Der Silberstreif am Mercedes-Horizont wird immer breiter: Die Silberpfeile übernahmen in Barcelona den zweiten Platz in der Konstrukteurs-WM, danach sammelten Lewis Hamilton und George Russell 95 weitere Punkte und bauten in den letzten fünf Rennen den Vorsprung auf die Konkurrenz auf 51 Zähler aus. Viel wichtiger für die Stuttgarter, die nur mit Titeln den eigenen Ambitionen gerecht werden können, sind aber die neuerlichen Fortschritte hinter den Kulissen.

Shovlin: Korrelationen vorhanden, Unterboden verstanden

Andrew Shovlin gab den Mercedes-Fans zuletzt Grund zur Hoffnung: "Wir kommen jetzt in ein Stadium, in dem die Korrelation gut ist. Wir beginnen, die Auswirkungen von Veränderungen zu verstehen." Das bedeutet, wenn die Ingenieure eine Idee durch die CFD- und Windkanal-Simulationen jagen und anschließend auch an das reale Auto montieren, macht das Bauteil deutlich häufiger das, was die Ingenieure anhand der Berechnungen erwartet haben.

Andrew Shovlin spricht in einer Pressekonferenz in Ungarn
Andrew Shovlin konnte zuletzt positive Zeichen aus Brackley berichten, Foto: LAT Images

Es ging bei Mercedes weniger darum, die Regeln zu verstehen, sondern darum, über die viel kompliziertere Arbeitsweise des Ground-Effect-Unterbodens zu lernen. Bis 2021 waren die Unterböden erheblich simpler und bis auf den Bereich des Diffusors mussten die Unterseite des Autos komplett flach sein. "Mit den alten Regeln brauchte man das Auto nicht im gleichen dynamischen Sinne betrachten. Anhand der Parameter Rollwinkel, Lenkwinkel und der Fahrhöhe konnten wir schnell erfassen, was vor sich ging", erklärte der Trackside Engineering Director von Mercedes.

Shovlin: Mercedes muss nicht mehr raten

Das ist seit 2022 anders: "Mittlerweile sind die Strömungsstrukturen unter jedem Auto komplizierter und viel volatiler. Das erfordert eine ganz andere Herangehensweise." Was zwischen 2017 bis 2021 die Barge Boards waren, sind für die Aerodynamiker heute die Unterböden. Und genau hier verstünden die Ingenieure in Brackley mehr und mehr was vor sich gehe: "Es sieht so aus, als ob es in die richtige Richtung geht. Wir stellen Teile her und können diese sofort im Rennen einsetzen. Wir tauschen nicht andauernd die Update-Pakete und raten, ob wir das Richtige getan haben."

Kann Mercedes 2024 wieder um den Formel 1 Titel kämpfen? (09:18 Min.)

"Trotzdem sind wir natürlich noch nicht in der Position, in der wir mit dem Reglement 2021 waren, wo wir alles sehr, sehr gut im Griff hatten", betonte Shovlin. Der Umschwung bei den Seitenkästen zahle sich aber aus, auch wenn man das im Entwicklungsrennen nicht immer sehe: "Es ist kaum möglich, die Fortschritte zu messen, weil alle Teams so schnell vorankommen [in der Entwicklung, d. Red.]", meinte 'Shov'.

Mercedes opfert Entwicklungstempo dem WM-Angriff 2024

Die Marschroute für die zweite Hälfte der Formel-1-Saison 2023 ist indes klar. "Wir müssen versuchen, das Entwicklungstempo zu verbessern. Aber unser Haupt-Fokus liegt darauf, sicherzustellen, dass wir Red Bull oder wer auch immer nächstes Jahr an der Spitze steht, herausfordern können. Es gilt, beide Ziele miteinander zu vereinbaren", gab der 49-jährige an. James Allison, der seit April wieder in der Rolle des technischen Direktors arbeitet, bestätigt das: "Wir müssen sicherstellen, dass wir alles lernen, was wir können, und es in das Auto des nächsten Jahres einfließen lassen."

Mit anderen Worten: Mercedes will in der zweiten Saisonhälfte nicht einfach in eine Richtung stürmen und krampfhaft versuchen, den Boliden siegfähig zu machen. Die Fabrik in Brackley soll die verbleibende Zeit, die dem W14 nach der Sommerpause auf der Strecke bleibt, zum Experimentieren nutzen, um über den nächsten Winter effektiver angreifen zu können: "Es geht darum, mit diesem Auto zu lernen. Wenn wir weniger am Auto verändern, werden wir weniger lernen."

Die Pole Position in Ungarn war der erste große Erfolg in der Saison 2023, Foto: LAT Images
Die Pole Position in Ungarn war der erste große Erfolg in der Saison 2023, Foto: LAT Images

Shovlin stellte damit auch klar, was Mercedes meint, wenn das Team davon spricht, sich auf 2024 zu fokussieren. Schließlich bleibt das Reglement gleich, das Abdrehen der Entwicklung des aktuellen Autos lohnt sich deshalb nicht. Die Silberpfeile gestehen sich für 2023 schlichtweg nur weitere - sofern nicht vermeidbare - schlechte Ergebnisse zu, denn "bei der Entwicklung geht es gerade zum großen Teil darum, für die Zukunft zu lernen", fasste der erfahrene Mercedes-Mann zusammen.