Die Massenkarambolage beim Samstagsrennen der Formel E in Rom gehörte zu den schwersten Unfällen in der Geschichte der Elektro-Serie. Noch am Sonntagabend zeigten sich einige Beobachter im Fahrerlager verwundert, dass bei diesem Crash kein Fahrer verletzt wurde, und lobten die Sicherheitsstruktur des neuen, von Dallara gefertigten Gen3-Chassis.

Der durch einen Dreher von Sam Bird (Jaguar) ausgelöste Unfall in der Kurve 6 forderte sechs vorzeitige Ausfälle und machte bei vier Boliden einen kurzfristigen Austausch der Sicherheitszelle notwendig. Die Boxengasse glich am Samstagabend einem Schrottplatz, mehrere Teams überzogen die Nachtruhe und schraubten bis in die frühen Morgenstunden durch.

Rom: Schwerster Unfall der Formel-E-Geschichte (05:10 Min.)

Nach Unfall: Bird fordert Streckenänderung

Im Sonntagsrennen ereignete sich an angesprochener Stelle auf der Strecke kein Unfall mehr - dafür eine Ecke weiter in Turn 7 - doch der Sicherheitsaspekt bleibt ein großes Thema. So forderte unter anderem Crash-Auslöser Bird am Sonntag nach seinem Podesterfolg eine Änderung für das kommende Jahr.

"Ich habe mit Alberto Longo (Mitgründer der Formel E) über die Bodenbeschaffenheit in Kurve 6 gesprochen", sagte der Brite auf der Sieger-Pressekonferenz. "Durch den Speed der Gen3-Autos und die Steifigkeit der Reifen ist es viel kniffliger geworden. Rom sorgt für tolle Formel-E-Rennen, aber man sollte sich um diesen Bereich kümmern."

In der Kurve 6, die in einem Bergauf-Bereich liegt, kommen mehrere Gefahrenpotenziale zusammen: Zum einen ist die Kurve 'blind', der Ausgang bei der Kurveneinfahrt also nicht einsehbar. Der Weg den Berg hoch tut sein Übrigens für eine schlechte Sichtbarkeit. Zudem sorgt ein eingelassener Kanaldeckel neben der Ideallinie für zahlreiche Bodenwellen auf beiden Seiten der Strecke. Und nicht zuletzt erreichen die bis zu 350 kW (476 PS) starken Autos in diesem Bereich rund 210 km/h.

Nach Rom-Unfall: Erinnerungen an tödlichen Spa-Crash

"Das ist die gefährlichste Kurve dieser Strecke", sagte der frühere Formel-E-Meister Lucas di Grassi (Mahindra). "Sie ist sehr schnell und es gibt keinen Platz für eine Auslaufzone. Das erinnert ein wenig an das Eau-Rouge-Szenario, die Kurve ist komplett blind. Es lässt sich schwer einschätzen, ob da ein Auto die Strecke blockiert oder nicht."

Di Grassi war nicht der einzige Fahrer, der diesen Streckenabschnitt mit dem berühmten Formel-1-Kurs Spa-Francorchamps in Belgien verglich. Die Motorsportwelt steht weiter unter dem Eindruck des tödlichen Unfalls von Nachwuchsfahrer Dilano van 't Hoff bei einem Rennen der Formula Regional European Championship am 01. Juli.

Robin Frijns (Abt-Cupra) sagte bei ProSieben: "Ich habe nicht vergessen, was vor ein paar Wochen in Spa passiert ist mit Dilano. Der stand auch quer, als ein anderes Auto kam. Bei Sam war es genauso. Das ist das Beängstigendste, was passieren kann." In Rom stand Bird nach seinem Mauereinschlag quer und mitten auf der Fahrbahn, als er schwer am Heck von Sebastien Buemi (Envision) sowie seitlich mit voller Wucht durch Edoardo Mortara (Maserati) gerammt wurde. Ein sogenannter T-Bone-Unfall.

Der völlig zerstörte Jaguar von Sam Bird in Rom, Foto: LAT Images
Der völlig zerstörte Jaguar von Sam Bird in Rom, Foto: LAT Images

Felix da Costa: "Furchterregendster Moment meines Lebens"

Fans und Fahrer zucken beim Betrachten der Szene noch immer zusammen. Buemi geriet nach dem Treffer sogar in die Schieflage, zudem fing sein Auto aus noch unbekannten Gründen kurzzeitig Feuer. Abt-Pilot Frijns griff geistesgegenwärtig zum Feuerlöscher. Glück hatte auch Antonio Felix da Costa (Porsche), der hinter dem Schweizer fuhr und beinahe unter den abgeflogenen Envision geraten wäre.

Felix da Costa: "Das war der furchterregendste Moment meines Lebens! Buemi und ich waren die Ersten, die an der Stelle ankamen. Wir konnten nirgendwo anders hin. Ich bin einfach froh, hier zu sein und mit euch (den Medien; d. Red.) sprechen zu können. Ich habe nur noch meine Augen geschlossen und das Lenkrad losgelassen. Im Auto habe ich echt gezittert!"

Rom-Gefahrenstelle: Drei Unfälle in Kurve 6

Bird war nicht der erste Fahrer, der in der neunten Rennrunde den Bodenwellen in Kurve 6 zum Opfer gefallen war. In Runde 2 verunfallte Andre Lotterer (Andretti) an ähnlicher Stelle, sein Vorfall ging jedoch deutlich glimpflicher aus. Gewarnt waren die Formel-E-Fahrer bereits nach dem vorangegangenen Qualifying, in dem Jake Hughes ebenfalls in Kurve 6 seinen McLaren heftig crashte und das Samstagsrennen verpasste.

"Ich habe dort die Bodenwelle in einem etwas anderen Winkel getroffen als zuvor", erklärte der britische Teamkollege von Rene Rast. "Dadurch ist das Auto in die Mitte gesprungen. Auf der linken Streckenseite ist eine starke Wölbung, und wenn du die verlierst, rutscht das Auto in die Mauer. Das war ein Fehler meinerseits in der welligsten Highspeed-Kurve im Rennkalender."

Jake Hughes zerstört seinen McLaren in Rom, Foto: LAT Images
Jake Hughes zerstört seinen McLaren in Rom, Foto: LAT Images

Günther: Es gibt nur eine Linie in der Unfallkurve

Die meisten Durchfahrten dieser Ecke verliefen am heißen Rom-Wochenende (40 Grad am Sonntag) ohne größere Schwierigkeiten. Doch wenn es dort krachte, dann richtig. Aufgrund der Beschaffenheit des Asphalts bot sich den Fahrern praktisch nur eine Fahrlinie. Wer nur leicht davon abkam, lief Gefahr, die Kontrolle zu verlieren.

"Aus meiner Sicht gibt es zwei Probleme an der Strecke", erklärte Maximilian Günther (Maserati), der am Samstag aufs Podium fuhr, gegenüber Motorsport-Magazin.com. "Zum einen zu wenige Auslaufzonen an wichtigen Streckenabschnitten. Und zum anderen die Unfallkurve, in der es nur eine einzige Linie gibt. Wenn man die nicht trifft, hat man ein großes Problem und kann sowohl auf der rechten wie auch auf der linken Spur durch die Bodenwellen ausgehebelt werden."

Müller: "Dann kannst du gleich im Hotel bleiben..."

Nun könnten Außenstehende argumentieren, dass es in der Verantwortung der Fahrer liegt, zu entscheiden, wie viel Speed sie in diese Kurve mitnehmen. In der Realität ist das allerdings nicht so simpel, wie Nico Müller (Abt-Cupra) bei Motorsport-Magazin.com argumentierte: "Wir entscheiden selbst, wie viel wir riskieren. Wenn du in dieser Kurve aber nur ein Prozent über dem Limit bist, sind die Konsequenzen riesig. Der Wettbewerb hier ist so hart. Wenn du entscheidest, da zwei Zehntel liegen zu lassen, kannst du gleich im Hotel bleiben, weil du nichts erreichen wirst. Vielleicht besteht in dieser Kurve nicht mehr der richtige Kompromiss zwischen Risiko und Chance."

Bird-Unfall mit 350 kW - mit Gen3 keine Vollgaskurve mehr

Zwar wurden einige Streckenabschnitte - faktisch öffentliche Verkehrsstraßen - vor dem Rennwochenende neu asphaltiert, doch am Kurvenverlauf hat sich im Vergleich zum Vorjahr nichts geändert. Neu war beim fünften Besuch der Formel E in der Ewigen Stadt aber vor allem eines: die deutlich schnelleren Rennwagen. Bird hatte in Runde 8 sogar seinen Attack Mode aktiviert und war mit der vollen Leistung von 350 kW statt der üblichen 300 kW im Renn-Trim unterwegs. Der Brite hatte über 200 km/h auf dem Tacho, als er die Kontrolle verlor und beidseitig einschlug.

"Mit den Gen2-Autos war das eine Vollgas-Passage", sagte Mahindra-Fahrer Di Grassi. "Es war nicht einfach, aber es ging. Wegen der höheren Leistung der Gen3-Autos und dem geringeren Grip ist es jetzt eine richtige Kurve, in der sich das Auto bewegt. Selbst im Qualifying konnte man hier nicht mit Vollgas fahren."

Über Nacht gab es keine Änderungen in Rom, am Sonntag wurde das identische Streckenlayout befahren. Überlegungen gab es unter dem Eindruck des schweren Unfalls allerdings, diesen Bereich etwa mit gelben Flaggen auszubremsen. Die Spezialisten der FIA werden den Massen-Crash im Detail inspizieren und für die Rückkehr der Formel E im April 2024 gegebenenfalls Änderungen vornehmen. Mehrere Fahrer haben das Thema bereits auch intern beim Motorsport-Weltverband angesprochen.