Der tödliche Unfall Allan Simonsens in Le Mans hat den Motorsport dieser Tage aufgeschreckt - wieder einmal, so möchte man sagen. Dem tragischen Unglück an der Sarthe folgten weitere Negativschlagzeilen, konnte vor zwei Wochen bei der Lamborghini Super Trofeo in Le Castellet doch auch der Italiener Andrea Mamé aus seinem Wrack nicht lebendig geborgen werden. Vergangenes Wochenende kam es nun bei der Formel 1 auf dem Nürburgring zu einem Zwischenfall in der Box - ein Kameramann wurde vom herrenlos umherspringenden Rad Mark Webbers getroffen und kam mit mehreren Knochenbrüchen noch vergleichsweise glimpflich davon. Nichts desto trotz entbrannte sofort wieder eine allumfassende Sicherheitsdebatte im Rennsport, die beileibe nicht die erste war... und auch sicher nicht die letzte bleiben wird.

Neben Lauda & Piquet: Watkins ist genauso eine Legende der F1, Foto: Sutton
Neben Lauda & Piquet: Watkins ist genauso eine Legende der F1, Foto: Sutton

Ging es um die Sicherheit im Motorsport, stand Jahrzehnte lang ein Mann an allererster Stelle: Dr. Sid Watkins, der im vergangenen Spätsommer im Alter von 84 Jahren verstarb. Motorsport-Magazin.com blickt auf die bewegte Schaffensperiode und ein oder andere Anekdote eines Pioniers zurück: Der sympathische Engländer war über 25 Jahre der offizielle Rennarzt der F1 und trug mit seinen Innovationen maßgeblich zum heutigen Sicherheitsstandard der Königsklasse bei. In erster Linie war 'Professor Sid' aber auch einfach enger Vertrauter, Zuhörer und Freund der Fahrer. 424 Grand Prix - das ist eine Rekordzahl, auf die im Fahrerlager kaum einer kommt. Im schnelllebigen Business der Formel 1 sind solche Marken Seltenheit geworden. Manch einer der dienstälteren Teamchefs kann da vielleicht noch mithalten und selbstredend ein Bernie Ecclestone, der gefühlt ohnehin schon immer da war.

Wander- & Lehrjahre

Bei den Fahrern ist in Sachen Rekordzahl knapp einhundert Starts darunter Schluss... fragen Sie doch einmal Rubens Barrichello, Michael Schumacher oder Riccardo Patrese. 424 - woher könnte diese Zahl kommen, wenn es kein Pilot, Teamchef oder Verantwortlicher ist? 424 - das ist die Marke eines Mannes, der uns in Erinnerung ruft, dass es im großen, weiten Kosmos der Formel 1 Menschen gibt, die so viel wichtiger sind als alle Stars und Sternchen zusammen... Menschen, die es erst möglich machen, dass ein paar Verrückte sich in mit bis zum Rand voll mit Benzin gefüllten Bodenraketen jenseits von 320 Stundenkilometern von der Straße drängen - Waghalsige von denen nicht wenige, eben diesem Mann sehr viel zu verdanken haben, manche sogar ihr Leben. 424 - das ist die Marke von Professor Sid.

Von 1978 bis 2004 war der allseits beliebte Brite offizieller Rennarzt der Formel 1. Doch das Leben des 1928 in Liverpool geborenen Eric Sidney Watkins war auch schon vor dem Motorsport ein bewegtes, was es umso beeindruckender macht, dass er seine kostbare Zeit der gefährlichen Leidenschaft einiger Rennfahrer zur Verfügung stellte. Medizin hatte Watkins studiert, später zog es ihn schnell ihn die weite Welt hinaus. In West-Afrika arbeitete er in den Fünfzigerjahren für das Royal Army Medical Corps, ganz im Stile der britischen Post-Kolonialzeit. In Oxford spezialisierte er sich anschließend auf den Sektor der Neurochirurgie, parallel kam er auf dem nahegelegenen Silverstone Circuit erstmals mit dem Rennsport in Berührung. Doch die Zeit der Wander- und Lehrjahre des ambitionierten Arztes schienen noch nicht vorbei, nahm er doch wenig später eine Professur an der State University of New York an.

Wieder zurück auf der Insel, heuerte er am London Hospital an und begab sich auch wieder nach Silverstone, wo er das Geschehen beim Großen Preis von Großbritannien überwachte. Ende der Siebzigerjahre war es dann soweit und der ihm bis dahin unbekannte Bernie Ecclestone, damals noch in seiner Funktion als Teammanager von Brabham, rief ihn an, um ihm den Posten als F1-Doc und damit verbunden ein Honorar von stattlichen 35.000 US-Dollar anzubieten. "Ich sagte, dass ich es machen würde. Erst danach hat er mir erklärt, dass ich für meine Reise- und Unterkunftskosten natürlich selbst verantwortlich wäre. Typisch Bernie: Sehr clever", erinnerte sich Dr. Watkins Jahre später. Die Beziehung zwischen ihm und dem Zampano reifte anschließend trotzdem zu einer engen Freundschaft... so eng sogar, dass seine Frau Susan viele Jahre später die Biographie des Mr. E verfassen sollte.

Balestre, Montreal & ein Steak

Was Watkins selbst so einzigartig und unentbehrlich machte, waren jedoch nicht nur seine unzähligen Ideen zum immer weiteren Verbessern der Sicherheit, sondern die Tatsache, dass er mit seinem positiven Wesen und seiner warmherzigen Art schnell zum engen Vertrauten und letztendlich auch zur Vaterfigur vieler der jungen Piloten emporstieg. Schnell wurden ihm aber auch die Schattenseiten seines wenig distanzierten Umgangs mit den Fahrern vor Augen geführt - nur wenige Wochen nach Antritt seines Jobs verunglückte bei einem großen Startunfall in Monza Ronnie Peterson.

Petersons Unfall regte Watkins zum Nachdenken an, Foto: Sutton
Petersons Unfall regte Watkins zum Nachdenken an, Foto: Sutton

Watkins musste als leitender Arzt jedoch an der Strecke bleiben, um den verletzten Lotus-Fahrer kümmerten sich fortan die ansässigen Ärzte. Nach Behandlungsfehlern starb der Schwede jedoch am nächsten Tag, an - wie Watkins fand - eigentlich behandelbaren Beinverletzungen. Für ihn stand fortan fest, dass sich schleunigst etwas ändern musste und in den folgenden Jahren trieb er unermüdlich und kontinuierlich die Sicherheitsstandards nach oben. Watkins machte deutlich, dass es ihm möglich sein müsse, nach einem Zwischenfall unverzüglich vor Ort zu sein, um rechtzeitig lebensrettende Maßnahmen einleiten zu können. Es war die Geburtsstunde des Medical Cars.

Doch nicht überall wurden Watkins Bemühungen ernst genommen. FIA-Präsident Jean-Marie Balestre ignorierte den Pioniergeist des Briten beispielsweise eine Zeit lang, mochte er es doch nicht, wenn sich Außenstehende in 'seinen' Sport einmischten. Erst als der Franzose in Montreal beim Abendessen drohte, an seinem Steak zu ersticken, man ihm bei seiner Rettung eine Rippe brach und er spät in der Nacht seine Frau anwies, Dr. Watkins zu konsultieren, um ihm ein Schmerzmittel zu verabreichen, wuchs sein Ansehen für den Arzt für alle Fälle... und siehe da: Ab dem nächsten Rennen bezahlte der Weltverband Watkins auf einmal das Hotelzimmer. Nach und nach machte sich die Arbeit bezahlt, eine eigene Sicherheitskommission unter seiner Leitung wurde ins Leben gerufen - Gedanken ans Aufhören hatte Watkins trotz der Brutalität einiger Verluste nie.

"Ich hatte als normaler Arzt davor auch schon mit Kopfverletzungen, Motorrad- und Autounfällen zu tun, die meistens genauso tragisch ausgingen. Der Unterschied war nun allerdings, dass es meine Freunde waren, die es erwischte, wenn ein Rennfahrer umkam. Glücklicherweise verloren wir nicht zu viele und über die Jahre wurde es besser. Es gibt doch nicht besseres, wie wenn ein junger, netter Bursche heil aus einem völlig verbeulten Wrack entsteigt..." Watkins erklärte einmal: "Auf ihre jeweils unterschiedliche Art, waren eigentlich alle Fahrer gute Freunde und wir kamen immer gut zusammen aus." Doch auch der Brite hatte seine Lieblinge, genauso wie er auf der anderen Seite nie einen Hehl aus seiner Abneigung gegenüber Didier Pironi machte, den er oft als undankbar empfunden hatte oder seine Wut in Bezug auf Nigel Mansell, der so manche Verletzung simulierte und seinen Landsmann damit in den Wahnsinn trieb.

Zu Besuch bei Senna in Brasilien

"Besonders gut kannte ich aber Ayrton [Senna] - besser als jeden anderen Fahrer. Wir standen uns sehr nahe. Einmal besuchte er mich in meinem Ferienhaus in Schottland, ein paar Jahre später verbrachte ich einige Zeit mit ihm auf seiner Farm in Brasilien." Als ein Sturm über den Ländereien tobte und für einen Stromausfall sorgte, fuhr der dreifache Weltmeister mit Wakins stundenlang durch die Gegend, um ein Telefon zu suchen, da dieser versprochen hatte, seine Frau in der weit entfernten Heimat anzurufen. "Irgendwann fanden wir eine Garage, in der Licht brannte. Ayrton überredete den Anwohner schließlich, dass ich telefonieren durfte. Während ich das tat, bemerkte ich, dass sich unsere Anwesenheit im Dorf herumgesprochen hatte und Ayrton draußen im Regen unter einer Straßenlaterne stand und umlagert von Kindern Autogramm schrieb."

Bruno Sennas Onkel Ayrton war ein guter Freund von Watkins, Foto: GP2 Series
Bruno Sennas Onkel Ayrton war ein guter Freund von Watkins, Foto: GP2 Series

Bei Sennas tödlichen Unfall am 1. Mai 1994 in Imola war Watkins als Erster am Wrack des Williams-Piloten und musste schnell das ganze Ausmaß der Katastrophe erkennen. Noch am Vorabend hatte ihn der Brasilianer im Medical-Centre aufgesucht, um sich über den Gesundheitszustand des im Qualifying verunglückten Roland Ratzenberger zu informieren. "Als ich ihm die traurige Nachricht mitteilen musste, brach er in Tränen aus. Ich schlug ihm daraufhin vor, mit dem Rennfahren aufzuhören und sagte ihm, dass er niemandem mehr etwas beweisen müsse. 'Hör auf! Und dann gehen wir gemeinsam fischen.'" Senna entgegnete, dass es gewisse Dinge gäbe, die nicht kontrollierbar seien, er das kurzum nicht könne... und raste nur wenige Stunden später in den Tod.

"Als wir an der Unfallstelle in der Tamburello ankamen und ich sah, dass es Ayrton war, änderte das erst einmal nichts, denn ich war zu beschäftigt, um über irgendetwas anderes nachzudenken, als zu funktionieren. Als wir ihn aus dem Auto holten, fühlte er sich unglaublich leicht an. Ich nahm ihm den Helm ab und sah in seine Augen... da wusste ich, dass er es nicht überleben würde. Er hatte furchtbare Kopfverletzungen." Obwohl er noch zehn lange Jahre als Rennarzt der F1 weitermachte, musste Watkins nie wieder einen derartigen Verlust beklagen. 1995 rettete er beispielsweise Mika Häkkinen das Leben, als er beim Finnen direkt nach seinem schlimmen Abflug im australischen Adelaide noch an der Strecke einen Luftröhrenschnitt vornahm, ohne den der McLaren-Pilot wohl erstickt wäre.

Dass es ein langer Kampf war, um die Königsklasse in Sachen Sicherheitstechnologie dorthin zu bringen, wo sie heute steht, quittierte Watkins immer nur mit einem Lächeln. "Das ist eben die Formel 1. Wenn man etwas nicht vehement verlangt, kommt man hier gar nirgendwohin. Niemand akzeptiert Veränderung, nur weil man denkt, dass sie gut sei. Man muss es beweisen." Diese Beweise lieferte 'Professor Sid' immer und immer wieder. Dafür wird ihm der F1-Tross immer zu größter Dankbarkeit verpflichtet sein - oder wie Michael Schumacher, dem Watkins nach seinem Beinbruch in Silverstone 1999 selbst bestand, es formulierte: "Er war immer für uns Fahrer da. Sid verband Kompetenz mit Herz."

Das Portrait über Dr. Sid Watkins und seinen unermüdlichen Kampf für die Verbesserung der Sicherheit im Motorsport stammt aus der Printausgabe des Motorsport-Magazins. Mehr History-Geschichten, Technikhintergründe, Interviews und Analysen lesen Sie im Motorsport-Magazin - im gut sortierten Zeitschriftenhandel oder am besten direkt online zum Vorzugspreis bestellen: