Der Lotus 88 ist alles andere als ein Unbekannter - dieser Bolide aus den frühen Achtzigerjahren ist vielen Formel 1-FreundInnen bekannt - und das, obwohl dieses revolutionäre Auto keinen einzigen Formel 1-Grand Prix bestritten hat. Viermal tauchten die pechschwarzen Raketen 1981 an einem Grand Prix-Wochenende auf - die umstrittenen Autos wurden jeweils von den lokalen Stewards für legal erklärt und für das Training zugelassen, vor dem Rennen jedoch erklärte die Oberste Sportbehörde, damals noch als FISA amtstätig, die Renner kurzerhand für illegal. Der sensible Elio de Angelis und Nigel Mansell, damals noch ein Frischblut in der Formel 1, wurden zum Teil im Freien Training mit der schwarzen Flagge an die Box gewunken. Dann mussten die Piloten stets in die Vorgängermodelle mit der Typennummer 87 umsteigen.

Viele kennen den Lotus 88 als den "Doppeldecker", denn dieser Wagen verfügte, vereinfacht erklärt, über zwei Chassis. 1981 bedeutete das Ende der kurzen Ära der "Ground Effect"-Autos - der Unterboden, die Seitenkästen waren in voller Länge als Flügelprofil angelegt, mit seitlich auf dem Asphalt schleifenden Keramikschürzen wurden die Kanäle abgedichtet. An der jüngsten Stelle des umgekehrten Flügels wurde der Wagen laut dem Venturi-Effekt angesaugt. Die Bodenhaftung dieser Autos war so stark, dass man in vielen Fällen auf Frontflügel verzichten konnte.

Ground-Effect: Flügelauto ohne Flügel

Einige Teams wie Brabham, Arrows und natürlich auch Lotus, deren Modelle 78 und 79 eigentlich die Vorreiter der "Ground Effect"-Cars waren, versuchten, auch ohne Heckflügel beziehungsweise nur mit einer niedrigen, flachen Endplatte auszukommen. Der Vorteil liegt auf der Hand: Weniger Luftwiderstand. Doch die Autos mussten dann doch mit herkömmlichen Heckspoilern ausgestattet werden. Jedenfalls klebten diese Flügelautos auf der Straße - und natürlich stiegen die Kurvengeschwindigkeiten markant an. Man kann sich aber auch leicht vorstellen, was mit einem solchen Auto passiert, wenn diese Schürzen plötzlich brechen, der Ansaugeffekt mit einem Mal endet.

Der Lotus 88 ist Ground Effect in Reinkultur., Foto: Sutton
Der Lotus 88 ist Ground Effect in Reinkultur., Foto: Sutton

1981 waren die Schürzen erstmals verboten, die Boliden mussten sechs Zentimeter Bodenfreiheit aufweisen. Der Lotus 88 konnte diesen Abstand beim Scrutineering in der Box selbstverständlich vorweisen - doch mit freiem Auge konnte man sehen, dass sich der Bolide bei schneller Fahrt senkt und die Wände der Sidepods wie bei den "Wing Cars" den Boden berühren.

GP-Phantom Lotus 88

Ein letztes Mal probierte es der legendäre Lotus-Boss Colin Chapman beim Heim-Grand Prix in Silverstone - doch das Schauspiel wiederholte sich zum vierten Mal: Die lokalen Stewards messen die Bodenfreiheit und erklären den Boliden für legal, nach Ankunft des FISA-Personals wird die Entscheidung der Stewards revidiert und der Wagen für illegal erklärt. Danach ist der Lotus 88 bei keinem Grand Prix mehr aufgetaucht, er wurde zu einem Phantom. Dass sich der Wagen senken konnte, lag natürlich an dem zweiten Chassis - doch das Konzept für diesen Wagen entstand noch vor dem Verbot der Schürzen, die Geschichte des 88 beginnt bereits Mitte der Siebzigerjahre.

Dies berichtet der damalige Mitarbeiter und Weggefährte von "Mr. Lotus" Colin Chapman, der Brite Peter Wright. Er setzte viele der Ideen von Chapman um - Wright berichtet auf Grandprix, dass die Geschichte des Lotus 88 eigentlich schon viel früher, nämlich im Jahr 1975 begann. Damals blickte das Lotus-Team auf eine erfolgreiche Zeit mit 20 GP-Siegen und drei gewonnenen Weltmeisterschaften zurück, die allesamt mit dem Modell Lotus 72 eingefahren wurden, welches man in leicht veränderten Versionen fünf Jahre lang zum Einsatz brachte. Die Nachfolgemodelle 76 und 77 waren weniger erfolgreich. Chapman erklärte Wright damals, dass die Lotus-Boliden in punkto Vorderreifen Probleme bereiten würden - die Fahrer beklagten ständig ein exzessives Untersteuern.

Das gefürchtete porpoising-Phänomen

Mit dem Lotus 78 gelang es dem Team, die Vorderreifen besser zu nützen, indem man den Schwerpunkt weiter nach vorne rückte. Noch besser gelang dies beim Lotus 79 und auch bei dem revolutionären Modell 80 - jenem Lotus, der eigentlich ohne Heckflügel auskommen hätte sollen - dafür jedoch entstand ein neues Problem: Die Briten nannten es "porpoising" - die Piloten fürchteten dieses Phänomen. Schlug der Lotus 80 auf einer Bodenwelle auf, begann der Wagen auf und ab zu nicken, er begann zu schwingen, ja sogar aufzuschlagen. Peter Wright schrieb in dem Essay: "Ich kann mich noch eindrucksvoll daran erinnern, wie Mario Andretti berichtet hat, dass in Silverstone bei voller Fahrt die Vorderräder abheben und den Bodenkontakt verlieren würden." Die Schwingungen, die während der Fahrt entstanden, waren so stark, dass die Piloten über Sehstörungen klagten.

Viermal wurde der Lotus 88 für illegal erklärt., Foto: Sutton
Viermal wurde der Lotus 88 für illegal erklärt., Foto: Sutton

Das "porpoising"-Problem des Lotus 80 konnte nie gelöst werden, aber: "Der Lotus 80 hat bestätigt, dass es noch viel mehr Downforce zu generieren gibt - aber so lange der Wagen unkontrollierbar bleibt, ist diese Downforce nutzlos", erkannte Wright. Er besprach das Problem mit einem Kollegen, der am "Cranfield College of Aeronautics" in leitender Position arbeitete. Dieser Mann hat Wright dann erklärt: "Was du brauchst, ist eine aktive Radaufhängung." Doch diese wurde als "Plan B" zur Seite gelegt - man entschied sich für "Plan A" - und der beinhaltete ein "Twin-Chassis" - ein Auto mit quasi zwei Fahrgestellen.

Das Doppelchassis-Konzept

Nachdem man zunächst einen herkömmlichen Lotus 81, mit dem das Team 1980 antrat, adaptiert hatte und ein Zwischenmodell namens Lotus 86 testete, entstand der Lotus 88, mit zwei Chassiseinheiten, beide hatten eine Radaufhängung vorzuweisen. Da war die innere Struktur mit dem Monocoque, dem Motor und sehr komfortabel gefederten Radaufhängungen. Und die äußere Struktur: Die gesamte Verkleidung respektive Karosserie mit den Seitenwänden, deren untere Enden Keramikschürzen aufwiesen - diese Einheit war eigenständig mit kleinen, steifen Federn an den Rädern aufgehängt, diese Federn waren darauf optimiert, effektiv auf die aerodynamische Last zu reagieren, sprich den Wagen ab einer relevanten Geschwindigkeit zu senken.

Elio de Angelis im herkömmlichen Lotus 87., Foto: Sutton
Elio de Angelis im herkömmlichen Lotus 87., Foto: Sutton

Peter Wright und Colin Chapman haben vor dem Bau des 88 das Reglement genau studiert: "Das Regelwerk besagte, dass jeder aerodynamische Teil des Autos komplett mit dem Chassis verbunden sein muss." Der Kniff dahinter: Im französischen Originaltext der Regeln ist nicht ersichtlich, ob es sich bei dem Wort "Chassis" um die Einzahl oder die Mehrzahl handelt. Wright: "Um die Gedanken der Leute gleich auf die richtige Bahn zu lenken, sprachen wir ganz bewusst vom 'Doppel-Chassis'..."

Die fahrbare Version des Lotus 80

Nach dem ersten Test mit dem Übergangsmodell in Madrid-Jarama, ein Geheimtest unter Ausschluss der Öffentlichkeit, stellte das Lotus-Team erfreut fest: Während die äußere Karosserie-Struktur die Seitenkästen abdichtete, saß der Pilot in der komfortabel gefederten, rein mechanischen Struktur - das "porpoising"-Phänomen trat nicht mehr auf. Der spätere Lotus 88 konnte all die Errungenschaften des unkontrollierbaren Lotus 80 vorweisen: Kein Frontflügel nötig und nur eine kleine, flache Endplatte anstatt eines herkömmlichen, Luftwiderstand erzeugenden Heckflügels. Der Lotus 88 war quasi ein kontrollierbarer, fahrbarer Lotus 80.

Die Karosserie als zweites, sich senkendes Chassis., Foto: Sutton
Die Karosserie als zweites, sich senkendes Chassis., Foto: Sutton

Und so ging Lotus 1981 frohen Mutes ans Werk - mit einem "Wing Car", welches mit seinem "Twin-Chassis" endlich umsetzen konnte, was zuvor neben Lotus auch Teams wie Brabham oder Arrows mit den Modellen BT48 und A2 nicht geschafft haben.

Plötzliches Schürzenverbot

Doch dann verbannte die FISA "aus heiterem Himmel", wie Wright es beschreibt, die seitlichen Schürzen, legte die erwähnten sechs Zentimeter Bodenfreiheit fest. Und erst in diesem Moment erkannte Wright und Chapman, dass der Lotus 88 mit seinem Doppelchassis bestens geeignet ist, diese Regel zu umgehen: "Wir brauchten rund 30 Sekunden, um zu erkennen, dass wir mit unserem Doppelchassis-Konzept die perfekte Lösung hatten." Nun musste man den 88 nur noch auf die spezielle Problematik der neuen Regel hin adaptieren: "Wir wollten, dass die Karosserie schnell sinkt, aber langsam wieder hochkommt - damit sie unten bleibt, wenn die Geschwindigkeit für einen Moment nachlassen sollte." Mit speziellen Federn fand man auch die Lösung.

Beim ersten Test des Lotus 88 in Le Castellet, auf feuchter Strecke, war auch Alfa Romeo zugegen, um deren Modell 179/C zu testen - die Italiener wollten wissen, was die Zeiten der neuen Lotus-Rakete wert sind - der schwarze Bolide war bei seinem Stapellauf prompt um eine volle Sekunde schneller.

Der Lotus 88 - eine elegante, gefährlich wirkende Rakete, Foto: Sutton
Der Lotus 88 - eine elegante, gefährlich wirkende Rakete, Foto: Sutton

Die Konkurrenz hatte längst Wind von der Angelegenheit bekommen - vor dem ersten Auftauchen des 88 gab es wilde Spekulationen rund um den revolutionären Boliden.

Späte Bestätigung

Peter Wright betont in seinem Essay, dass damals auch die hohe Formel 1-Politik hinter der "Causa Lotus 88" steckte. Die Jahre 1980 und 1981 waren gezeichnet von dem großen Politzank zwischen der Sporthoheit FISA und der Konstrukteursvereinigung FOCA, der jedoch nicht alle Teams angehörten - Ferrari beispielsweise gehörte zu den "FISA-Teams". Peter Wright ist sich darüber im Klaren, dass man mit dem Doppel-Chassis das Regelwerk quasi auf den Prüfstand stellte - "obwohl es ursprünglich nicht geplant war", stellt Wright noch einmal fest. Lotus erschien in weiser Voraussicht mit beiden Modellen, dem 88 und dem herkömmlichen 87 zu den Rennen. Wright: "Der Lotus 88 war ein interessantes Experiment, obwohl ich nie erfahren durfte, ob es letztlich im Renneinsatz funktioniert hätte oder nicht."

Dass es womöglich sogar äußerst zufriedenstellend funktioniert hätte, deutete Steve Hitchins 2001 in der Thoroughbred Grand Prix-Serie für historische F1-Autos an. Hitchins steuerte einen privat erworbenen Lotus 88 und konnte sich damit gegen die herkömmlichen und in der Geschichte äußerst erfolgreichen Modelle dieser Ära, wie dem mehrfach in seinen verschiedenen Ausführungen vertretenen Williams-Cosworth FW07 mehr als nur messen. Peter Wright schloss seinen Essay mit den Worten: "Jetzt, 20 Jahre später, zeigt Hitchins, dass es durchaus möglich gewesen wäre, dass der Lotus 88 eine Revolution im Formel 1-Design hätte sein können."