"Ich habe den dunklen Raum vermisst", sagt Nico Hülkenberg mit einem Lächeln in die Kamera. "Es ist wie ein elektrischer Stuhl", bestätigt Alex Albon. Klappe. Staffel 6 von 'Drive to Survive' auf Netflix. Zumindest bis die Regieklappe den Geist aufgibt. Ist sie kaputt? Lando Norris war's. Wer sonst? Wie beim Siegerpokal von Max Verstappen in Ungarn.

Wer sich mehr solche witzigen Szenen, echte Einblicke hinter die Kulissen und einen klitzekleinen Eindruck davon, wie die F1-Stars wirklich sind, erhofft, der bekommt davon in der neuen Staffel ein paar mehr geboten. Für meinen Geschmack aber deutlich zu wenige. Für die sechste Season der Netflix-Erfolgs-Show gelten zwei altbekannte Formeln: "Never Change A Winning Team" und "More of the same".

Drive to Survive: Ausgelutschte Formel

McLaren Boxencrew wird von Netflix-Crew belauscht
Netflix blickt hinter die Kulissen der Formel 1 - oder?, Foto: Dan Vojtech/Netflix

Das muss bei weitem nicht schlecht sein. Im Gegenteil. Das Problem bin ich. Wem die Staffeln 1-5 gefallen haben, der wird auch mit Staffel 6 seinen Spaß haben. Als Formel-1-Fans verschlingen wir bekanntlich gerne alles, was es über unsere Lieblingsrennserie in Erfahrung zu bringen gibt. Dennoch würde der Serie eine Blutauffrischung, eine Frischzellenkur, eine Erneuerung des Formats guttun.

Stil, Format, Präsentation. Alles seit Staffel 1 größtenteils unverändert. Oftmals austauschbar. Und definitiv kein wirklicher Blick hinter die Kulissen. Oft fehlt der Fokus auf ein bestimmtes Thema, eine Storyline abseits der Tatsache, dass sich diese Folge mit einem oder zwei bestimmten Teams beschäftigt, deren Saisonverlauf oder wichtigste Ereignisse nacherzählt werden. Wer die Saison im Vorjahr verfolgt hat, erfährt hier nichts Neues. Ein Grundproblem eines Rückblicks-Formats bei Sportveranstaltungen.

Vielleicht wären kürzere Episoden eine Lösung, da viele Folgen für mich zu Beginn durchaus interessant sind, dann aber ein stetiger Spannungsverlust über die Laufzeit zu verzeichnen ist. Eine Straffung könnte Abhilfe schaffen. Verrückterweise sind es ausgerechnet die Rennszenen, die mich am wenigsten interessieren oder mitreißen. Schließlich haben wir das alles schon live gesehen. Erneut: das Grundproblem eines Saisonrückblicks.

Formel 1 lebt von Emotionen - aber wo sind sie?

Günther Steiner schreibt seinen Fans Autogramme
Günther Steiner spielte in Season 6 keine besondere Rolle, Foto: Dan Vojtech/Netflix

"Endlich mal eine Dokumentation, die nicht meine eigene ist", sagt Hollywood-Star Ryan Reynolds bei einem Besuch des Alpine Teams mit seinem Trademark-Humor. Das dürfte er wohl doppelt bereuen: wenn er 1.) verarbeitet hat, dass er Anteile an Alpine gekauft hat und 2.) sieht, dass 'Drive to Survive' mit seiner 'eigenen' Doku-Serie "Welcome to Wrexham' nicht mithalten kann. Diese ist deutlich unterhaltsamer und menschlicher. Weckt mit ihren Storylines Emotionen für die Beteiligten. Egal, ob Spieler, Verantwortliche oder Fans. Echte Emotionen beim Zuschauer? Mitfiebern mit den Tiefschlägen, großen sowie kleinen Erfolgsmomenten der Protagonisten? Bei DTS: Fehlanzeige.

Neben den Fahrern und Teamverantwortlichen tauchen auch in Season 7 wieder einige bekannte Gesichter auf, etwa Journalisten oder Rennsportveteranen. Danica Patrick soll wohl für das amerikanische Zielpublikum als Identifikationsfigur dienen. Inwiefern man ihren Ausführungen über das Innenleben von Formel-1-Rennfahrern Glauben schenken mag, bleibt jedem selbst überlassen.

Auch Claire Williams erhält viele Auftritte, von einer Ex-Teamchefin hätte ich mir jedoch mehr erwartet - nicht nur bezogen auf ihre Performances bei Williams, sondern explizit mit tatsächlichen Einblicken hinter die Kulissen eines F1-Rennstalls. Beide tragen kaum bis gar nicht zu spannenden Storys bei. Damit reihen sie sich in eine Reihe mit Will Buxton ein, dem Dritten im "Experten"-Bunde. Gefühlt wurde die Anzahl der Experten ohnehin schon reduziert, vielleicht wäre dies also ein guter Ansatzpunkt für eine weitere Straffung des Formats. Wir erinnern uns: Kürzere Laufzeit, weniger Leerlauf.

Aber genug der (aus meiner Sicht) negativen Aspekte. Der Production Value und die Cinematography der Serie sind weiterhin über alle Zweifel erhaben. Wirken allerdings nicht mehr so frisch und einzigartig wie vielleicht in den ersten paar Staffeln, in denen sie herausstachen. Originelle Szenen wie die Drohnen-Flüge über die Kartbahn in Kerpen aus der Michael Schumacher Dokumentation der ARD sucht man in DTS vergebens. Hier sind die DTS-Produzenten quasi Opfer ihres eigenen Erfolgs. Sie haben es vorgemacht, andere nachgezogen. Nun sind sie mit dem nächsten Schritt am Zug.

Drive to Survive, Staffel 6: Ein bisschen mehr Realität, bitte!

Lando Norris in der sechsten Staffel von Drive to Survive
Fahrer im privaten Umfeld? Gerne mehr davon!, Foto: Netflix

Dafür gibt es natürlich wieder viel Drama. Jede. Menge. Drama. Nach der Kritik an den Vorgängerstaffeln wirkt es diesmal nicht ganz so massiv überzogen. Tatsächlich zeigt sich dadurch sogar, wie viel Drama die Formel-1-Saison 2023 trotz der Red-Bull-/Verstappen-Dominanz zu bieten hatte. Ärger bei Alpine. Überlebenskampf bei Haas. Hamilton Verhandlungen bei Mercedes. Mehr Ärger bei Alpine. Die Erfolgsserie von Red Bull und Verstappen verkommt tatsächlich zum Epilog der letzten Folge.

Dennoch lässt sich das Gefühl nicht abschütteln, das viele der Szenen und Momente nicht echt sind. Würden sich Lando Norris und Zak Brown beim Golfspielen wirklich exakt so unterhalten, wenn sie nicht verkabelt und von Kameraleuten umgeben wären? Sollen wir wirklich denken, dass wir beim Vertragsgespräch zwischen Lewis Hamilton und Toto Wolff dabei waren? Bei vielen dieser Szenen lautet meine interne Antwort: Das kaufe ich nicht ab. Daran habe ich längst den Glauben verloren.

Im Gegenzug gibt es aber auch Momente, die sich echt anfühlen. Wenn James Vowles mit seinen Mechanikern in der Box spricht oder einen ausführlichen Kaffee-Exkurs gibt, den wir sonst in dieser Form nur von unserem Christian kennen (der übrigens für wenige Sekunden mal wieder einen Cameo in der Serie hat. Wer hat ihn gesehen?). Wenn wir die starke Dynamik zwischen Günther Steiner und Nico Hülkenberg erleben, die Nico in unserem Interview (aktuelle Ausgabe des Motorsport-Magazins hier bestellen) selbst angesprochen hat. Oder wenn Lewis Hamilton bei Werbedreharbeiten in Stuttgart seine nicht zu bremsende Art zeigt. Keine Zeit verschwenden, einfach machen.

