liegen Max Verstappen zu Füßen. Er hat einen Boom ausgelöst, wie einst 25 Jahre vor ihm Michael Schumacher in Deutschland.

Aber nicht die gesamte Formel-1-Welt liegt ihm zu Füßen: Jacques Villeneuve ist Verstappens Chef-Kritiker seit Tag eins. "Wenn alle weiß sagen, sagt er schwarz", sagte Verstappen einst. Aber was hat der Weltmeister von 1997 gegen den Youngster? Ist Villeneuve in Spa vielleicht selbst im Verstappen-Fieber? Motorsport-Magazin.com sprach mit dem Kanadier über Problem- und Wunderkind Verstappen.

Dieses Rennen ist etwas Besonders, es gibt einen unfassbaren Max Verstappen Boom. Hat er dich auch erwischt? Du bist nicht unbedingt als großer Max-Fan bekannt...
Jacques Villeneuve: Max bekommt eine Menge Aufmerksamkeit und hat viele Anhänger, das ist großartig. Er hat Persönlichkeit und sticht heraus. Und es macht einen Unterschied, ob er in der Formel 1 ist oder nicht. Zudem ist er schnell und hat das im Qualifying erneut gezeigt. Ich habe nur ein Problem: Mein Gefühl ist, dass die FIA ihn nicht bestrafen möchte, wenn er etwas Falsches tut. Er hat dieses Schutzschild über sich, was ihm erlaubt, so arrogant zu sein und den anderen nicht den nötigen Respekt zu zollen. Das ist das einzige Problem, das ich aktuell habe. So wie beispielsweise in Ungarn.

Max Verstappen bezeichnet sich selbst als Bad Boy - Jacques Villeneuve stimmt zu, Foto: Motorsport-Magazin.com
Max Verstappen bezeichnet sich selbst als Bad Boy - Jacques Villeneuve stimmt zu, Foto: Motorsport-Magazin.com

Wann hast du das Gefühl, dass er arrogant ist und den anderen Fahrern nicht genug Respekt zollt? Nur auf, oder auch neben der Strecke?
Jacques Villeneuve: Was neben der Strecke passiert, interessiert mich nicht. Es kommt nur darauf an, was auf der Strecke abläuft. Abseits der Formel 1 kenne ich ihn nicht und kann daher keinen Kommentar dazu abgeben.

Kannst du den Verstappen-Boom in der Formel 1 nachvollziehen?
Jacques Villeneuve: Ja, absolut. Sein nach außen transportiertes Bild wurde gepusht. Zusammen mit Red Bull ist das die perfekte Kombination. Dazu kommt, dass er trotz dieses Hypes um ihn Ergebnisse abgeliefert hat. Das ist gut.

Bist du der Ansicht, dass die Formel 1 Max Verstappen braucht und er momentan das Zugpferd ist?
Jacques Villeneuve: Nein, ich denke, Lewis ist größer. Die Formel 1 braucht insgesamt Persönlichkeiten. Und Verstappen er ist eine davon.

Warum denkst du, dass Lewis so viel größer als Verstappen ist? Weil er dreifacher Weltmeister ist?
Jacques Villeneuve: Du bist Journalist...wie kannst du mir diese Fragen stellen? Denk darüber nach! Er hat noch nicht bewiesen, dass er das auf Dauer aufrechterhalten kann. Er hat ein Rennen gewonnen, Lewis hingegen drei Weltmeisterschaften. Er hat hart gekämpft. Er ist ein Star und international berühmt. Aber Verstappen ist in den USA nicht bekannt. Er ist vielleicht in Belgien bekannt und in ein paar anderen Ländern. Man wird sehen, sollte er ein paar Rennen oder ein paar Weltmeisterschaften gewinnen, aber an dem Punkt ist er jetzt noch nicht. Es dauert, um sich ein gewisses Ansehen zu erarbeiten. Das gelingt nicht in zwei Saisons, das ist alles.

