In Portland erwartet die Formel E das extremste Rennen der Saison 2023. Verrückt: Auf dem IndyCar-Kurs im US-Bundesstaat Oregon geht es gleichermaßen schnell wie langsam zur Sache. Auf der einen Seite erwarten die Elektro-Renner die schnellsten Durchschnittsrundenzeiten und höchsten Topspeeds in der Geschichte der Serie, auf der anderen das vermutlich langsamste Rennen des Jahres. Das gesamte Fahrerlager wappnet sich zum zwölften Saisonrennen (02:00 Uhr MEZ in der Nacht auf Sonntag bei ProSieben) für eine wahre Energiespar-Schlacht, wie man sie vorher noch nicht erlebt hat!

Was die bis zu 350 kW (476 PS) starken Gen3-Autos auf der 3,221 Kilometer langen Streckenvariante zu leisten im Stande sind, zeigte sich schon im 1. Freien Training am Freitagnachmittag Ortszeit. Rene Rast (McLaren) erreichte bei seiner Bestzeit einen Rundenschnitt von 166,3 km/h - ein neuer Rekord für die Formel E. Parallel dazu stellte Mitch Evans (Jaguar) mit einem Topspeed von 276,6 km/h einen neuen Höchstgeschwindigkeitsbestwert auf.

Formel-E-Topspeed limitiert durch Einheits-Frontmotor

"Das ist wirklich sehr schnell", sagte Porsche-Werksfahrer Antonio Felix da Costa zu Motorsport-Magazin.com. "Und wir sind hier sogar limitiert durch den Frontmotor, der für alle Hersteller gleich ist. Unser eigener Antriebsstrang (im Heck; d. Red.) hätte das Potenzial, noch schneller zu fahren. Wenn ich daran denke, dass wir vor neun Jahren nur rund 170 km/h schnell waren, ist das schon verrückt."

Um mit einem Formel-E-Auto, das über wenig Downforce und nicht allzu viel Grip verfügt, aus derartigen Geschwindigkeiten hart abzubremsen, braucht es schon eine Portion Mut. Nicht zuletzt, weil zu Beginn des Jahres mit den neuen Gen3-Autos noch einige Bremsprobleme auftraten. Im Zuge der fortschreitenden Software-Entwicklung ist das inzwischen - glücklicherweise für die Fahrer - nur noch ein Randthema.

"Es ist schon eine Herausforderung, das Auto in Turn 1 von rund 280 auf 50 km/h runterzubremsen", sagte WM-Spitzenreiter Pascal Wehrlein (Porsche) zu Motorsport-Magazin.com. "Es fühlt sich genau wie bei anderen Autos an, nur, dass der Bremsweg etwas länger ist. Es kann schnell passieren, dass die Front oder die Hinterachse blockiert."

Gutes Qualifying - raus aus der Risiko-Zone

Das Qualifying beim ersten Saisonrennen auf einer permanenten Rennstrecke dürfte sich zu einem Spektakel entwickeln. Der flüssige Charakter des IndyCar-Kurses, auf den die US-Formelserie 2018 zurückgekehrt ist, lässt für Formel-E-Verhältnisse extrem schnelle Rundenzeiten zu. Im Training war die Herausforderung bereits zu erkennen, gerade in der schnellen Kurve 11 kamen einige Fahrer von der Strecke ab und mussten durch die Wiese rumpeln.

Welche Relevanz die Startposition beim Portland ePrix haben wird, darüber scheiden sich die Geister, denn: das Rennen anführen will in den ersten Runden niemand! Ein Platz in den vorderen Startreihen dürfte vielmehr dazu taugen, Kollisionen in den ersten Kurven aus dem Weg zu gehen. "Keiner möchte das Rennen anführen, weil du mehr Energie verbrauchst, wenn du vorne bist", sagte Jakarta-Sieger Maximilian Günther (Maserati) zu Motorsport-Magazin.com. "Ein starkes Qualifying ist trotzdem das Ziel. Dann kannst du der Risiko-Zone besser aus dem Weg gehen."

Maserati-Ass Maximilian Günther in Portland, Foto: LAT Images
Maserati-Ass Maximilian Günther in Portland, Foto: LAT Images

Verrückt: Fahrer verzichten absichtlich auf Reifen-Burnouts

Das im Motorsport ziemlich ungewöhnliche Gebaren, in den ersten Runden nicht führen zu wollen und stattdessen lieber im Windschatten Energie zu sparen, ist inzwischen bekannt in der Formel E. Derartige Szenen spielten sich schon bei den Rennen in Sao Paulo, Berlin oder Monaco ab. In Portland erwarten die meisten Fahrer, dass dieses Prozedere bis ans Limit getrieben wird. Möglicherweise schleichen die Autos sogar in den ersten 15 bis 20 der insgesamt 28 Runden herum, bis dann die Pace anzieht.

Das Einsparen der Energie ist derart entscheidend in Portland, dass einige Fahrer auf dem Weg in die Startaufstellung sogar darauf verzichten könnten, die sonst üblichen Burnouts zum Aufwärmen der Reifen durchzuführen - dieser Vorgang geht immerhin zu Lasten der Energiemenge in der Batterie! "Damit wollen wir keine Energie verschwenden", bestätigte Mahindra-Fahrer Lucas di Grassi gegenüber Motorsport-Magazin.com. "In den ersten Runden werden wir eine komische Dynamik erleben, wo niemand führen will."

Der hierzulande eher unbekannte Portland International Raceway, Foto: LAT Images
Der hierzulande eher unbekannte Portland International Raceway, Foto: LAT Images

Rene Rast: "Es wird brutal langsam sein"

Rene Rast, der in Portland für McLaren im Einsatz ist und nur aus der Ferne verfolgen kann, was sein DTM-Team Schubert-BMW in Zandvoort treibt, sagte zu MSM: "In den ersten paar Runden wird nicht viel passieren. Jeder wird versuchen, so viel Energie wie möglich zu sparen. Die ersten 15 bis 20 Runden werden sehr langsam, erst dann wird angegast. Es wird brutal langsam sein, weil niemand das Rennen anführen will. Die Autos vorne werden früh ihre Attack Modes (insgesamt 8 Minuten; d. Red.) nehmen, um dadurch Positionen zu verlieren."

Üblicherweise bestimmen die vorderen drei bis fünf Autos die Renn-Pace. Versuchen sie zunächst unterhalb ihrer Energie-Ziele zu bleiben, kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem sich der Speed schlagartig erhöht. Das zusammengezogene Feld birgt ein großes Crash-Risiko. In Monaco fuhr die Spitze beispielsweise von der einen zur nächsten Runde plötzlich rund 4 Sekunden schneller! "Ich bin gespannt, wie langsam das Rennen sein wird", meinte Andretti-Teamgründer Michael Andretti, der das Heimrennen seiner Mannschaft vor Ort besucht und sich Tipps vom hauseigenen IndyCar-Team für den Portland International Raceway geholt hat.

Andretti-Ass und WM-Anwärter Jake Dennis fügte an: "Das wird ein chaotisches Rennen mit den meisten Überholmanövern in dieser Saison. Hier gibt es viel mehr Gelegenheiten zum Überholen. In Brasilien war die Piste abseits der Ideallinie etwa ziemlich staubig, aber hier ist alles sauber und die Strecke ist sehr breit. Ich denke, das wird ein cooles Rennen, und ich mag diese Art des Racings."

Zwölftes Saisonrennen der Formel E in Portland, Foto: LAT Images
Zwölftes Saisonrennen der Formel E in Portland, Foto: LAT Images

Formel E: Die meisten "Überholmanöver" des Jahres?

Es dürfte abermals auf ein Rennen zulaufen, in dem es schwierig sein wird, den Überblick zu behalten. Bildete der vorangegangene Double-Header in Jakarta mit den Siegern Wehrlein und Günther eher eine Ausnahme, ging es bei den Rennen davor einfach nur wild zu: 114 "Überholmanöver" in Sao Paulo, 190 im Samstagsrennen von Berlin, weitere 172 am Sonntag. Macht zusammen mit den Monaco-Zahlen insgesamt 592 "Überholmanöver" über den Verlauf von vier Rennen oder 180 Minuten Renndistanz; demnach 3,2 "Überholmanöver" pro Minute.

Ob man beim absichtlichen Langsamfahren, dem Vorbeiwinken anderer Autos und forcierten Positionsverlusten durch die Attack Modes wirklich von Überholmanövern sprechen kann, darüber scheiden sich die Geister. Die korrekte Bezeichnung im Motorsport für ein derartiges Vorgehen wäre wohl eher "Positionswechsel"... Auf der breiten Strecke von Portland ohne Steigungen oder Gefälle dürfte die Positionswechsel-Statistik schlagartig ansteigen - und die Formel E sich selbst wie zuvor für spektakuläres Racing feiern...

Portland-Talk: Porsche-Leiter Florian Modlinger im Gespräch mit MSM-Reporter Robert Seiwert, Foto: Christof Sage
Portland-Talk: Porsche-Leiter Florian Modlinger im Gespräch mit MSM-Reporter Robert Seiwert, Foto: Christof Sage

Oder kommt es im zwölften von 16 Saisonrennen etwa ganz anders? Schließlich verfügen die Hersteller inzwischen über ausreichend Daten und Erfahrung, um potenziell kreative Strategien zu fahren. "Es wird extrem strategisch", sagte Porsche-Gesamtprojektleiter Florian Modlinger zu Motorsport-Magazin.com. "Es gibt verschiedene Szenarien und wir werden sehen, wie die Teams sie umsetzen. Vielleicht gibt es Überraschungen. Jedes Team wird sich etwas einfallen lassen. Vielleicht wie in Berlin oder Jakarta, wo wir sehr riskant früh in Führung gegangen sind und das durchgezogen haben. Das war stets auf Messers Schneide. Schauen wir mal, ob sich das jemand traut..."