Nach sechs Jahren und 81 Rennen ist Feierabend: Andre Lotterer hat seine Karriere in der Formel E offiziell beendet. Der 41-Jährige gehörte während seiner Zeit bei Techeetah, Porsche und zuletzt Andretti-Porsche zu den prägenden Gesichtern der Elektro-Rennserie und wies unter anderem mit drei Siegen in Le Mans eine der erfolgreichsten Motorsport-Karrieren im Fahrerfeld auf.

Ein Sieg in der Formel E blieb Lotterer verwehrt, mit sieben zweiten Plätzen schrammte der gebürtige Duisburger mehrfach haarscharf dran vorbei. Der Racer der alten Schule zählte auf der Rennstrecke mit seinem robusten Fahrstil nicht immer zu den beliebtesten Fahrern, abseits der Piste sah es ganz anders aus: Die meisten Fahrerkollegen schätzten Lotterer für seine offene Art, Herzlichkeit und die gewisse Portion Lockerheit, mit der er das Abenteuer namens Formel E Ende 2017 erstmals in Angriff nahm.

Hatte auch Lotterer, der seine Karriere mit Porsche in der WEC fortsetzt, die Formel E in ihren Anfangsjahren eher belächelt, fand er schnell Gefallen an den Elektro-Rennen in den Metropolen rund um den Globus. Der Motorsport-Veteran fuchste sich schnell rein in das eher unübliche Racing mit dem Fokus aufs Energiesparen und hatte seinen Spaß auf den engen Stadtkursen. Lotterer präsentierte sich deutlich technikaffiner als manche Beobachter von außen glauben mochten und ließ seine Erfahrung sowie Expertise einfließen.

Motorsport-Magazin.com begleitete Lotterer seit seinem ersten Formel-E-Rennen in Hongkong am 02. Dezember 2017 häufig vor Ort an den Rennwochenenden und beobachtete seinen Karriereweg hautnah. MSM-Reporter Robert Seiwert erinnert sich im Zuge von Lotterers Formel-E-Abschied nach sechs Jahren an 5 prägende Erlebnisse und Highlights.

MSM-Reporter Robert Seiwert begleitete Andre Lotterers Karriere in der Formel E, Foto: Jean-Michel Le Meur
MSM-Reporter Robert Seiwert begleitete Andre Lotterers Karriere in der Formel E, Foto: Jean-Michel Le Meur

Highlight #1: Lotterers irres Formel-E-Debüt

Einen bleibenden Eindruck in der Formel E hinterließ Lotterer gleich bei seinem ersten Rennen am 02. Dezember 2017 in Hongkong - allerdings mehr bei der Rennleitung als in den Ergebnislisten. Auf dem spektakulären Hafenkurs - die Anreise erfolgte per Fähre - schaffte der Techeetah-Neuzugang das 'Kunststück', vier Strafen innerhalb nur eines Rennens zu kassieren!.

Am kuriosesten war sicherlich die Disqualifikation vom Samstagsrennen. Formel-E-Neuling Lotterer hatte tatsächlich vergessen, seinen Techeetah-Boliden nach Rennende im Parc Fermé ordnungsgemäß abzuschalten und das Auto stattdessen im 'Ready to move'-Modus gelassen. "Ich bin es ja eigentlich gewohnt, den Motor zu hören", sagte mir Andre damals mit einem Schmunzeln im Gesicht.

Schon vor dem Rennstart hatte sein damals noch privates Techeetah-Team um Teamchef Mark Preston einen Fehler begangen und das Kühlsystem in der Startaufstellung nicht rechtzeitig vom Auto entfernt. Dafür kassierte Lotterer eine 5-Sekunden-Boxenstoppstrafe. Dass Lotterer im Rennen zweimal in der Schikane abkürzte und nicht - wie im Fahrer-Briefing vorgegeben - das Auto kurz stoppte und erst dann weiterfuhr, führte zu zwei weiteren Durchfahrtsstrafen. Was für ein Einstand...

So eine tolle Strecke: Die Formel E 2017 in Hongkong, Foto: LAT Images
So eine tolle Strecke: Die Formel E 2017 in Hongkong, Foto: LAT Images

Highlight #2: Techeetah-Wahnsinn in Santiago

Das vierte Rennen der Saison 2017/18 in Santiago de Chile am 03. Februar 2018 hätte allein Stoff für eine ganze Netflix-Serie geboten. Im Reigen der großen Hersteller trumpfte das vergleichsweise kleine Renault-Kundenteam Techeetah groß auf: Jean-Eric Vergne und Andre Lotterer errangen in Santiago den ersten Doppelsieg eines Rennstalls in der Geschichte der Formel E. Für Lotterer war es gleichzeitig der erste Podestplatz nach zuvor drei punktlosen Rennen.

