Die Rekordjagd ist neu entfacht? 2023 hat McLaren mit einem Reifenwechsel in nur 1,80 Sekunden einen neuen Boxenstopp-Weltrekord aufgestellt. Damit wurden alle Lügen gestraft, die vor zweieinhalb Jahren das Ende der Hetzerei kommen sahen. Die große Boxen-Analyse von Motorsport-Magazin.com zeigt, dass die Teams alle Bremsen in nur zwei Jahren wieder ausgehebelt haben.

Kurzer Rückblick: Nach der Sommerpause 2021 sollten eine Reihe an Regeländerungen die Boxenstopps einbremsen. Im Sinne der Sicherheit wurde festgeschrieben, dass das Freigabesignal erst kommen darf, wenn die Radmutter komplett festgezogen wurde, und auch das Auf-Grün-Schalten der Ampel wurde um eine Mindestzeit ergänzt, damit Teams nicht einfach den Prozess automatisierten, sondern ein Mechaniker den Freigabe-Knopf drückt.

Dann folgte im Winter die Regelrevolution. Neue 18-Zoll-Felgen, neue Autos, neue Handgriffe, neue Abläufe. Red Bulls 2020er-Saison mit einem Jahresschnitt von 2,43 und neun Stopps unter 2 Sekunden sowie ihr 2019 aufgestellter Rekord von 1,82 wurden als unerreichbare Bestmarken zu den Akten gelegt. 2023 belehrte McLarens Weltrekord in Katar mit 1,80 alle eines besseren.

Um die Wende zu verstehen, gilt es erst einmal den Verlust aufzurollen. Red Bull führte auch 2021 zur Saisonhalbzeit das Feld mit 2,56 an. Nach den ganzen Regeländerungen führten sie Ende 2022 das Feld noch immer an - hatten aber im Jahresschnitt verglichen zur ersten Hälfte von 2022 0,39 Sekunden verloren. Alle Teams bis auf McLaren und AlphaTauri, die gegen fundamentale Probleme in ihren Prozessen kämpften, verloren sichtbar Zeit.

Red Bull holte 0,34 der 0,39 verlorenen Sekunden über 2023 hinweg wieder zurück. Ihre durchschnittliche Standzeit von 2,61 ist die drittbeste Saison des Teams nach 2020 (2,43) und 2019 (2,60). Auch die Vorstellung, dass es nun eine unüberwindbare Grenze im Bereich von 2 Sekunden gebe, hat McLaren mit dem 1,80-Stopp torpediert.

Die schnellsten Boxenstopps der Formel-1-Saison 2023

P.TeamZeitRennen
1McLaren1,80Katar
2Ferrari1,93Katar
3Red Bull1,98Ungarn
4McLaren1,99Las Vegas
5McLaren2Katar
6Red Bull2,01Niederlande
7McLaren2,01Ungarn
8McLaren2,07USA
9Red Bull2,07Spanien
10McLaren2,10Österreich

Der Boxenstopp von 1,80 Sekunden von McLaren in Katar ist der aktuelle Weltrekord.

Sind die Boxenstopps aber tatsächlich auf Kurs, schneller denn je zu werden? So einfach ist das nicht. Tatsächlich waren unter den alten Regeln nur Red Bull und Williams lange am Limit des Machbaren unterwegs, dank Investitionen in Equipment und Mannschaft. Williams stürzte durch die Regeländerungen ab, auf welche die ressourcenarmen Nachzügler wohl nur schwer ausreichend reagieren konnten. Von 7 verlorenen Zehnteln gewannen sie bisher nicht einmal 2 wieder zurück.

Am anderen Ende des Feldes begann dafür ein kleines Wettrüsten. Basierend auf der Erkenntnis: Ein verlässlich 3 Zehntel schnellerer Boxenstopp macht das Strategieleben viel leichter. Ferrari, gefolgt von McLaren, arbeitete von 2020 bis 2022 hart, mit neuem Equipment, neuer Aufstellung, neuem Training. 2020 verloren beide im Jahresschnitt über eine Sekunde pro Stopp auf Red Bull. 2023 sind es nur mehr gut zwei Zehntel.

Die letzten Zehntel des perfekten Stopps sind trotzdem härter zu finden. Red Bull ist der beste Vergleichswert. Als das einzige Team, welches sowohl unter den alten als auch den neuen Regeln immer am Limit operierte. Die zwei Zehntel große Red-Bull-Verschiebung von 2,43 (2020) auf 2,61 (2023) suggeriert tatsächliche Auswirkungen der Änderungen. Und auch, dass Red Bull 2023 nur einen Stopp unter 2 Sekunden schaffte, entgegen der 9 von 2020. Um in diese Gefilde vorzustoßen, muss heute schon wirklich alles perfekt laufen.

Können McLaren & Ferrari eine Gefahr für Red Bull werden?

Daraus ergibt sich ein Fazit: Stopps wurden schwerer, aber die Teams sind heute schlichtweg besser aufgestellt. 2020 war Red Bull dem Feld weit enteilt. 2023 ist McLaren das Team mit dem schnellsten Stopp des Jahres. Wobei sich der "Weltrekord"-Aufkleber auf der Box natürlich gut macht, aber in Wahrheit sind Rekorde und Stopps unter 2 Sekunden nur ein Marketing-Tool. Seltene Ausreißer, bei denen alle Zahnräder perfekt ineinandergreifen. Sportlich viel wertvoller ist, wie verlässlich man unter 3 Sekunden stoppen kann.

Hier gibt Red Bull nach wie vor den Ton an. Ein RB19 fuhr nicht nur in 55 Prozent aller Fälle nach weniger als 2,5 Sekunden wieder los, das Team hat 2023 auch den eigenen Bestwert für die geringste Fehlerquote über den Saisonverlauf eingestellt. Nur bei zwei von 75 regulären Stopps stand das Auto länger als 3,5 Sekunden still.

McLaren und Ferrari wurden in den letzten zwei Jahren zwar schnell und verlässlich und haben sich vom Rest gelöst, aber so schnell und verlässlich sind sie auch wieder nicht. 6 Fehlerstopps bei Ferrari und 8 bei McLaren. Außerdem suggerieren die Daten einen Hang bei McLaren, dass ein Handgriff einmal danebengeht - und das Auto dann in 20 Prozent der Fälle zwischen 3 und 3,5 Sekunden steht. Auch das ist in einem direkten Duell schon zu lange.

Böses Erwachen für Mercedes

Auch Aston Martin identifizierte die Baustelle und hat - nachdem man 2022 durch die Regeländerung fast 7 Zehntel verlor - 2023 zumindest 3 wiedergewonnen. Hier ist man aber noch einen Schritt hinter den direkten Konkurrenten. Doch nicht jeder war sich dieser Entwicklung bewusst. Für Mercedes war 2023 ein böses Erwachen.

Jahrelang setzte die Mannschaft auf eine ruhige Hand. Auch mit der Umstellung von 2022. Man verlor 3 Zehntel. Und blieb dort hängen. Das Rennen auf der Jagd nach der Perfektion überrollte Brackley. 2023 reichte das alte Credo der Verlässlichkeit nicht mehr, weil die Konkurrenz allesamt eilt, die verlorene Zeit wettzumachen.

Dass Mercedes nichts anders macht als in den Jahren, sieht man in der Fehlerquote: 6 Prozent über 4 Sekunden, nur Red Bull ist besser. Aber die "guten" Stopps sind seit den Regeländerungen so langsam, dass sie im Falle des ersten verpassten Griffs schon über 3,5 Sekunden dauern. Das ist nicht mehr zeitgemäß, bei der Konkurrenz wird das schon als grob fehlerhaft abgestempelt. Teamchef Toto Wolff räumte im Herbst ein, dass Mercedes die Zeichen der Zeit verpasst hatte und reagieren würde.

Mit Mercedes im Boot sitzt Alpine. Dort braucht es aber erst einmal einen fixen Sportdirektor, nachdem man sich im Sommer vom jahrelangen streckenseitigen Rennleiter Alan Permane getrennt hat. Wirklich schlechte Boxenstopps, so muss man fairerweise aber zum Abschluss sagen, findet man inzwischen nur mehr am Ende des Feldes. Dort, wo man die Ressourcen für das Wettrüsten nicht hat.

Haas ist Fehlermeister, mit 17 Stopps über 4 Sekunden. Das ist noch schlimmer als im Vorjahr. Wohl hat man sich damit etwas schnellere Stopps erkauft. 2022 hatte man noch 0 unter 3 Sekunden, 2023 sind es immerhin 16. Sauber und Williams sind besser, aber auch nicht gut. Zumindest Sauber kündigt mit neuem Equipment für 2024 einen Einstieg in das Wettrüsten an. Inzwischen kann es sich kein Team mit Ambitionen mehr leisten, einfach nur Fehler auszumerzen. Perfektion ist der neue Standard.