Es gab so viele schnelle Fahrer, aber sie sind verschwunden und niemand hat jemals wieder von ihnen gehört. Verstappen wird vermutlich keiner von ihnen sein, aber lasst uns abwarten, wie er sich entwickelt. Jetzt hat er noch einfache Jahre. Er ist in der Formel 1 mit Toro Rosso gewachsen. Dort herrschte kein Druck. Und er kam in den Red Bull, genau als deren Auto schnell wurde - wieder kein Druck. Jetzt heißt es warten, bis wieder eine harte Saison kommt. Was dann passiert und wie er in einer solchen Situation reagiert. Wir wissen auch nicht, was passiert, sollte er in die Situation kommen, um einen WM-Titel zu kämpfen. Wir können ihn jetzt noch nicht mit dem gleichen Maß wie Lewis messen. Er hat auf jeden Fall Talent, aber wir wissen noch nicht, was er mit diesem Talent anstellen wird.

Ist Verstappen wie einst Schumacher?

Siehst du bei Verstappen Parallelen zum Boom, den Michael Schumacher damals in Deutschland ausgelöst hat? Auch er zeigte wenig Respekt vor den teils viel erfahreneren Piloten...
Jacques Villeneuve: Zu dieser Zeit brauchte Deutschland einen Fahrer und er kämpfte gegen Senna und hat ihn sogar geschlagen. Das hat Schumacher groß gemacht, denn die Leute, die er geschlagen hat, waren große Fahrer.

Michael Schumacher legte sich einst mit Ayrton Senna an, Foto: Sutton
Michael Schumacher legte sich einst mit Ayrton Senna an, Foto: Sutton

Schlägt Verstappen keine großen Fahrer? Oder anders gefragt: Wer ist in der aktuellen Formel 1 für dich ein besonderer Fahrer?
Jacques Villeneuve: Ich denke, jedes Mal, wenn du einen Mercedes schlägst. Einen Ricciardo zu schlagen, zählt für mich nicht dazu, denn er ist kein Weltmeister. Du musst einfach einen Weltmeister schlagen, der ein paar Titel gewonnen hat. Du musst zeigen, dass du auf deren Level kämpfst - und das mit dem gleichen Respekt. Sein Sieg in Barcelona war beeindruckend, denn er hat dort seine Reifen geschont und Reife gezeigt. Das hat seinem Image sehr geholfen. In diesen Situationen ist er sehr gut. Die Sache ist, dass er nicht so sein muss, wie er in Ungarn war, um erfolgreich zu sein. Er ist, wie Michael manchmal war. Aber er braucht nicht dreckig zu fahren, um zu gewinnen. Das ist das einzig Negative, das man zu ihm sagen kann.

Du sagst, dass er wie Schumacher teilweise nicht den nötigen Respekt auf der Strecke gezeigt hat. Kannst du das konkretisieren?
Jacques Villeneuve: Für mich gibt es einen Unterschied zwischen einem harten und einem dreckigen Zweikampf. In Ungarn war es beispielsweise dreckig und auch gefährlich. Er hatte einfach nur Glück, dass die FIA ihn nicht bestrafen will. Jeder andere Fahrer hätte dafür eine Strafe erhalten.

Denkst du nicht, dass ein Fahrer etwas von dieser Einstellung benötigt, um es nach vorne zu schaffen? Manch andere Piloten werden eher als zu nett beschrieben...
Jacques Villeneuve: Nein, wie ich sagte: Es gibt einen Unterschied zwischen dreckig und hart. Heutzutage ist alles anders. Wenn das früher einer getan hat, hast du ihn zwei Runden später in die Bäume geschickt. Aber es wird jetzt immer mehr wie im Fußball. Entweder du bekommst eine Karte oder nicht. Wenn es nicht gesehen wird, hast du Glück gehabt. Respekt ist durch die Regeln nicht mehr so wichtig. Aber auf lange Sicht kommt es zurück und beißt dich.

