Er war bis Sebastian Vettel der jüngste Weltmeister aller Zeiten, aber er überholt wie ein alter Hase. Lewis Hamilton erklärt dem Motorsport-Magazin, was bei einem Überholmanöver in seinem Kopf vorgeht und wie viel Platz darin für den fahrenden Ingenieur reserviert ist.

MSM: Lewis, Du hast vor einiger Zeit zusammen mit Jenson [Button] einen lustigen Videoclip für euren Sponsor Vodafone gedreht - gemeinsam habt ihr euer Auto zusammengebaut. Den Bildern nach zu urteilen hattet ihr dabei sehr viel Spaß...
LEWIS HAMILTON: Oh ja, das hat wirklich viel Spaß gemacht. Grundsätzlich machen alle Events mit Vodafone viel Spaß. Sie denken darüber nach und versuchen, von vorneherein dafür zu sorgen, dass es unterhaltsam ist. Das gefällt uns umso besser, denn wir unternehmen gerne etwas gemeinsam und es war eine richtig coole Idee, ein Formel-1-Auto zusammenzubauen. Ich glaube, sie dachten, dass wir es nicht schaffen würden, aber wir haben es geschafft!

Könntest Du Dein Auto zuhause in der Garage reparieren?
Das denke ich schon, ja. Das wäre kein Problem. Schließlich ist das viel einfacher als bei einem Formel-1-Auto.

Wie viel Ingenieur steckt heutzutage in einem Formel-1-Rennfahrer? Wie sehr musst Du wie ein Ingenieur denken?
Ich weiß nicht, wie es bei den anderen Fahrern aussieht, aber ich kenne mein Auto in- und auswendig. Klar, ich muss nicht wissen, wie der Dämpfer genau eingestellt sein muss, welchen Druck das Team wählt. Als Fahrer muss ich nicht die exakten Zahlen für den vorderen Stabi oder die Federn wissen, aber ich muss absolut alles verstehen, was mit dem Setup des Autos zu tun hat. Ich persönlich verlasse mich nicht ausschließlich auf meinen Renningenieur und sage ihm: Ich habe dieses Problem, bitte behebe das - und dann macht er alles im Alleingang. Stattdessen komme ich in die Box und sage: Wir sollten dies und das ausprobieren. In 99 Prozent der Fälle liege ich richtig. So etwas geht nicht über Nacht, das entwickelt sich über einen langen Zeitraum. Wir haben am Freitag nur zwei Mal 90 Minuten Freies Training - das ist nicht viel. Im ersten Training fahren wir normalerweise drei Runs, im zweiten noch einmal drei und im dritten Training am Samstag, das nur eine Stunde dauert, sind es nur noch zwei Runs. Das ist nicht viel Trainingszeit.

Was machst du, wenn du die McLaren-Fabrik besuchst? Worüber sprichst Du mit den Designern und Ingenieuren?
Es ist immer viel zu tun. Wir haben viele Meetings mit den Ingenieuren - etwa über das nächstjährige Auto, neue Upgrades und Komponenten oder ein Debrief zum vorherigen Rennen. Ich schaue auch mal im Windkanal vorbei, um mir anzuschauen, welche neuen Teile gerade getestet werden. Klarerweise verbringe ich auch viel Zeit im McLaren-Simulator, um mich auf die kommenden Rennen vorzubereiten.

Lewis Hamilton ist ein fahrender Ingenieur, Foto: McLaren
Lewis Hamilton ist ein fahrender Ingenieur, Foto: McLaren

Was kannst Du den Ingenieuren alles verraten, das sie noch nicht aus den ganzen Telemetrie-Daten wissen?
Es gibt jede Menge Dinge, die sie noch nicht wissen. Niemand weiß alles, man kann immer etwas dazulernen. Außer mir kann keiner genau erklären, wie es sich im Auto anfühlt - einmal abgesehen von den anderen Fahrern. Die Ingenieure kennen das Gefühl nicht, in einem Rennauto zu sitzen, sie kalkulieren und berechnen Dinge, erstellen Theorien. Ich lebe vom Gefühl. Zwei verschiedene Charaktere müssen zusammenarbeiten, um das stärkste Paket zu erschaffen.

Rubens Barrichello hat eine nette Geschichte erzählt, dass ihn seine Williams-Ingenieure mitten in der Nacht angerufen haben, weil er gerade zuhause in Brasilien war. Ist Dir schon mal etwas Ähnliches passiert?
[lacht] Nein, das ist mir noch nicht passiert. Vielleicht hat es mal ein Ingenieur in der Nacht probiert, aber ich bin dann von dem Anruf nicht aufgewacht. Aber vorsichtshalber stelle ich das Telefon ab sofort auf stumm...

Beim Goodwood Festival of Speed durftest Du in diesem Jahr einen alten McLaren MP4/C ausprobieren. Wie war die Zeitreise für Dich?
Es war richtig cool. Das Auto gehörte früher Alain Prost und es war eine einzigartige Erfahrung für mich, damit zu fahren. Nicht viele Menschen erhalten die Gelegenheit, ein historisches Rennauto zu fahren, das sie früher im Fernsehen gesehen haben, als die größten Fahrer aller Zeiten gegeneinander angetreten sind. Es ist cool, ein bisschen ein Verständnis dafür zu bekommen, wie sie sich damals gefühlt haben.

