Eine derartige Klatsche hat Andre Lotterer in mehr als 20 Jahren professionellem Motorsport noch nie zuvor erlebt. Zu behaupten, dass der 41-Jährige seinem Andretti-Teamkollegen und Weltmeister Jake Dennis in der Formel-E-Saison 2023 unterlegen war, grenzt an einer Untertreibung.

Die reinen Zahlen sind eine Voll-Katastrophe aus Lotterers Blickwinkel: Er schloss das Jahr mit 23 WM-Punkten ab - sein britischer Teamkamerad sammelte in der gleichen Zeit 229 Zähler. Das sind geschlagene 206 (zweihundertsechs) Punkte mehr! Während Dennis mit elf Podestfahrten einen neuen Formel-E-Rekord aufstellte, schaffte es der Old-School-Racer Lotterer kein einziges Mal aufs Treppchen.

Ein Nachwuchsrennfahrer könnte an solch einem Debakel leicht zerbrechen, doch Lotterer steckte die teaminterne Niederlage rückblickend mit einer gewissen Portion Gelassenheit weg. Natürlich dürfte es ihn gefuchst haben, mit einem der stärksten und vielleicht sogar dem besten Auto im Feld derart unter die Räder gekommen zu sein. Das Fahren habe er schließlich nicht verlernt, sagte Lotterer beim Saisonfinale in London.

Andererseits muss ein Andre Lotterer mit seinen drei Gesamtsiegen bei den 24 Stunden von Le Mans (2011, 2012, 2014), einem Formel-1-Start (2014), zwei Super-GT-Meisterschaften (2006, 2009) und dem Titelgewinn in der Formel Nippon (2011) auch niemandem mehr etwas beweisen. Und mit seinen Einsätzen als Porsche-Werksfahrer in der Langstrecken-Weltmeisterschaft WEC hat Lotterer dieses Jahr sein Ziel erreicht, nach 2017 erneut mit Porsche in Le Mans antreten zu können.

Andre Lotterers Formel-E-Ergebnisse

SaisonTeamGesamtplatzErfolge
2017/18TecheetahP82 Podien
2018/19DS TecheetahP82 Podien, 1 Pole
2019/20PorscheP82 Podien, 1 Pole
2020/21PorscheP171. FE-Podium für Porsche
2021/22PorscheP121 Podium
2022/23Andretti-PorscheP18anwesend

"Hatte noch nie einen so talentierten Teamkollegen"

Trotz der Team-Klatsche bewies der erfahrene Lotterer Größe und hob Dennis verbal auf den Thron. "Jake war einfach auf einem anderen Niveau", sagte der gebürtige Duisburger zu Motorsport-Magazin.com. "Er hat alles selber gemeistert und war besser als alle anderen. In meiner ganzen Karriere hatte ich noch nie einen so talentierten Teamkollegen. Es ist beeindruckend, was er drauf hat, und ich freue mich für ihn."

Ein solches Lob kann sich Dennis, der den Formel-E-Titel in seiner erst dritten Saison errang, ans Revers heften. Schließlich hatte Lotterer in seinen bisherigen sechs Jahren in der Elektro-Rennserie den zweifachen Meister Jean-Eric Vergne (in zwei Jahren bei Techeetah) sowie den früheren DTM-Champion und Formel-1-Fahrer Pascal Wehrlein (in drei Jahren bei Porsche) an seiner Seite. Lotterer: "In der gesamten Formel-E-Geschichte gab es nie einen Fahrer wie Jake, der über die ganze Saison so deutlich gemacht hat, dass er immer da ist."

Kamen gut miteinander aus: Andre Lotterer und Jake Dennis bei Andretti, Foto: LAT Images
Kamen gut miteinander aus: Andre Lotterer und Jake Dennis bei Andretti, Foto: LAT Images

Dennis über Lotterer: "Habe so viel von ihm gelernt"

Nun ist es nicht so, dass Lotterer um Welten schlechter gewesen wäre als Dennis. Zumindest nicht so sehr wie es die reinen Ergebnisse vermuten lassen. Oft fehlte nicht viel zwischen den beiden Andretti-Piloten, doch in den entscheidenden Momenten - allen voran im Qualifying - bekam es Lotterer zu oft nicht auf die Reihe und geriet während der Rennen im extrem engen, unfallträchtigen Mittelfeld in Schwierigkeiten.

"Es war eine schwierige Saison für Andre", sagte Dennis, der 2024 bei Andretti bleiben wird, zu Motorsport-Magazin.com. "Er war in jeder Rennserie so talentiert und hatte neben Pascal ein tolles letztes Jahr (bei Porsche; d. Red.). Es gab ein paar Dinge, die ihm im Weg standen. Vielleicht lag das neue Auto seinem Stil nicht so sehr. Dann gab es auch ein paar Fehler, die man von außen nicht immer sieht. Ein Verbremser hier und da, und schon stehst du im Qualifying auf P15. Aber er weiß, wie man Auto fährt. Ich habe so viel von ihm gelernt, er ist auf und neben der Strecke ein toller Typ. Ich wünsche ihm nur das Beste."

Lotterer: Sieht nicht gut aus, wenn Teamkollege dich bügelt

Vielleicht wäre die Saison ganz anders verlaufen, hätte Lotterer an seinen vierten Platz beim Auftakt in Mexiko-City anknüpfen können. Während Dennis das Rennen gewann und munter weitermachte, geriet Lotterer immer mehr ins Hintertreffen. In den ersten sieben Rennen fuhr er fünfmal in die unteren Punkteränge - in den folgenden neun ePrix inklusive des verpassten Jakarta-Wochenendes (Überschneidung mit Le-Mans-Test) dann nie wieder.

Einen möglichen Titelkampf mit dem starken Andretti-Porsche musste Lotterer somit früh abhaken. "Ich habe mich dann einfach auf mich konzentriert", sagte er. "Das ist schwer genug, in so einer Situation mit schlechten Ergebnissen klarzukommen. Wenn man bei den Punkten auf Augenhöhe ist, dann ist es etwas anderes. Natürlich schaut es nicht gut aus, wenn dein Teamkollege dich bügelt. Aber Jake war dieses Jahr auch überragend. Es wäre egal gewesen, wer in dieser Situation an seiner Seite ist."

Warum es bei Lotterer, der in 81 Formel-E-Rennen seit Ende 2017 immerhin acht Podestplätze - darunter siebenmal P2 - erzielte, so überhaupt nicht laufen wollte, darüber rätselte er selbst: "Ich hatte auch mehr erwartet. Das ist eine Akkumulation von mehreren Dingen. Wenn es nicht an mir lag, war irgendwas mit dem Auto. Dann verliert man den Rhythmus. Vielleicht wollte ich es zu sehr gutmachen, habe zu viel überlegt und war dann nicht mehr im Fluss. Bei Jake war es genau das Gegenteil: Wenn du so viel Selbstvertrauen hast und im Fluss bist, läuft es einfach. Schade, denn die Voraussetzungen mit dem Auto und dem Team waren da."

Andre Lotterer erlebte eine Katastrophen-Saison 2023 in der Formel E, Foto: LAT Images
Andre Lotterer erlebte eine Katastrophen-Saison 2023 in der Formel E, Foto: LAT Images

Lotterer vor Formel-E-Abschied nach sechs Jahren

Im vergangenen Jahr hatten bereits viele Fans und Beobachter damit gerechnet, dass Lotterer im Zuge seines WEC-Programms mit Porsche nicht noch eine weitere Saison in der Formel E dranhängen würde. Motorsport-Magazin.com hatte jedoch frühzeitig andere Informationen erhalten und behielt Recht, als Lotterer für 2023 zum neuen Porsche-Kundenteam Andretti stieß. Der Rennsport-Veteran war mit all seiner Erfahrung das perfekte Bindeglied für die neugeschaffene Partnerschaft mit dem Porsche-Werksteam, und verstand seine Rolle auch entsprechend.

Dass Lotterer 2024 ein weiteres Jahr in der Elektro-WM bestreitet, gilt als kaum vorstellbar. Sein Job als Porsche-Andretti-Vermittler ist erfolgreich abgeschlossen, mit der Langstrecke hat er ohnehin eine andere Beschäftigung auf höchstem Niveau. "Ich weiß nicht, ob es nächstes Jahr weitergeht", schob er voran, wohl bereits im Wissen um seinen Abschied. "Wenn es so ist, dann bin ich dankbar, dass ich in diesem späten Status meiner Karriere in dieser Serie fahren konnte. Es ist natürlich schade, dass ich keinen Sieg einfahren konnte, es war öfters knapp (siebenmal Platz zwei, d. Red.)."

Jake Dennis, Andretti und Orlando Bloom beim Formel-E-Rennen in London
Andre Lotterer, Jake Dennis und Michael Andretti treffen Hollywood-Star Orlando Bloom, Foto: LAT Images

Lotterer: Rennen chaotisch - macht nicht unbedingt Spaß

Lotterer genoss das teils taktische und teils robuste Racing in der Formel E seit seinem ersten Rennen im Dezember 2017 in Hongkong (Disqualifikation, weil er aus noch nicht abgeschaltetem Auto ausstieg - "Da war kein Motorsound"), damals noch an der Seite seines guten Kumpels Jean-Eric Vergne bei Techeetah. Auch das besondere Flair der Serie mit ihren Rennen in angesagten Metropolen missfiel ihm nicht, um es einmal so auszudrücken. Lotterer erwies sich häufig als Teamplayer, packte aber auch die Ellbogen aus, wenn er selbst am Titelgewinn schnupperte, wie in der starken Saison 2018/19.

Mit der sehr speziellen Art des Rennfahrens unter dem neuen Gen3-Auto - Stichwort: Energiesparschlacht und Ziehharmonika-Effekt - tat sich Lotterer dieses Jahr, wie einige andere etablierte Fahrer auch, jedoch schwer: "Die Rennen sind jetzt ziemlich chaotisch. Das macht nicht unbedingt immer Spaß. Das würde ich nicht vermissen, wenn ich nicht mehr fahren sollte. Aber das ganze Drumherum, Stadtkurse fahren und die Qualifyings, das ist schon cool. Wenn ich noch mal die Chance bekomme, einen Reset zu machen, würde ich versuchen, mit einem besseren Urteil auszusteigen."

Andre Lotterers Karriere in der Formel E

StatistikBilanz
Rennen 81 seit 2017 für Techeetah, Poesche und Andretti
Siege0
Podestplätze8 (siebenmal P2)
Pole Positions2 Rom 2019, Mexiko 2020)
Schnellste Rennrunden4
Punkte365 (13-meiste aller Fahrer)