Der Weg dorthin war mehr als spektakulär: In der drittletzten Runde griff Lotterer den Führenden Vergne beherzt an, es kam sogar zum Kontakt der beiden Teamkollegen. Was in einem Debakel und Totalausfall hätte enden können, ging als einer der tollsten Zweikämpfe in die Geschichte der Formel E ein. "Das war heiß! Jev ist ein Top-Teamkollege, aber auf der Strecke gibt es keine Geschenke", sagte Andre später begeistert.

Kurios: Die heikle Szene konnte die Techeetah-Truppe am Kommandostand gar nicht richtig mitverfolgen, weil die Übertragungssysteme ausgefallen waren. Ebenso verrückt: Wahrscheinlich wäre es gar nicht erst zu dem brenzligen Zwischenfall zwischen Lotterer und Vergne gekommen, hätte Letzterer nicht eine falsche Anzeige auf dem Dashboard gehabt. Vergne hatte nach dem Autowechsel - den gab es damals noch - Gas rausgenommen, weil er dachte, noch eine weitere Runde fahren zu müssen. Dabei war tatsächlich nur die Anzeige defekt und hatte eine falsche Rundenzahl angezeigt.

Vergne legte mit dem Santiago-Sieg den Grundstein für den späteren Meisterschaftsgewinn und fand in Lotterer einen äußerst loyalen Teamkollegen, der schon nach dem vierten Saisonrennen versprach: "Er ist weit vorne in der Meisterschaft und da ich so wenige Punkte habe, ist das ein Vorteil für ihn für den Fall, dass ich ihm entgegenkommen kann. Damit hätte ich in der Situation jetzt kein Problem. Natürlich, wenn es um Siege geht, dann sind wir trotzdem Racer."

Übrigens: Techeetah musste nach dem Rennende geschlagene fünf Stunden um den Doppelsieg bangen. Bei beiden Autos stellte die Rennleitung eine unerlaubte Modifikation an den FIA-homologierten Gurt-System fest. Vergne und Lotterer durften die Plätze eins und zwei zwar behalten, ihr Techeetah-Team musste allerdings 30.000 Euro Strafe zahlen - bis heute eine der höchsten Geldstrafen in der Geschichte der Formel E.

Santiago de Chile 2018: Vergne und Lotterer feiern den Techeetah-Doppelsieg, Foto: LAT Images
Santiago de Chile 2018: Vergne und Lotterer feiern den Techeetah-Doppelsieg, Foto: LAT Images

Highlight #3: Seltene Freunde

Freundschaften unter Profi-Rennfahrern gibt es nicht allzu häufig. Bei Andre Lotterer und Jean-Eric Vergne war es anders, die beiden wurden im Verlauf der Jahre zu echten Freunden. Nach zwei gemeinsamen Saisons bei Techeetah und Lotterers lange feststehendem Wechsel zu Neueinsteiger Porsche, trennten sich die Wege von "JeAndre", wie das Duo in den sozialen Medien gern bezeichnet wurde. Ihre Freundschaft blieb bis heute erhalten.

"Wir sind zwei komplett verschiedene Charaktere, haben aber sehr ähnliche Lebensstile und mögen die gleichen Sachen", sagte mir Andre im Juli 2019 kurz vor seinem Wechsel zu Porsche. "Wir verstehen uns sehr gut, wenn wir auf Reisen sind und waren immer auf der gleichen Seite. Wir saßen beim Simulator-Fahren oft drei, vier Tage in diesem Loch und haben es trotzdem geschafft zu lachen!"

Lotterer wusste Vergnes Offenheit in seinem Rookie-Jahr in der Formel E stets zu schätzen. Daran änderte auch der Santiago-Vorfall nichts. Vom immer stärker werdenden Lotterer, der 2019 zeitweise sogar auf Titelkurs lag, profitierte am Ende auch Vergne auf dem Weg zu seinen zwei Formel-E-Titelgewinnen. Der im Umgang nicht immer einfache Franzose bezeichnete Lotterer ehrlich als "den besten Teamkollegen, den ich jemals hatte". Kein Wunder, dass Lotterer vor Kurzem zu den Gästen bei Vergnes Hochzeitsfeier zählte.

Freunde im echten Leben: Andre Lotterer und Jean-Eric Vergne, Foto: LAT Images
Freunde im echten Leben: Andre Lotterer und Jean-Eric Vergne, Foto: LAT Images

Highlight #4: Erste Pole und erstes Podest mit Porsche

Andre Lotterer gilt als einer der loyalsten Rennfahrer und stand parat, als sein Arbeitgeber Porsche für das Formel-E-Debüt 2019/20 einen Mann mit Erfahrung brauchte. Dabei lag dem gebürtigen Duisburger, so hatte ich damals gehört, ein höchst lukratives Angebot von Techeetah vor. Ohnehin galt sein Vertrag mit dem damals noch reichen Privatrennstall für drei Jahre, doch per Option konnte Lotterer vorzeitig zu Porsche wechseln.

Ein Wechsel mit Risiko, schließlich hatte Porsche im Gegensatz zum weiteren Neueinsteiger Mercedes auf eine 'Vorhut' - bei den Silberpfeilen war es HWA - verzichtet und ging als einziges Team komplett ohne Vorerfahrung an den Start. Und vor allem verließ Lotterer mit Techeetah bzw. DS Techeetah das Team, das gerade zweimal in Folge die Fahrer-Meisterschaft gewonnen hatte!

Erstes Foto: Andre Lotterer fährt wieder für Porsche, Foto: Porsche AG
Erstes Foto: Andre Lotterer fährt wieder für Porsche, Foto: Porsche AG

Doch 911er-Fan Lotterer blieb Porsche gegenüber loyal und fuhr sein erstes Rennen seit 2017 für die Zuffenhausener. Damals noch im LMP1-Auto, bevor das Projekt zugunsten der Formel E eingestellt wurde. Dabei hatte Lotterer eigentlich gehofft, viele Jahre lang mit Porsche in Le Mans antreten zu können, um nach seinen vorangegangenen drei Siegen mit Audi noch einmal triumphieren zu können. Dann eben in der Formel E...

Und Lotterer lieferte an der Seite von Teamkollege Neel Jani das ab, was sich Porsche beim Elektro-Debüt zum Ziel gesetzt hatte: einen Podestplatz gleich beim Saisonauftakt in Saudi-Arabien sowie wenig später die erste Pole Position in Mexiko-City. Die Saison endete wegen der ausgebrochenen Corona-Pandemie verkürzt mit einem irren Finale in Berlin (6 Rennen in 9 Tagen), in dem ausgerechnet Lotterers Techeetah-Nachfolger Antonio Felix da Costa den Titel holte.

Andre Lotterer bescherte Porsche das erste Formel-E-Podest, Foto: LAT Images
Andre Lotterer bescherte Porsche das erste Formel-E-Podest, Foto: LAT Images

Highlight #5: Es hätte Lotterers Sieg sein sollen

"Schade, dass es nicht mit einem Sieg geklappt hat. Ich war mehrmals knapp dran." So blickte Andre nach dem diesjährigen Saisonfinale in London im ausführlichen Gespräch mit mir zurück. Und Recht hatte er: Bei sieben seiner insgesamt acht Podestfahrten belegte er den zweiten Platz!

Sein letzter Podesterfolg am 12. Februar 2022 in Mexiko-City dürfte ihm am längsten in Erinnerung bleiben. Es war jener Tag, an dem Porsche nach zuvor zwei sieglosen Saisons in seinem 29. Formel-E-Rennen endlich den ersten Sieg holte. Das aber nicht durch Lotterer, sondern in Form von Teamkollege Pascal Wehrlein.

Ich glaube bis heute: Dieser Sieg hätte eigentlich Lotterer gehören sollen. In Mexiko fuhren die Porsche in einer eigenen Liga und düpierten den Rest des Feldes mit über 9 Sekunden Vorsprung. Lotterer gab den Teamplayer und verzichtete in der Schlussphase auf einen Angriff gegen Vordermann Wehrlein. Und das, obwohl er sich mit etwas mehr Energie im Auto durchaus gute Chancen hätte ausrechnen können.

Es war eine reine Machtdemonstration von Porsche in Mexiko, Foto: LAT Images
Es war eine reine Machtdemonstration von Porsche in Mexiko, Foto: LAT Images

Der Porsche-Kommandostand hatte für die Schlussphase des Rennens eine Teamorder durchgefunkt - und Lotterer hielt sich daran. Verständlich, dass Porsche auch unter den Augen der mitgereisten Vorstands-Mitglieder Michael Steiner und Andreas Haffner den lange erwarteten Triumph nicht aufs Spiel setzen wollte.

Dass echte Racer wie Lotterer einen möglichen Sieg abtreten, muss trotzdem wehgetan haben - siehe Santiago 2018. Wäre ihm im Qualifying nur nicht dieser kleine Fahrfehler unterlaufen, der ihm den dritten Startplatz einbrachte, während Wehrlein auf Pole fuhr... "Ich hatte mehr Energie und sicherlich hätte ich am Ende eine gute Gelegenheit gehabt, in Führung zu gehen. Aber wir haben als Team gespielt", blieb Andre diplomatisch. Dass dieser zweite Platz das letzte Podium seiner Formel-E-Karriere bedeuten würde, damit hatte er zu diesem Zeitpunkt wohl nicht gerechnet.

Porsche feiert den historischen Doppelsieg in Mexiko, Foto: Porsche
Porsche feiert den historischen Doppelsieg in Mexiko, Foto: Porsche