Viel haben die beiden Königsklassen auf zwei und vier Rädern nicht gemeinsam. Einige Strecken, einige Hersteller und die Tatsache, dass sowohl in der Formel 1 als auch der MotoGP Rennen gefahren werden - allerdings durchaus mit unterschiedlichen Spannungsverhältnissen. Bis zum Saisonende 2006 teilten beide Serien noch eine Komponente; sie war schwarz, rund und von Michelin. Davon abgesehen unterscheiden sich die Pneus der beiden Königsdisziplinen jedoch ebenso stark wie Fernando Alonsos Weltmeisterauto vom Typ Renault R26 von der Honda RS211V, auf der sich Nicky Hayden zum Champion krönte. Doch worin liegen die Unterschiede genau, und was ist das Erfolgsrezept?

Bereits beim ersten Anblick werden die Unterschiede zwischen Formel 1- und MotoGP-Reifen deutlich: Die Motorräder rollen auf schmäleren, dafür im Durchmesser größeren Pneus als die vierrädrigen Monoposti von Fernando Alonso & Co. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs, denn auch die Anforderungen an das "schwarze Gold" differieren gewaltig - und wer sollte das besser wissen als Michelin? Der französische Reifenhersteller gewann 2005 und 2006 in der Königsklasse des Automobilsports jeweils den Fahrer- und Herstellertitel an der Seite des neuen spanischen Superstars und des Renault Teams. In der MotoGP liest sich die Erfolgsbilanz noch eindrucksvoller: In der höchsten Liga des Zweirad-Sports holten Michelin Piloten in den vergangenen 15 Jahren jeweils den Titel.

"Einer der größten Unterschiede zwischen der MotoGP und der Formel 1 liegt darin, dass die Reifenaufstandsfläche bei Motorrad-Reifen viel schmaler ist", erklärt Nicolas Goubert, Technischer Direktor des Zweirad-Programms von Michelin. "Außerdem konstruieren wir die Pneus häufig asymmetrisch - entsprechend den Kursen, auf denen sie genutzt werden. Wir fertigen für jede Strecke eine maßgeschneiderte Konstruktion. Wenn ein großes Übergewicht an Linkskurven vorliegt, dann verwenden wir für die linke Flanke eine andere Gummimischung als auf der rechten Seite des Reifens."

Wie in allen anderen Motorrad-Rennserien gilt in der MotoGP eine generelle Faustregel: Auf der weniger beanspruchten Seite kommt eine weichere Mischung zum Einsatz. Der Grund: Die Piloten lehnen sich beim Richtungswechsel mit einem Winkel von teilweise mehr als 55 Grad in Richtung Asphalt, in Kurven berührt also nur die innere Flanke des Pneus den Boden. Auf der stark belasteten Seite verwendet Michelin eine härtere Mischung, die sich nicht so schnell abnutzt. Die weniger stark strapazierte Seite hingegen statten die Reifen-Experten mit einer weicheren Mischung aus, damit diese schnell das gewünschte Temperaturfenster erreicht.

240 PS beschleunigen auf einer Kreditkarte

In der Formel 1 tritt ein solches Phänomen nicht auf, da die Aufstandsfläche der Monoposti deutlich größer ist. "Dennoch kann die Reifenaufstandsfläche auch im Grand Prix-Sport sehr stark variieren", beschreibt Patrick Cohen, Technischer Direktor des Formel 1-Programms von Michelin. "Das hängt von der Art der Kurve und dem aerodynamischen Abtrieb des Fahrzeugs ab. Der Kontakt kann sogar fast komplett abreißen, wenn der Vorderreifen auf der Kurveninnenseite den Asphalt kaum noch berührt."

Beim Erzeugen von Grip gilt die Größe der Aufstandsfläche als entscheidender Faktor. Im Motorrad-Sport nimmt die Fläche etwa das Format einer Kreditkarte ein: "Die MotoGP-Zweiräder leisten aktuell rund 240 PS", so Goubert, der zum Saisonende eine neue, noch nicht näher definierte Herausforderung innerhalb der Michelin Gruppe annimmt. "Diese Leistung müssen die Michelin Pneus über eine Oberfläche von fünf Zentimetern Länge und zehn Zentimetern Breite auf den Asphalt übertragen." Zum Vergleich: Die Kontaktfläche von Formel 1-Hinterrädern liegt bei 16,5 x 27,0 Zentimetern.

Die größere Reifenaufstandsfläche benötigen die Formel 1-Pneus auch, um die Leistung von rund 700 PS in Vortrieb umzuwandeln: "Die Reifen im Grand Prix-Sport müssen die fünffache Radlast ihrer Pendants aus der MotoGP verkraften", fährt Goubert fort. "Das liegt auch daran, dass die Aerodynamik bei den Zweirädern praktisch keinen Einfluss ausübt. Die maximale Radlast, die die Reifen aushalten müssen, entspricht dem Gewicht von Fahrer plus Maschine - also etwa 80 respektive 145 Kilogramm."

Die Formel 1 geht an die Decke, die Zweiräder genießen alle Freiheiten

Das sieht in der Formel 1 ganz anders aus: Wenn Doppelweltmeister Fernando Alonso mit dem Renault R26 über eine Grand Prix-Strecke pfeilt, spielt die Aerodynamik eine ganz entscheidende Rolle. Sie sorgt für einen so starken Anpressdruck, dass sein Arbeitsgerät bereits ab Tempo 150 kopfüber an der Decke fahren könnte, ohne herunterzufallen. "Wegen der Aerodynamik füllen wir die Formel 1-Reifen mit sehr geringem Luftdruck", beschreibt Cohen. "Dafür müssen sie eine Radlast von mehr als einer Tonne aushalten. Vor allem in den schnellen Kurven müssen die Materialien im Inneren des Reifens den starken Belastungen widerstehen. Daher entwerfen wir stabile Konstruktionen, die diesen besonderen Anforderungen entsprechen."