Goodwood ist keine richtige Rennstrecke, aber hast Du die Turbo-Power gespürt?
Oh ja, die heutigen Formel-1-Autos sind viel, viel langsamer! Obwohl die Technologie von damals im Vergleich zu heute viel älter ist. Sobald der Turbo eingreift, wird das Auto zu einem Biest. Heutzutage ist die Leistung sofort da, bei den alten Turboautos muss man ein paar Sekunden warten, bevor die Power losbricht.

Du bist auch schon einige andere alte Rennautos gefahren...
Ich bin einen McLaren MP4/4 gefahren - Ayrton Sennas ehemaliges Auto. Damit hat sich für mich ein Traum erfüllt. Das hatte ich mir sehr gewünscht. Letztes Jahr bin ich auch einen alten Mercedes-Benz W 125 gefahren. Das war Wahnsinn! Richtig wahnsinnig, unglaublich. Ich habe in die Kurve eingelenkt und dachte, ich falle raus. Das war ein fantastisches Auto. Wenn ich daran denke, was die Fahrer damals geleistet haben, muss ich sagen: Diese Jungs waren wirklich verrückt! Aber ich würde es wohl auch machen... [lacht]

In dieser Saison ist das Low-Fuel-Qualifying mit fast leeren Tanks zurück. Ist das eine besondere Herausforderung für Dich als Fahrer?
Absolut. Es ist wahrscheinlich der schönste Moment des Rennwochenendes, wenn das Team den Tank leer pumpt und du raus fährst, um ganz auf dich allein gestellt, Zeit gutzumachen. Im Gegensatz zu den letzten Jahren gibt es keine 10 Kilo zusätzlichen Sprit mehr im Tank, die zwei Zehntel kosten und die man als Fahrer nicht mehr zurückholen kann. Es ist klasse, dein Maximum zu geben - Maximum, Maximum, Maximum. Das ist richtig cool.

Lewis Hamilton packte im Motorsport-Magazin aus: Sein Überholgeheimnis, Foto: adrivo Sportpresse
Lewis Hamilton packte im Motorsport-Magazin aus: Sein Überholgeheimnis, Foto: adrivo Sportpresse

Obwohl Du in diesem Jahr am Ende des Qualifyings nicht immer der Schnellste warst, hast Du trotzdem mehrfach gesagt: Das war eine klasse Runde!
Meine Pole-Runde in Montreal war spektakulär. Mit dieser Runde war ich wahnsinnig zufrieden. Auch die Runde in Silverstone war für mich spektakulär - obwohl ich nicht auf der Pole stand, war es ein besonderes Gefühl. Darauf kommt es an.

Du hast in den ersten Rennen die meisten Überholmanöver aller Fahrer vollführt. Ist Überholen für Dich eine Art Kunst?
Überholen ist eine Kunst. Nicht nur in der Formel 1, sondern allgemein in jeder Rennklasse, egal ob bei den Gokarts oder anderen Formelserien. Es ist etwas Besonderes, das nicht jeder beherrscht. Ein erfolgreiches Überholmanöver erfordert viel Überlegung und Berechnung des Abstands zum Vordermann. Es ist wahrscheinlich eine der komplexesten Situationen, in der man sich im Rennen wiederfinden kann. Dennoch liebe ich sie am meisten. Wenn ich hinter einem anderen Fahrer liege, muss ich verstehen, was mein Auto macht, schaue aber hauptsächlich auf die Strecke und nicht auf den Gegner. Ihn nehme ich nur peripher wahr. Aber obwohl ich nur auf die Strecke schaue, weiß ich, wann er langsamer wird und dann bremse ich auch. Ich reagiere konstant auf ihn. Das ist eine wirklich seltsame Erfahrung.

Denkst Du auch darüber nach, gegen wen du gerade kämpfst? Was seine Stärken und Schwächen sind?
Nein. Wenn ich hinter einem anderen Fahrer bin, möchte ich ihn einfach nur überholen. Klar, wenn ich vorher schon Erfahrungen mit ihm gesammelt habe und weiß, dass er einfach in mich rein fahren würde, dann versuche ich ihm auszuweichen. Aber sonst sind alle Fahrer gleich.

Was hältst Du von den neuen Regeln für 2011 - wird die Befriedigung für ein gelungenes Überholmanöver geringer ausfallen, wenn man mit einem Knopfdruck für KERS oder den beweglichen Heckflügel einfach vorbeifahren kann?
Ich habe keine Ahnung. Noch haben wir es nicht getestet und sie haben auch die Regeln noch nicht finalisiert. Deshalb kann ich das nicht richtig einschätzen und kommentieren. Ich mag es, wie es jetzt ist und hoffe, dass alle Regeländerungen dem Sport helfen, damit wir weiterhin eine so tolle Show bieten können wie in diesem Jahr.

Das Exklusivinterview mit Lewis Hamilton stammt aus Ausgabe 13 (September) unseres Printmagazins Motorsport-Magazin. Mehr Technikhintergründe, Interviews und Reportagen lesen Sie im Motorsport-Magazin - im gut sortierten Zeitschriftenhandel oder am besten direkt online zum Vorzugspreis bestellen: