300 Formel-1-Rennen und kein bisschen Müde: Rubens Barrichello ist der glückliche Dinosaurier im Fahrerlager. Dabei musste er in seiner Karriere einige Rückschläge einstecken. Im Motorsport-Magazin spricht er über Sennas Tod und die Ferrari-Stallregie.

MSM: In Belgien hast du deinen 300. Grand Prix bestritten - was bedeutet Dir das?
RUBENS BARRICHELLO: Ich glaube, wirklich viel wird das erst wert sein, wenn ich alt bin und meinen Freunden davon erzählen kann. Heute, in einer Zeit, in der die Leute in der Formel 1 kommen und gehen, bedeutet es mir vor allem, dass ich mir sagen kann, dass es einen Grund gibt, dass ich so lange dabei bin.

300 Grand Prix - da fragt natürlich jeder: Wie viele sollen es noch werden?
Auf jeden Fall will ich nächstes Jahr weiterfahren - darüber hinaus habe ich mich noch nicht festgelegt.

Was war in deiner langen Karriere deine schönste, deine glücklichste Zeit?
Die ist heute. Obwohl ich im Moment kein Auto habe, mit dem ich gewinnen kann. Aber ich bin in dem Team, für das ich immer fahren wollte, in einer Umgebung, in der ich mich sehr wohl fühle, in der ich geschätzt werde. Und ich fahre besser denn je.

Du fühlst dich jetzt besser als letztes Jahr bei Brawn, wo du ein Siegerauto hattest?
Jede Phase hat ihre ganz besonderen Momente. Und natürlich fühlt man ab und zu eine gewisse Sehnsucht nach einigen solcher Momente aus der Vergangenheit. Aber alles in allem bin ich heute wirklich so glücklich wie nie zuvor.

Und die schwierigste Phase?
Das war wohl, damals mit Ayrton Sennas Tod fertig zu werden. Ich war noch sehr jung, wurde zum erstens Mal mit so etwas konfrontiert, dazu war Ayrton ein großes Vorbild und auch ein Freund. Ich war vorher noch nie bei einer Beerdigung gewesen, hatte noch nie jemanden verloren, der mir wirklich nahe stand. Sicher, mein Opa starb, als ich noch sehr klein war, aber da hatte ich auch nicht so viel Kontakt. Ayrton war mir viel näher - deshalb war es so schwer.

Hast du kurz daran gedacht, aufzuhören?
Nein, das nicht. Denn im Moment, wo ich wieder im Auto saß, wusste ich, dass das meine große Liebe ist.

Barrichello feierte in Belgien seinen 300. Grand Prix, Foto: Sutton
Barrichello feierte in Belgien seinen 300. Grand Prix, Foto: Sutton

Danach bekamst Du vor allem in Brasilien das Problem, Ayrtons Nachfolger sein zu sollen - und vielleicht auch zu wollen...
Das war zum Teil ein Kommunikationsproblem, eines der Formulierungen. Ich war eigentlich nie jemand, der auf Polemik aus war. Ich glaube, ich habe ein gutes Herz, war halt auch noch sehr jung, vielleicht auch ein bisschen naiv. Ich habe Dinge gesagt, die gezielt gegen mich verwendet wurden. Negative Schlagzeilen verkaufen sich besser als positive - gerade in Brasilien. Aber das Entscheidende ist, dass man selbst in den Spiegel schauen kann und im Auto seinen Spaß hat. Alles andere, was die anderen sagen, ist nebensächlich. Die eigene Einstellung, die echten Freundschaften, die eigene Familie, die Wärme, die Emotionen, die man anderen geben kann. Heute gibt es andere Möglichkeiten, den Leuten draußen, den Fans, seine Gedanken und Gefühle sehr direkt nahe zu bringen. Twitter hilft mir da sehr, das nutze ich sehr stark, da kann ich ganz genau ausdrücken, was ich meine - und bekomme auch sehr direkte Reaktionen.

Was war das schwierigste in deiner ganzen Zeit in der Formel 1 - mit den hohen, manchmal übersteigerten Erwartungen in Brasilien fertig zu werden?
Nein, nicht unbedingt. Ich war eigentlich sehr früh jemand, der gelernt hat, sein eigenes Leben zu leben und habe mich deshalb nicht von den Kommentaren anderer abhängig gemacht. Das ist etwas, was man sich als Formel-1-Fahrer immer wieder bewusst machen muss. Denn im Laufe einer Formel-1-Karriere läuft man immer wieder Gefahr, dass einem die eigentlich wichtigen Werte im Leben abhanden kommen, weil von allen möglichen Seiten an einem herumgezerrt wird, die Leute sagen, als Formel-1-Fahrer musst du dies machen, musst du jenes machen, das darfst du nicht sagen, das musst du sagen...

Dabei vergisst du dann sehr leicht, warum du eigentlich in der Formel 1 bist: weil dir nämlich das Rennfahren Spaß macht, weil du hier genau das tun kannst, was du tun willst. Die Formel 1 führt einen manchmal von diesem Weg weg - aber ich glaube, ich habe ganz gut gelernt, damit umzugehen. Ferrari war wirklich eine sehr gute Schule.

Glaubst du, dass du heute absolut über solchen Dingen stehen kannst? Und ist das der größte Unterschied zwischen dem Rubens Barrichello am Anfang seiner Karriere - und dem von heute mit 300 Grand Prix auf dem Buckel?
Ja, auf jeden Fall. Ich stehe heute viel mehr mit beiden Füßen auf dem Boden. Ich will nicht sagen, dass ich zwischendurch im Laufe meiner Karriere je aufgehört habe, ein ganz normaler und auch recht bescheidener Mensch zu sein. Aber ich musste und konnte durch die vielen verschiedenen Kulturen, mit denen ich in der Formel 1 konfrontiert wurde, noch viel lernen.

Die Formel 1 als Schule für das Leben?
Sicher. Und man muss auch sagen - ich habe in meinem ganzen Leben nie wirklich was anderes gemacht, als Rennen zu fahren, Formel 1 zu fahren. Im Prinzip seit ich sechs Jahre alt war.

Heute würde Rubens nicht mehr für Schumacher Platz machen, Foto: Sutton
Heute würde Rubens nicht mehr für Schumacher Platz machen, Foto: Sutton

Bedauerst du das ein bisschen, nie etwas anderes kennengelernt zu haben, ein "normales" Leben?
Ich weiß gar nicht, was das ist, ein "normales Leben". Ich bin mit 16 Jahren von zu Hause weggegangen, jetzt habe ich meine eigene Familie, meine beiden Söhne... Das ist für mich alles ziemlich normal - aber ich habe keine Ahnung, was andere als normales Leben betrachten. Ich habe mit meiner Familie maximal einen Monat Ferien, aber ehrlich gesagt, dann langweile ich mich meistens. Außer, wenn ich mich mit meinen Kindern beschäftige, dann nicht. Aber sonst brauche ich immer etwas zu tun, ich bin ein sehr aktiver Mensch.

Wollen Deine Söhne auch schon Rennfahrer werden?
Das kann man noch nicht sagen. Eduardo, der ältere, hat eine Tendenz, in allen Dingen sehr korrekt zu sein, er ist für sein Alter schon sehr reif. Ob er wirklich ein Geschwindigkeitsfanatiker ist, muss man aber noch sehen. Beide fahren Kart, der Kleine scheint da im Moment sogar noch begeisterter zu sein, aber er ist ja noch sehr jung, da kann man noch gar nichts sagen. Ich pushe da nicht, ich lasse das laufen - aber wenn sie es wirklich wollen, dann werde ich sie natürlich unterstützen.

Und dann viel mehr Angst haben, als wenn du selbst fährst?
Ganz sicher - Vater eines Rennfahrers zu sein, das ist garantiert ein Albtraum. Das weiß ich von meinem Vater. Dabei war der nie Rennfahrer, weiß also gar nicht in allen Einzelheiten, was sich da abspielt. Ich schon - und deshalb würde ich wahrscheinlich noch mehr leiden.

Gelitten hast Du damals, nach der Teamorder-Affäre 2002 in Österreich. Felipe Massa machte 2010 fast das gleiche durch. Kannst du deinem Landsmann ein bisschen helfen?
Viel kann ich ihm nicht sagen. Seine Gefühle sind sicherlich die gleichen, die ich damals hatte - auch die Reaktion der Fans in Brasilien war ähnlich. Ein Teil der Leute dort glaubt halt, dass man sich wie ein Söldner verhält, wenn man so eine Order akzeptiert, dass das vor allem mit Geld zu tun hat. Das ist natürlich Quatsch. Geld spielt in dem Moment überhaupt keine Rolle. Man tut es, man gibt einen Sieg her, weil man sich daraus für die Zukunft einen größeren Gewinn verspricht, weil man hofft, seine interne Position im Team zu verbessern. Das einzige, was ich Felipe sagen würde, ist, dass ich es heute nicht mehr machen würde. Schon drei, vier Tage danach war ich mir damals sicher - ich würde es nicht wieder tun.

Rubens Barrichello sprach exklusiv mit dem Motorsport-Magazin über seine lange Karriere, Foto: adrivo Sportpresse
Rubens Barrichello sprach exklusiv mit dem Motorsport-Magazin über seine lange Karriere, Foto: adrivo Sportpresse

Was dann? Eventuell sogar lieber einen Rausschmiss riskieren?
Ja, vielleicht... Das kann man nie wissen, ob das passieren würde. Aber ich würde es nicht mehr tun. Ich habe es damals gemacht, weil ich mir erhofft habe, dass ich daraufhin im Team besser behandelt würde. Aber das ist nicht passiert - es hat sich nichts verändert. Das war auch eine Lektion, die ich gelernt habe. Ich war immer sehr bodenständig. Ich sage das nicht, um gegen Ferrari nachzutreten, aber ich glaube, dass man selbst eine bestimmte Liebe und Wertschätzung für seinen Beruf haben muss, so muss es auch eine Wertschätzung für den Sportler, für den Menschen geben. Das ist es, was ich von meinem Vater gelernt habe und was ich auch meinen Kindern weitergeben möchte. Wenn ich nicht Weltmeister werden kann, weil man dafür ein schlechter Mensch sein muss, dann bin ich lieber kein Weltmeister!

Das Exklusivinterview mit Rubens Barrichello stammt aus unserem Printmagazin Motorsport-Magazin. Mehr Technikhintergründe, Interviews und Reportagen lesen Sie im Motorsport-Magazin - im gut sortierten Zeitschriftenhandel oder am besten direkt online zum Vorzugspreis bestellen: