Ein hunderttausendfacher Urschrei schallt von den Tribünen des Autodromo Carlos Pace. Felipe Massa überquert die Ziellinie, gewinnt sein Heimrennen und scheint tatsächlich das Unmögliche möglich gemacht zu haben - das WM-Wunder von Sao Paulo. Eingangs der vorletzten Runde des WM-Finales überholt Sebastian Vettel Massas WM-Rivalen Lewis Hamilton, verdrängt ihn auf Platz 6 und stößt ihn damit scheinbar vom Rennfahrerolymp.

Doch der Jubel auf den Tribünen, die unbändige Freude bei Massas Familie in der Ferrari-Box dauert nach der Zieldurchfahrt nicht an. Nur 22 Sekunden nach Massas Sieg geschieht das nächste Wunder: Lewis Hamilton überholt in der langen Zielkurve Timo Glock und rast als Fünfter und neuer Weltmeister über die Linie. "Das Rennen endet eben erst mit der Zielflagge", sagt Massa später. Allerdings nicht immer mit der Flagge für den Sieger, sondern eben manchmal erst mit der Flagge für den Fünften.

"Der Sport kann manchmal so grausam sein", trauert Stefano Domenicali mit seinem Schützling. Selbst Norbert Haug hatte nicht mehr damit gerechnet. "Es war dramatisch", so der Mercedes-Sportchef. "Ich habe gedacht: nicht schon wieder ein Punkt Rückstand." Schließlich hatte Hamilton ein Jahr zuvor an gleicher Stelle den Titel um einen WM-Punkt verloren. Diesmal gewann er mit einem Punkt Vorsprung.

Als Massa über die Ziellinie fuhr, war er Weltmeister - für 22 Sekunden., Foto: Bridgestone
Als Massa über die Ziellinie fuhr, war er Weltmeister - für 22 Sekunden., Foto: Bridgestone

"So etwas habe ich überhaupt noch nicht erlebt", gesteht Niki Lauda, selbst immerhin dreimaliger Weltmeister. "Ich war mir sicher, als Vettel vorne war, dass es vorbei wäre. Dass Glock noch überholt wurde, war die Sensation, die Lewis gebracht hat. Es war so eng, dass man bis zur letzten Kurve nicht wusste, wie es ausgehen würde."

Hoffnung durch das GPS

Das Team stand in den letzten zwei Runden, nach dem Überholmanöver von Vettel, voll unter Strom. "Es war verdammt stressig", verrät Martin Whitmarsh. "Wir wussten, dass Glock auf Trockenreifen war und Lewis ihn auf der letzten Runde einholen würde", erklärt er. Aus diesem Grund wollte man sich vor dem Überholmanöver nicht auf einen Zweikampf auf Biegen und Brechen mit Vettel einlassen. "Es war eine rutschige Bahn, Vettel ist ein junger Fahrer, der nichts zu verlieren hatte und Eindruck schinden wollte, Lewis musste das nicht", gibt Whitmarsh einen Einblick in die silberne Gedankenwelt.

Eine Berührung, ein Ausrutscher und die letzte Chance wäre verloren gewesen. "Im Trockenen wären wir vor Vettel geblieben", ist er sicher. Aber im Nassen ging der Deutsche vorbei und schien alle Träume zu zerschlagen. Am McLaren-Kommandostand waren deshalb alle Augen auf die Bildschirme gerichtet. "Wir haben auf das GPS-Signal gestarrt und damit begonnen, darüber nachzudenken, ob das wirklich richtig war", so Whitmarsh. "Wir konnten Glock auf dem GPS sehen, aber Lewis sah ihn nicht auf der Geraden." Erst in Kurve 10 machte er ihn aus.

Herzrasen bis zum Schluss

"Als Vettel vorbei war, wurde mir gesagt, ich müsste ihn überholen. Ich konnte das nicht glauben", beschreibt Hamilton, der in den letzten Runden des Rennens nicht nur mit dem Wetter und der Konkurrenz zu kämpfen hatte. Die Reifen körnten und sein Auto wurde immer langsamer. Er wollte es eigentlich nur noch ins Ziel retten, musste das aber als Fünfter schaffen - sonst wäre alles umsonst gewesen. "Mein Herz ist fast explodiert. Ich weiß nicht, wie ich cool geblieben bin."

Hamilton beschert McLaren den ersten Titel seit 1999., Foto: McLaren
Hamilton beschert McLaren den ersten Titel seit 1999., Foto: McLaren

Hamilton gab alles, versuchte Vettel zu überholen. "Aber er war genauso schnell, wenn nicht sogar etwas schneller." Glock wurde hingegen immer langsamer, weil er bei der Strategie gepokert hatte und mit Trockenreifen auf nasser Bahn draußen geblieben war. "Wir wussten, die letzte Runde wird die schwerste", erklärt Glock. "Das Auto war dann fast unfahrbar. Ich habe 1:48 gebraucht und konnte gar nichts machen." Entsprechend sah Glock keine Möglichkeit, den McLaren hinter sich zu halten. "Wenn Lewis mich nicht in der Kurve überholt hätte, dann eben auf der Geraden."

Hamilton konnte es weder begreifen noch in Worte fassen. "Als ich in der letzten Kurve an Glock vorbei gefahren bin - das war unglaublich. Ich kann nur Gott danken", sagt er nach dem der intensivsten, wenn nicht sogar schwersten Rennen seiner Karriere. Sofort wusste er aber nicht, ob es noch gereicht hatte. Stattdessen schrie er in den Funk: "Habe ich ihn, habe ich ihn?" In Kurve 1 kam dann die Erlösung: "Ich war außer mir. Es war ein Traum."