Verstappen: Wir brauchen Gentleman-Sport

Liegt es nicht auch an den Strecken? Schließlich hast du mittlerweile überall asphaltierte Auslaufzonen...
Jacques Villeneuve: Nein, Ungarn hatte nichts mit der Strecke zu tun. Ich denke, es gibt zu viele Regeln. Man sollte die Fahrer einfach Fahrer sein und das untereinander ausmachen lassen. Wenn du beginnst, Regeln zu haben, wie du fahren darfst, wie die überholen sollst usw., dann ist das zu viel. Die Fahrer handeln nicht mehr nach ihrem Fahrerinstinkt, sondern denken darüber nach, was sie tun können, um nicht bestraft zu werden. Für mich ist das falsch. Aber das ist moderner Rennsport. So fahren sie bereits im Kart oder in der Formel 3. Das ist lächerlich gefährlich, aber sie bekommen nie Strafen. Sie kommen schließlich in die Formel 1 und denken immer noch, dass sie in einem Videospiel sind. Das hier ist aber kein Videospiel!

Heißt das, wir brauchen weniger Regeln und wieder mehr Gentleman-Verhalten?
Jacques Villeneuve: Das Racing ist viel besser, wenn es unter Gentlemen abläuft. Das ist sehr hartes Racing, aber sauber. Man kann wunderschöne Überholmanöver sehen, aber es muss nicht dreckig ablaufen.

Was sagst du eigentlich zum Zweikampf Rosberg gegen Verstappen in Hockenheim? Nico hat sich beschwert, dass Verstappen die Linie beim Bremsen gewechselt hat, wurde dann aber selbst bestraft...
Jacques Villeneuve: Das war genau das, was Max immer macht! Er hat während des Bremsens Spur gewechselt und das ist gefährlich, das macht man nicht. Er hätte dafür bestraft werden müssen, nicht Rosberg. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen: Wenn Verstappen ein Manöver wie das von Rosberg zeigt, sagen alle: 'Wow, was für ein Killer.' Bei Hamilton auch. Rosberg zeigt ein hartes aber sauberes Manöver und wird dafür bestraft. Die Wahrnehmung ist deshalb anders. Die Fahrer sollen sich auf der Strecke zu Heros machen, nicht die Leute mit unterschiedlicher Wahrnehmung.

Was fällt dir denn Positives zu Max ein?
Jacques Villeneuve: Als Red Bull ihm sagte, er müsse im Qualifying schneller sein, hat er reagiert. Er hat Ricciardo im Qualifying geschlagen und alles getan, was von ihm verlangt wurde. Er ist auf dem richtigen Weg und seine Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen. Wir werden sehen, wohin er sich entwickelt. Aber es kann immer noch schiefgehen. Er ist immer noch sehr jung und verändert sich stark. Im Moment geht aber alles in die richtige Richtung.

Wie würdest du seine Entwicklung seit seinem ersten Rennen vor eineinhalb Jahren bis heute beschreiben?
Jacques Villeneuve: Er hat auf jeden Fall Selbstvertrauen gewonnen, denn er ist offensichtlich sehr selbstbewusst. Er ist zu einem größeren Team gewechselt und hat gut auf den gestiegenen Druck reagiert. Andere Fahrer kommen zu einem größeren Team und brechen ein. Für ihn war das ein gutes Zeichen. Man muss sich nur zum Vergleich Daniil Kvyat ansehen, da lief es genau andersherum.

Was erwartest du von Verstappen in naher Zukunft und auch in den nächsten Jahren?
Jacques Villeneuve: Er ist bei Red Bull jetzt in guten Händen. Sie mögen ihn und er arbeitet gut. Das sollte gut weiterlaufen, aber dann hängt es davon ab, was auf der Rennstrecke passiert. Wenn es zu mehr Situationen wie in Ungarn kommt und vor allem gegen wen es passiert. Der kritische Punkt wird, ob die FIA zu irgendeinem Zeitpunkt damit beginnt, gegen ihn Strafen auszusprechen oder nicht.