Das Auto

Der Lotus E20 galt nach den Wintertests als das 'dark horse' der Saison 2012 - und das nicht wegen seiner schwarzen Lackierung mit goldenen Akzenten. Der in Enstone gefertigte Bolide überzeugte mit seiner Zuverlässigkeit und starken Pace auf Longruns. In der ersten Saisonhälfte konnte der Lotus diesen Eindruck bestätigen. Während die beiden Piloten Kimi Räikkönen und Romain Grosjean im Qualifying die Konkurrenz noch nicht beherrschten, versetzten sie diese in den Rennen mit Bestzeiten in Erstaunen.

Grund für die starke Performance im Renntrim ist der schonende Umgang mit den Reifen. Der E20 neigt nicht dazu, die Pirelli-Pneus zu überhitzen. Was im Rennen ein immenser Vorteil ist, schlägt im Zeittraining negativ zu Buche, da die Lotus-Piloten den Reifen für eine schnelle Runde nur schwer ins optimale Temperaturfenster bekommen. So war das Team aus Enstone in der Regel am Sonntag schneller als am Samstag. Auch wenn ein besseres Qualifying den Schwarz-Goldenen im Rennen zugute käme, sind sie nicht bereit, alles dafür zu tun. "Keinesfalls wollen wir unsere starke Rennpace einer starken Qualifyingpace opfern", betonte Romain Grosjean.

Kimi Räikkönen erprobte in Deutschland und Ungarn das Doppel-DRS., Foto: Sutton
Kimi Räikkönen erprobte in Deutschland und Ungarn das Doppel-DRS., Foto: Sutton

Im Rennen kann der E20 jedoch nicht nur mit einer starken Pace punkten, sondern auch mit Zuverlässigkeit. Auch wenn das Team kleinere Defekte plagten, wie KERS-Aussetzer oder Probleme mit dem Differential, erreichte Kimi Räikkönen in jedem Rennen das Ziel. Teamkollege Grosjean musste lediglich einmal aufgrund eines technischen Defekts die Segel streichen. Ursache des Ausfalls war jedoch ein Zuliefererteil, nämlich die Lichtmaschine von Renault Sport, die auch Sebastian Vettels Rennen in Valencia vorzeitig beendete. Des Weiteren wurden beide Piloten jeweils einmal aufgrund eines Getriebewechsels um fünf Plätze strafversetzt. Insgesamt ist die Zuverlässigkeitsbilanz jedoch eines Top-Teams würdig.

Nach der bereits überzeugenden ersten Saisonhälfte hat Lotus für die verbleibenden neun Rennen noch einen Trumpf in der Hinterhand. Nachdem das Team in China zunächst die Legalität des Doppel-DRS von Mercedes in Frage gestellt hatte, entschied sich Lotus dazu, das für legal erklärte System zu kopieren - wobei sich die Funktionsweise deutlich unterscheiden soll. Auch wenn das Doppel-DRS für die Saison 2013 verboten wurde, ist das Team davon überzeugt, dass sich die Investition lohnt. Nachdem Lotus das Doppel-DRS sowohl in Deutschland als auch in Ungarn im Freien Training testete, soll die Innovation nun im ersten Rennen nach der Sommerpause im belgischen Spa-Francorchamps eingesetzt werden. Experten rechnen mit einem Top-Speed-Gewinn von vier bis fünf Stundenkilometern.

Team & Fahrer

"Wir wollen als eines der Top-Teams in diesem umkämpften Sport angesehen werden und auch dementsprechend abschneiden", hatte Lotus-Teamchef Eric Boullier vor Saisonbeginn verlauten lassen. "Wir wollen besser abschneiden, wir wollen besser sein, wir wollen mehr Podeste und wenn wir die Chance haben, Rennen zu gewinnen, dann sind wir glücklich." In der ersten Saisonhälfte ist es Lotus gelungen, diese Vorgaben zu erfüllen. Es gab kein Rennen, bei dem die Schwarz-Goldenen nicht zumindest als Geheimfavoriten auf den Sieg gehandelt wurden. Mit 192 Punkten rangieren die Mannen von Eric Boullier nur einen Punkt hinter McLaren auf Rang drei Konstrukteurs-Wertung.

