Der Wachposten am Fahrerlager ist todmüde, seine Augen bekommen aber sofort Glanz, als ich ihn anspreche und er sagt: "Sie sind alle schon da." Es ist Donnerstagmorgen um 2:30 Uhr an einer der schönsten Grand-Prix-Rennstrecken der Welt, dem 4,2 Kilometer langen Kurs von Brands Hatch inmitten der phantastischen Hügellandschaft Kents. Hier war die moderne Formel 1 zuhause für lange Zeit, hier feiert sie in den folgenden drei Tagen das fröhlichste Fest ihrer bisherigen Geschichte, aber schon Wochen und Monate später werden Adelaide und Budapest noch besseres zu bieten haben.

Unten aus dem Fahrerlager hört man das dumpfe Dröhnen einzelner Generatoren, von der zum greifen nahen Autobahn nach london sieht man nur hin und wieder ein Fahrzeug, und Druids Hairpin, die zweite Kurve nach dem Start, wirkt wie eine der Themse-Windungen bei Oxford, denn es regnet seit Stunden. Das Kentagon, weltberühmte Bar und Restaurant zugleich, ist noch unbeleuchtet, in ihren Motorhomes und Zelten schlafen Hunderte von bereits angereisten Fans noch fiedlich. Rennkurse sind auch bei Nacht niemals langweilig.

Der Löwe hatte das Brüllen gelernt, Foto: Sutton
Der Löwe hatte das Brüllen gelernt, Foto: Sutton

Das erste Oktoberwochende ist für die moderne Formel 1 der Aufbruch in ein neues Zeitalter. Das wichtigste Rennen des Jahres, der Shell Oils Grand Prix of Europe, ist das allererste, das mit dem Mitteln eines weltweiten Kommunikationsnetzes erschlossen worden ist. Jede Trennung zwischen Akteuren und Beobachtern, ob vor Ort oder an jedem beliebigen Platz der Welt, ist aufgehoben, alle, gleichgültig ob Fahrer, Techniker oder Publikum, sind ab jetzt Teil des faszinierenden Sportabenteuers Formel 1. Es ist fast wie ein modernes Märchen, spannend wie die Weltraumfahrt, aber in gleichem Maße Realität.

Über der Gegengeraden, mitten im Wald, erhebt sich eine riesige Televisionswand, erstklassig einsehbar von fast allen Zuschauerplätzen, für die Übertragung der Originalfernsehbilder der BBC, der offiziellen Computerergebnisse, aber Samstagabend auch für einen abendfüllenden Spielfilm: Romancing the Stone mit Michael Douglas. Im ersten Renault von Patrick Tambay ist eine Kamera installiert; dem Piloten im Cockpit bei seiner Arbeit zuzusehen und seine ganz eigene Perspektive mitzuerleben, in unserer Zeit längst selbstverständlich geworden, das war in jenen Tagen noch vor kurzen technisch völlig unmöglich gewesen. Der Fan sieht seinen Star auch draussen auf seiner einsamen Fahrt durch die Wälder überlebensgroß auf einem riesigen Bildschirm, umrahmt von herbstlich gefärbten Bäumen.

Als erster Grand-Prix-Kurs hat Brands Hatch seit Samstagmorgen ein eigenes Radiosystem, das die Fans mit einer flotten Breakfast-Show weckt und sie den ganzen Tag begleitet - bei der Anreise im Autoradio wie im Walkman an der Strecke. Zu hören ist während der Qualifikation und des Rennens meist die Stimme von Brian Jones, eines junggebliebenen fünfzigjährigen Journalisten, dem die offizielle Streckenreportage obliegt. Abends sendet Radio Brands eine Show mit dem noch jungen Tyrrell-Piloten Martin Brundle, für das er ein eigenes Musikprogramm zusammengestellt hat. Er wählt Titel von den Carpenters ("weil es mich an die Zeit erinnert, wo ich meine Frau kennengelernt habe") und Dionne Warwick ("Grüsse an Derek"), plaudert über seine Schulzeit ("ich habe eine ganze Menge Qualifikationen), meint, "Liz und ich sind im Augenblick noch zu egoistisch um Kinder zu haben, obwohl wir sie uns später sehr wünschen" und vertritt im übrigen die Ansicht, "dass Grand-Prix-Piloten auch nur ganz normale Menschen sind, die ihren Job tun."

Der Europa GP des Jahres 1985 ist unterwegs, Foto: Sutton
Der Europa GP des Jahres 1985 ist unterwegs, Foto: Sutton

Und das alles sagt er ganz locker und selbstverständlich, dabei waren wir alle vor zwei Stunden noch Augenzeugen einer fürchterlichen Katastrophe. Als sie in der Abendsonne das Rennen der historischen Grand-Prix-Wagen starteten, dauerte es noch eine Runde, bis der Connaught Steven Langhtons in die Leitplanken der Paddock Hill Bend krachte und der Fahrer aus dem Cockpit geschleudert wurde. Sekunden wurden zur Ewigkeit, als sich Langhton zu erheben versuchte, um die Fahrbahnmitte zu verlassen, ehe ihn ein Konkurrent aus dem nachfolgenden Pulk überfuhr. Als die Sonne hinter den Bäumen verschwand, blieb von dem Grand Prix in Nostalgie nur noch ein lebloser Körper auf der Strasse - hellblauer Overall, schwarzer Sturzhelm - diese Bilder wird man im Leben nie wieder los. Es war dies der einzige dunkle Punkt an einem Wochende voller Inspiration und Begeisterung. Samstagnacht spielen überall Bands, treten Sänger auf, dann der Spielfilm und vor dem Kentagon tanzen hunderte zu karibischen Rhythmen bis in den frühen Morgen.

Der Renntag beginnt mit einer Demonstration historischer Kampfflugzeuge durchaus stilecht, denn von der Mentalität her sind Jagdflieger und Grand-Prix-Piloten gar nicht so verschieden. Den McLaren mit der Startnummer 1 des amtierenden Weltmeisters Niki Lauda fährt heute dessen jahrelanger Nummer 2-Pilot John Watson (es ist der letzte Grand Prix seiner Karriere, wie man heute weiß), weil der Champion himself, der seinen Rücktritt zum Saisonende in Zeltweg bereits angekündigt hat, noch immer an einer Handverletzung laboriert. Doch selbst ein Lauda wäre an diesem Tage von einem Nigel Mansell völlig in den Schatten gestellt worden: Er hat fast fünf Jahre gebraucht, um seinen ersten Grand Prix zu gewinnen, wahrscheinlich härter darum gekämpft, als jeder andere, aber in Brands Hatch 1985 beginnt Mansells Aufstieg zur dominierenden Figur der kommenden Jahre, zum erfolgreichsten britischen Grand-Prix-Piloten aller Zeiten.

Die Zielflagge ist gefallen. Es ist vollbracht, Foto: Sutton
Die Zielflagge ist gefallen. Es ist vollbracht, Foto: Sutton

So begeistert ein Millionenpublikum einen neuen Sieger, doch kurz nach der Siegerehrung erheben sich 100.000 Zuschauer von ihren Tribünenplätzen, still und voller Anteilnahme - und viele von ihnen haben Tränen in den Augen - ehe nicht endenwollender Applaus beginnt: Standing Ovation für Alain Prost, viermal in der Weltmeisterschaft nur knapp besiegt, jetzt aber sogar der erste französische Champion. Im folgenden Jahr wird Prost der erste Grand-Prix-Pilot seit mehr als 25 Jahren sein, dem eine erfolgreiche Titelverteidigung gelingt, um 1987 auch Jackie Stewart an der Spitze der All Time Greatests abzulösen und in der Folge mit dem grandiosen Rekord von 51 Siegen der erfolgreichste Pilot aller Zeiten und aller Nationen zu werden.

Mit dem ersten Sieg Mansells und dem ersten Weltmeistertitel Prosts endet das allererste Medienereignis in der damals schon achtzigjährigen Geschichte der Grand-Prix-Rennen mit einer grossen Party im Kentagon, wo wir nochmals die Fernsehaufzeichnung der BBC sehen, fröhlich und versöhnlich - auch wenn sich stundenlange Diskussionen darüber entwickeln, ob Mansell bei seiner Siegesfahrt unter gelber Flagge überholt hat oder nicht. Die Menschen sind einander näher gekommen und die Welt ist dank moderner Technologie wieder ein bißchen zusammengerückt.