Jens, haben Sie mit ein paar Tagen Abstand mittlerweile begriffen, was am Sonntag passiert ist?
Jens Marquardt: Der Sonntag war ein einfach unglaublicher Tag, auch mit etwas Abstand betrachtet. Solche Momente erlebt man in seinem Berufsleben sehr, sehr selten. Natürlich spielt man im Kopf vor einem derartigen Rennen alle Szenarien, alle Möglichkeiten durch, aber dass ein solcher Krimi dabei herauskommen würde, das war schon sensationell. Entsprechend gelöst waren wir natürlich in den Stunden nach dem Rennen. Ich beginne aber allmählich zu begreifen, dass wir am Sonntag Motorsport-Geschichte geschrieben haben. Unsere Tage sind aber noch immer mit Terminen vollgepackt. Wahrscheinlich werde ich erst um die Weihnachtszeit genügend Zeit haben, um wirklich mit Ruhe auf das Geleistete zurückzublicken.

Sie haben in der Comeback-Saison den Fahrertitel, die Teamwertung und die Herstellerwertung gewonnen. Außerdem stellen Sie in Augusto Farfus den besten Neueinsteiger in die DTM...
Jens Marquardt: Manchmal muss ich mich schon noch kneifen, um das zu realisieren. Was mich so stolz macht: Diese offiziellen und inoffiziellen Titel zeigen, dass das ganze Team, jeder einzelne, in dieser Saison einfach Unglaubliches geleistet hat. Eine derartige Leistung kann man nur erreichen, wenn man als ein Team an einem Strang zieht. Und das war auch am Sonntag deutlich zu sehen. Nach dem Rennen waren teamübergreifend derartige Emotionen spürbar, das war sehr bewegend.

Mercedes-Pilot Gary Paffett hat die gesamte Saison die Tabelle angeführt, erst im letzten Rennen konnte Bruno vorbeiziehen. Können Sie mit ihm fühlen?
Jens Marquardt: Mitfühlen ist im Sport vielleicht das falsche Wort. Natürlich war der Sonntag aus Garys Sicht hart. Andererseits müssen Sie auch sehen, dass es Bruno einige Jahre lang genauso ergangen ist - und er hat sich auch nicht unterkriegen lassen, seine Lehren gezogen und ist nun der strahlende Sieger. Ich bin mir sicher, dass Gary mit ein paar Wochen Abstand schon etwas anders auf die Saison zurückblicken wird, zumal er auch schon einmal Champion war. Er wird sehen, dass er genauso wie Bruno die ganze Saison über eine herausragende Leistung gezeigt hat. Aber im Sport ist es nun einmal so, dass am Ende nur einer gewinnen kann.

Wie sahen die vergangenen Tage bei Ihnen aus?
Jens Marquardt: Sonntagabend und Sonntagnacht haben wir den Titelgewinn natürlich sehr ausgelassen gefeiert, und auch in dieser Woche haben wir in München noch einmal gefeiert. Aber die Vorbereitungen für das kommende Jahr haben bereits am Montag begonnen. Jeder hat in dieser Saison gesehen, wie unglaublich eng es zugeht. Das DTM-Projekt erlaubt es nicht, sich eine Pause zu gönnen.

Gibt es für Sie in Ihrem Team den einen Gewinner des Jahres?
Jens Marquardt: Wir haben so viele Geschichten des Jahres, da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Ob bei unseren Ingenieuren, die in der Fahrzeugentwicklung des BMW M3 DTM mit einem leeren Blatt Papier gestartet sind - und am Ende steht auf dem Papier ein dreifacher Titelgewinn. Ob bei unseren Teams, die sich so professionell auf die DTM vorbereitet haben und denen bei den Boxenstopps während des ganzen Jahres nicht ein einziger gravierender Fehler unterlaufen ist, und das unter größtem Druck. Ob in unserem Fahrerkader: Wo ein Bruno Spengler nach einigen verlorenen Titelentscheidungen in seinem ersten Jahr bei uns Champion wird.

Ein Augusto Farfus als DTM-Rookie im zweiten Rennen aufs Podium fährt und das neunte Rennen gewinnt. Unsere anderen Rookies eine großartige Lernkurve hingelegt haben. Und ein Martin Tomczyk sich nach toller erster Saisonhälfte trotz unverschuldeter durchwachsener zweiter Saisonhälfte nicht unterkriegen lässt und sich von Herzen mit Bruno freut. Ein BMW Team Schnitzer nach fast einem Vierteljahrhundert in die DTM zurückkehrt und auf Anhieb den Titel gewinnt. Ich könnte so noch stundenlang weitermachen: Diese Saison hat sehr viele Gewinner.

Wie haben Sie das Umfeld der DTM erlebt?
Jens Marquardt: Wir sind stolz, Teil der DTM zu sein. Die Stimmung im Fahrerlager ist sehr gut. In Audi und Mercedes-Benz haben wir zwei Wettbewerber mit Format. Wir haben es gemeinsam mit ihnen und der ITR geschafft, eine tolle Plattform noch attraktiver zu gestalten. Der DTM ist es gelungen, bei allen Wertungsläufen deutlich mehr Zuschauer als im Vorjahr zu haben - nach acht von zehn Rennen war der Zuschauerrekord vom Vorjahr eingestellt. Das zeigt, welchen Stellenwert die DTM bei den Fans hat.

Nächste Saison werden Sie vom Jäger zum Gejagten. Wie lassen sich diese Erfolge noch steigern?
Jens Marquardt: Wir sind im nächsten Jahr der Titelverteidiger - und befinden uns somit in der schönsten Situation, die man sich wünschen kann. Genau deshalb tritt man im sportlichen Wettbewerb gegeneinander an. Diese Rolle nehmen wir gerne an, obwohl wir den nötigen Respekt und auch das nötige Quäntchen Demut mitbringen. Sport bleibt immer Sport: Bei zwei derartig starken Konkurrenten wie Audi und Mercedes-Benz darf man sich nie zurücklehnen, sondern muss hart daran arbeiten, um dauerhaft konkurrenzfähig zu bleiben. Wir werden uns sehr gewissenhaft auf die nächste Saison vorbereiten, der Winter wird arbeitsintensiv - schließlich kommt im BMW Team MTEK ein viertes Team mit zwei weiteren Fahrzeugen hinzu. Es gibt also genügend Anlass, uns einfach nur auf das nächste Jahr zu freuen. Aber klar ist, dass sich ein derartig historischer Erfolg - ein Titelgewinn im Jahr des Comebacks - in dieser Form nicht wiederholen lässt.

Wann geben Sie den Fahrerkader für das kommende Jahr bekannt?
Jens Marquardt: Ein wichtiger Termin ist bei uns immer der BMW Motorsport Jahresabschluss Anfang Dezember. Bis dahin hoffen wir, mehr über die kommende Saison sagen zu können.