Damit liegt Lotus mehr als im Soll, denn sowohl vor als auch während der Saison wurden die Top-4 der Herstellerwertung als Ziel ausgegeben. Ferrari lauert mit 189 Punkten dicht hinter Lotus, und Fernando Alonso sollte man niemals unterschätzen. Allerdings hat Lotus etwas, dass Ferrari in dieser Saison fehlt: zwei Piloten, die konstant in die Punkte und aufs Podest fahren. Auch wenn Grosjean als Rookie noch zu viele Fehler macht und dadurch wertvolle Punkte liegen lässt, schlägt er sich achtbar und befindet sich mit seinem Teamkollegen speedtechnisch auf Augenhöhe.

Nur WM-Leader Fernando Alonso punktete häufiger als Kimi Räikkönen., Foto: Sutton
Nur WM-Leader Fernando Alonso punktete häufiger als Kimi Räikkönen., Foto: Sutton

In der Fahrerwertung kommt jedoch die Erfahrung und Abgebrühtheit eines Weltmeisters zum tragen. Kimi Räikkönen ist mit 116 Punkten und Rang fünf ein ernst zu nehmender Titelkandidat. Der Finne legte nach zwei Jahren Abstinenz ein Comeback hin, das seinesgleichen sucht. Im vierten Rennen seiner zweiten Formel-1-Karriere durfte er bereits wieder Champagner schmecken. Bis auf das Rennen in China, bei dem er aufgrund abgewetzter Reifen bis auf Rang zwölf durchgereicht wurde, punktete er bei jedem Grand Prix. Einzig WM-Leader Fernando Alonso weist eine bessere Bilanz auf.

Die komplett neue Fahrerpaarung, die dem Teamchef Kopfschmerzen bereitete und Experten die Stirn runzeln ließ, hat sich in der ersten Saisonhälfte als Glücksgriff herausgestellt. Beide Piloten schnupperten bereits an der obersten Stufe des Siegerpodests, der erste Erfolg der Schwarz-Goldenen in dieser Saison ist nur noch eine Frage der Zeit.

Ausblick auf zweite Saisonhälfte

Bereits in Spa könnte Lotus den langersehnten Saisonsieg feiern, denn der Kurs in den Ardennen ist Räikkönens zweites Wohnzimmer. Vier Erfolge hat der Finne dort zu Buche stehen und nur mit einem weiteren Eintrag in der Siegerliste würde er sich zufriedengeben. Der Mann aus Espoo straft Kritiker Lügen, die ihm mangelnde Motivation unterstellten. "Wenn man mir im Januar erzählt hätte, dass ich zur Saisonmitte Fünfter bin, wäre ich ziemlich erfreut gewesen. Es ist kein schlechter Platz, aber ich denke, wir haben ein Auto, das gut genug ist, um mehr Punkte zu erzielen. Ich möchte gewinnen", machte er unmissverständlich klar.

Auch Romain Grosjean könnte in dieser Saison noch weitere Glanzpunkte setzen. "Er macht natürlich Fehler, denn er ist jung. Aber das Gute ist, er wiederholt nie einen Fehler. Er lernt, hört zu und wird mit jedem Rennen stärker", betonte sein Teamchef Eric Boullier. In Ungarn startete der Schweizer mit französischer Rennlizenz erstmals aus der ersten Reihe - nur Lewis Hamilton war schneller. Im Qualifyingduell hat Grosjean mit 7:4 seinen erfahreneren Teamkollegen in der Hand. Wenn er es ohne Zwischenfälle durch die ersten Runden schafft, dann ist auch er ein Siegkandidat.

"Uns haben bisher nur zwei Dinge gefehlt, die wir jetzt haben: ein konkurrenzfähiges Auto über die ganze Saison hinweg und zwei Top-Piloten wie Kimi und Romain", hatte Lotus-Miteigentümer Gerard Lopez vor der Saison erklärt und bringt damit die diesjährige Stärke auf den Punkt. Den Beweis, dass Lotus über eine ganze Saison konkurrenzfähig sein kann, muss das Team noch erbringen. Doch die Chancen, dass sich die Schwarz-Goldenen als Top-Team etablieren, stehen sehr gut.