Ein weiterer großer Unterschied zwischen den beiden Top-Klassen besteht im Reifen-Reglement: In der MotoGP besitzt Michelin deutlich mehr Freiheiten. Die FIA-Richtlinien beschränken sich lediglich auf die Breite der Felge, bei praktisch allen anderen Komponenten dürfen die Piloten aus freien Stücken entscheiden. Zu den Rennwochenenden der Zweirad-Weltmeisterschaft nimmt die Marke aus Clermont-Ferrand nicht weniger als fünf komplett unterschiedliche Hinterräder sowie drei verschiedene Vorderreifen mit. Die speziellen Vorlieben richten sich nach dem individuellen Fahrstil der MotoGP-Asse - während beispielsweise der fünffache Champion Valentino Rossi die eine Konstruktion bevorzugt, kommen andere Piloten wie der frisch gebackene Weltmeister Nicky Hayden möglicherweise mit anderen Pneus besser zurecht.

In der Formel 1 waren solche Auswahlmöglichkeiten undenkbar. Die Lenkradakrobaten durften sich pro Rennen lediglich zwischen zwei verschiedenen Mischungen entscheiden. Auf Grund dieses Regelwerks lagen die Unterschiede im Detail. Doch auch hier kam der Aerodynamik eine wichtige Aufgabe zu: Sie prägte die Wahl der Pneus entscheidend mit, den je nach Abtrieb variiert die Radlast der Reifen um zehn Prozent.

Hart umkämpft: Auch in Clermont-Ferrand kommt es auf die Geschwindigkeit an

Was den sportlichen Wettbewerb betrifft, lagen die Weltmeisterschaften zumindest bis vor kurzem eng beieinander. Michelin trat in beiden Serien gegen Bridgestone an. In der Königsklasse für Zweiräder mischte außerdem Dunlop mit. "Im Laufe eines Jahres entwickeln wir zahlreiche neue Reifen-Konstruktionen", so MotoGP-Experte Goubert. "Selbst wenn du die Oberhand besitzt, darfst du nie nachlassen. Wenn du dich ausruhst, befindest du dich innerhalb von wenigen Wochen im Hintertreffen. Es macht keinen Unterschied, wie viele Siege du während einer Saison einfährst, jedes Rennen stellt eine komplett neu Herausforderung dar. Du musst deine Produkte permanent weiter entwickeln."

Damit die Pneus auf der Strecke schnell sind, legen die Frauen und Männer in Clermont-Ferrand auch abseits der Piste höchstes Tempo an den Tag. Dass bewies die Formel 1-Mannschaft von Michelin erst diesen Sommer. Zwischen dem Großen Preis von Deutschland und dem Rennen in Ungarn konstruierten die Reifen-Experten mit dem Bibendum auf dem Overall für alle sieben Partnerteams komplett neue Pneus – und das, obwohl zwischen den Grands Prix gerade einmal eine Woche lag. Die Reaktionszeit zwischen dem Ende eines Tests und der Fertigstellung der Reifen gilt dabei als entscheidender, aber nicht unkomplizierter Faktor. In der MotoGP geht es nicht ganz so flott voran: "Die Tatsache, dass MotoGP-Reifen asymmetrisch aufgebaut sind, stellt bei der Fertigung eine zusätzliche Herausforderung dar, weil wir an der Schulter der Lauffläche eine andere Mischung verwenden als im Zentrum", beschreibt der scheidende Technische Direktor des Motorrad-Programms.

Safety first

Egal jedoch, wie schnell sich die Reifentechnologie entwickelt oder wie dringend die Partner einen neuen Pneu benötigen: Die Sicherheit genießt bei Michelin immer höchste Priorität. "Natürlich suchen wir immer nach noch besserer Performance", so Goubert. "Aber das Wichtigste für die Fahrer ist, dass die Reifen jedes Risiko ausschließen. Vor allem in der MotoGP lässt es sich unmöglich vorhersagen, was bei einem Unfall passieren würde. Wir können einfach kein Risiko eingehen."

Die jüngsten Entwicklungen der beiden Spitzenrennserien zeigen eine weitere interessante Parallele: Zur Saison 2006 führte die oberste Motorsportbehörde FIA in der Formel 1 eine neue Motorenregelung ein. Um die pfeilschnellen Monoposti einzubremsen, mussten die Teams von Zehnzylindern auf V8-Triebwerke umrüsten. Einen ähnlichen Schritt vollzieht die MotoGP im kommenden Jahr: Statt 990 ccm Hubraum müssen die flinken Motorräder nunmehr mit 800 ccm auskommen. In beiden Fällen verringert sich die Höchstgeschwindigkeit auf den Geraden, dafür erhöht sich das Tempo in den Kurven - ein weiterer Verdienst der Reifen. Bei den Vierrädern gelang dem französischen Pneuhersteller dieser Umstieg perfekt. Im ersten Jahr der V8-Motoren sicherten sich die Michelin Partner Fernando Alonso und das Renault Team beide WM-Titel. Und in der MotoGP? Die Saison 2007 wird darüber Aufschluss geben. In der Formel 1 bricht derweil ein anderes Zeitalter an: Eines ohne Michelin und mit Bridgestone als Reifenmonopolist.