Drama um Lewis Hamilton: My Home. My Family.

Lewis Hamilton winkt seinen Formel-1-Fans
Das Happy End mit Lewis Hamilton hielt nicht lange an, Foto: Dan Vojtech/Netflix

Neben dem Comeback von Grinse-Honeybadger Daniel Ricciardo und dem Alpine-Wahnsinn, die aber wahrlich auch jedes Jahr aufs Neue für ein Hollywood-würdiges Script sorgen, wird vor allem der auslaufende Vertrag des Co-Rekordchampions Hamilton als Haupt-Storyline der Staffel aufgebaut. Hier verpasst 'Drive to Survive' es, mit einer Text-Einblendung (wie sie für das Haas-Aus von Günther Steiner erfolgt) den aktuellen Ereignissen rund um Lewis Hamilton und Ferrari Rechnung zu tragen. Vielleicht ändert sich dies in der Release-Fassung noch, in unserem Vorab-Screener endet der Mercedes-Teil mit einem vermeintlichen Happy End. Korrekt für 2023, aber die Realität hat diesen 'Spoiler' für Season 7 am 1. Februar schon längst in aller Welt verbreitet.

"Wenn er geht, sieht es so aus, als ob er das Vertrauen ins Team verloren hat", sagt George Russell in der Mercedes-Folge. "Ein roter Anzug würde ihm nicht stehen", betont Toto Wolff, kurz gefolgt von einem Grinsen, das selbst Ricciardo vor Scham erröten lassen würde. Die Folge beschließt Lewis Hamilton mit den nun wohl unsterblichen Worten: "Es fühlt sich so an, als ob es niemals eine Zeit geben wird, in der ich kein Mercedes-Fahrer bin. My Home, My Family." Mein Geschwätz von gestern.

Drive to Survive - Season 6 (Netflix): Kurzfazit

Vorsicht Spoiler!

Was haben wir gesehen?
Alle 10 Folgen in einer Vorabversion

Was sind die Highlights?
Echte Behind-the-Scenes-Momente wie:
Kaffee-Exkurs mit James Vowles
Fahrer beim Tennis spielen
Mercedes Media-Briefing mit den Fahrern
Jack Wolff beim Kartfahren
Lewis Hamilton beim Werbedreh

Was hätte es nicht gebraucht?
Ausgeprägte Rennszenen und Rückblicke
Aufbau von Lawrence Stroll als ominöse Machtgestalt, um ihn dann als liebevollen Vater darzustellen
Sichtlich gestellte Gespräche und Momente wie:
Lando Norris und Zak Brown beim Golfen
Toto und Lewis bei "Vertragsverhandlungen"
Günther Steiner besucht Mattia Binotto auf Weingut

Beste Folgen?
Glaubt es oder auch nicht: Alles mit sowie rund um Alpine.

Schlechteste Folge?
Das Staffelfinale: Episode 10.

Unangenehmster Moment?
Weihnachtsmann fragt in einer Szene die Familie von Christian Horner: "Has Dad been good this year?"

Bester Spruch?
Christian Horner: "Alpine ist in vielerlei Hinsicht ein Rätsel, wie dieses Team funktioniert und arbeitet."

Solltet ihr es euch ansehen?
DTS-Fans: Ja, wer S1-5 mochte, wird auch S6 mögen.
Hardcore F1-Fans: Wer mit dem Rückblicks-Format klarkommt und die Zeit entbehren kann, erhält etliche nette Momente & BTS-Einblicke, aber bei weitem nicht so viele, wie es sein könnten oder sollten. Achtung: Resistenz gegen künstliches Drama und Fake-Szenen nötig.
Insgesamt: Film und Serien sind immer subjektiv. Macht euch selbst ein Bild und verratet uns in den Kommentaren unter diesem Artikel, was ihr von Staffel 6 haltet!