Wir schreiben den 13. Dezember 2022. Für Ferrari sind es aufregende Zeiten – doch nicht unbedingt im positiven Sinne. Kurz zuvor im November hatte der frühere Teamchef Mattia Binotto das Handtuch geschmissen. Es ist nicht leicht bei Ferrari an der Spitze zu stehen. Und wer bei Ferrari an der Spitze steht, steht an der Spitze einer ganzen Motorsport- Nation.

Der Neue sollte an jenem Dezembermorgen Frederic Vasseur werden. Zuvor hatte er jahrelang bei Sauber als Teamchef gedient. Ein Jahr später seien aber folgende Fragen erlaubt: Ist ihm wirklich die Wende gelungen? Wie steht es um das erfolgreichste Team der Formel-1-Historie, das in der Gegenwart vor dem eigenen Schatten erstarrt?

Vasseur über sein erstes Jahr: „Ich habe es überlebt“

Die Welt ist bei Ferrari die Tage nur bedingt eine andere. Sportlich musste das Team in der vergangenen Saison sogar einen Schritt zurück machen. Mercedes hatte dem Team aus Maranello den zweiten Rang in der WM-Wertung abgelaufen. Und dennoch will man Zuversicht suggerieren.

Rund ein Jahr nach der offiziellen Verkündung von Vasseur als neuen Ferrari-Teamchef lud das Team zum gemeinsamen Mittagessen mit Medienvertreter aus aller Welt. Vasseur ist sich seiner schwierigen Rolle bewusst. Umso weniger verwunderte also die Antwort des 55-Jährigen auf die Frage nach einem Saisonfazit.

„Ich habe es überlebt“, lässt Vasseur in seiner gewohnt lockeren Art von sich. Der 55-Jährige hatte gerade seine Polenta fertiggegessen, Zeit für eine Mittagsruhe war aber nicht, schließlich reichte diese Antwort noch lange nicht aus.

Der gebürtige Franzose versucht sich zu erklären: „Vor einem Jahr war es nicht unbedingt hart, aber eine ziemliche Herausforderung. Ich kam erst sehr spät zum Team“. Sehr spät bedeutete wenige Wochen vor Beginn der Testfahrten in Bahrain: Ein Neuling im Team und sofort auf der wohl wichtigsten Position. Kann das funktionieren?

Eine neue Mentalität für Ferrari

Es habe Zeit gebraucht, das Team zu verstehen, räumt Vasseur ein. Dies sei wichtig gewesen, um Entscheidungen zu treffen. Auch personeller Natur. „Ich bin kein Fan davon, Namen zu nennen“, betont er. Doch bis diese Entscheidungen Früchte tragen, brauche es ohnehin Jahre.

Trotz all dem ist Vasseur überzeugt, bereits einen positiven Einfluss auf das Team gehabt zu haben. „Der Bereich, bei dem wir den größten Fortschritt gemacht haben, war, wie wir Dinge angehen und die Mentalität“, ist er sich sicher und hebt dabei vor allem die zweite Saisonhälfte respektive das letzte Saisondrittel hervor.

Die Zahlen geben ihm auch bis zu einem gewissen Grad recht. Fünf Pole Positions ergatterte Ferrari in den letzten neun Rennwochenenden der Saison. Zwei davon gehen auf das Konto von Carlos Sainz, der Rest auf jenes von Charles Leclerc, der etwa in Las Vegas nah an einem Sieg dran war.

Ferrari muss den Vasseur-Weg gehen

Und dennoch ist sich die Motorsport-Welt einig, dass der dritte Platz in dieser Saison zu wenig ist für die hohen Ansprüche des Teams, die seit 2007 den keinen WM-Titel mehr gewonnen haben. Ferrari-CEO Benedetto Vigna sagte im vergangenen Winter, dass der Zweite der erste Verlierer sei. Selbst das hat Ferrari verfehlt.

„Ich brauche keinen John Elkann oder Vigna, die mir etwas sagen. Ich bin mit dem dritten Platz nicht zufrieden, aber dafür mit der Reaktion vom Team“, O-Ton Binotto. Doch ob die Saat Vasseurs in den folgenden Jahren Früchte trägt, muss sich erst zeigen. Schließlich seien die größten Fortschritte in dieser Saison nicht auf technischer Natur von statten gegangen, sondern im Kopf der eigenen Mitarbeiter. Es soll keine Angst mehr geben im Team. Eine Angst, die bei Ferrari fast traditionell umhergeht. Die Angst davor, etwas falsch zu machen.