Es war eine Frage, die viele Beobachter des Sonntagsrennens der DTM auf dem Nürburgring umtrieb: Wieso fiel Pole-Setter und Titelanwärter Sheldon van der Linde beim Re-Start in Folge der frühen Safety-Car-Phase plötzlich vom dritten bis auf den neunten Platz zurück und verlor dadurch seine Chancen auf den zweiten Sieg am Wochenende?

Die Hintergründe zu dieser renn-mitentscheidenden Situation sind komplex. Eine wesentliche Rolle spielt dabei Theo Oeverhaus, erstmaliger DTM-Gaststarter und mit 17 Jahren der jüngste Fahrer in der über 30-jährigen Geschichte der deutschen Traditionsserie. Das Nachwuchstalent im BMW M4 GT3 von Walkenhorst Motorsport führte das Rennen zum besagten Zeitpunkt an, weil Oeverhaus als einziger aller Fahrer im Feld auf einen Pflicht-Boxenstopp während der Safety-Car-Phase verzichtet hatte.

Was auffiel: Nach der Startfreigabe per grünem Ampellicht durch den Renndirektor fuhr Oeverhaus weit rechts auf der Start/Ziel-Geraden, während alle ihm folgenden Autos - van der Linde in seinem Schubert-BMW direkt dahinter - deutlich weiter zur Mitte der Fahrbahn gerückt waren. Oeverhaus' ungewöhnliche und so auch nicht von der DTM vorgesehene Linienwahl irritierte seinen dahinterfahrenden BMW-Markenkollegen und sorgte dafür, dass van der Linde links wie rechts überholt wurde und weit zurückfiel. Die Rennleitung sah kein Vergehen und untersuchte den Re-Start nicht.

"Sheldon hätte heute der ganz große Gewinner dieses Wochenende werden können, wenn er beim Restart nicht auf Theo Oeverhaus aufgelaufen wäre", war Schubert-Teamchef Torsten Schubert im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com überzeugt. "Das war einfach Pech, denn dadurch hat er einige Plätze und damit wichtige Punkte verloren." Van der Linde beendete das Sonntagsrennen nach Start von der Pole als Neunter, konnte seine Führung in der Gesamtwertung aber ausbauen, weil Titelrivale Mirko Bortolotti in beiden Rennen vorzeitig ausfiel.

Foto: DTM
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DTM diskutierte Start wie im ADAC GT Masters

Rund um Oeverhaus' Restart-Aktion gab es offenbar ein Kommunikationsproblem. Wusste der gebürtige Osnabrücker, der parallel zu seinem DTM-Gaststart auch die Rennen der Nachwuchsserie DTM Trophy bestritt und damit ein äußerst stressiges Wochenende erlebte, nicht, wie ein Start in der DTM ablaufen muss?

Motorsport-Magazin.com weiß aus unterschiedlichen Quellen: Am Freitag auf dem Nürburgring wurde in der nicht-öffentlichen Fahrerbesprechung darüber diskutiert, ob in der DTM das Startprozedere des ADAC GT Masters übernommen werden soll!

In der ADAC-Serie wird ebenfalls rollend gestartet, die beiden Startreihen sind aber deutlich weiter voneinander entfernt - die Autos positionieren sich auf Höhe der Grid-Boxen. In der DTM hingegen erfolgt ein sehr enger 'Indy-Style-Start'. Das wirkt optisch spektakulär, sorgt aber auch immer wieder für Kollisionen und dazu, dass viele Fahrer die Startampel wegen des Heckflügel des Vordermannes nicht sehen können.

Zu dieser Angelegenheit öffentlich bekannt ist, dass sich die ITR und der Sportliche Ausrichter AvD nach einem internen Meeting am Freitagabend entschieden haben, das Startprozedere nicht zu ändern. "Die räumliche Nähe der Autos ist essentiell für die DNA des DTM-Formationsstarts und muss historisch respektiert werden", hieß es dazu in einem Schreiben von DTM-Renndirektor Scot Elkins.

Start-Infos erreichten Oeverhaus nicht

Diese Information kam beim am Nürburgring schwer beschäftigten DTM-Rookie Oeverhaus aber nicht an. Statt beim Re-Start nach innen zu ziehen, wählte er als Einziger die Fahrt durch die auf dem Asphalt weiß markierten Grid-Box-Linien. "Da Theo als DTM-Gaststarter bei uns nicht in allen internen Kommunikationsgruppen vertreten war, kam diese Info leider nicht bei ihm an", räumte Walkenhorst-Teammanager Niclas Königbauer offen und ehrlich auf Nachfrage von Motorsport-Magazin.com ein.

Der ganze Ablauf wäre womöglich untergegangen, doch immerhin hatte hierdurch effektiv der Meisterschaftsführende van der Linde einen Nachteil, der ihn im weiteren Titelkampf noch teuer zu stehen kommen könnte. Ein weiterer Podestplatz - er wäre nach dem Re-Start im Boxenstopp-bereinigten Feld Zweiter gewesen und hätte voraussichtlich mindestens 15 statt nur 2 Punkten erzielt - hätte ihm einen noch größeren Vorsprung in der DTM-Tabelle verschafft.

Foto: DTM
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Sheldon van der Linde: "Mache ihm keinen Vorwurf"

"Es ist möglich, dass es bei Theo ein Kommunikationsproblem gab, denn ich habe mich sehr gewundert, wie er sich beim Restart verhalten hat", sagte van der Linde selbst zu Motorsport-Magazin.com. "Damit hat mich Theo total überrascht und innerhalb weniger Zehntelsekunden wohl auch aus dem Konzept gebracht."

Der BMW-Werksfahrer nahm den unerfahrenen Rookie gleichzeitig in Schutz und sparte sich härtere Kritik: "Ich mache ihm - auch wegen seines Alters - aber keinen Vorwurf, auch wenn ich dadurch einige Plätze verloren habe. Glück im Unglück ist, dass ich trotz dieses Zwischenfalls die Führung in der Tabelle behalten und sogar um einige Punkte ausbauen konnte."

Harte Kritik von Manager Dennis Rostek

Weniger sensibel ging hingegen Dennis Rostek, Chef der Agentur Pole Promotion mit den Klienten Kelvin (P4 im Rennen nach Start von P2) und Sheldon van der Linde sowie Rene Rast (Ausfall nach Kollision mit David Schumacher, was die Safety-Car-Phase auslöste), mit der Thematik um.

Gegenüber Motorsport-Magazin.com übte Rostek schwere Kritik an der DTM, Walkenhorst Motorsport und an Oeverhaus: "Das heutige Geschehen ist eine große Sauerei! Es kann doch nicht sein, dass in einer so professionellen Rennserie wie der DTM solche Dinge passieren: Ein 17-Jähriger, den ich ob seines Talents sehr schätze, ist beim Restart völlig überfordert und löst dabei ein Chaos aus, das Sheldon fünf Plätze gekostet hat. Ich weiß nicht, was sich Oeverhaus dabei gedacht hat, aber Fakt ist, er hat eine falsche Entscheidung getroffen."

Rostek weiter: "Und die hätte sein Team Walkenhorst Motorsport verhindern können. So verbrennt man einen jungen und talentierten Fahrer, der heute offensichtlich total überfordert war und deshalb ohne Not in den Titelkampf eingegriffen hat. Darüber sollten alle Beteiligten auch einmal nachdenken, bevor sie solch eine weitreichende Entscheidung treffen."

Teammanager Königbauer: "Kritik völlig überzogen"

Auf Seiten von Walkenhorst konnte Königbauer die hart formulierte Kritik an seinem Schützling, der für das Team auch in der DTM Trophy startet und dort um den Titelgewinn kämpft, nicht nachvollziehen: "Aus meiner Sicht, und ich habe die TV-Bilder genau analysiert, hat Theo keinen Fehler gemacht, da er im Glauben war, über die Grid-Box fahren zu müssen. Und dabei hat er niemanden behindert. Er ist aus der letzten Kurve rausfahrend mit konstanter Geschwindigkeit auf die Ampel zugefahren und als diese auf Grün geschaltet wurde, hat er Gas gegeben. Deshalb verstehe ich die Kritik nicht und finde sie auch völlig überzogen."

Warum das Team Oeverhaus nicht wie alle anderen Fahrer zum Boxenstopp hereinrief, erklärte Königbauer mit dem seit 2022 neuen und kontrovers diskutierten Passus im DTM-Reglement: "In einer Safety-Car-Phase können wir immer nur einen Fahrer pro Runde an die Box holen. Das haben wir gemacht und als Theo als dritter unserer Fahrer an der Reihe war, ist die Neutralisation aufgehoben gewesen. Wir wollten kein Chaos produzieren, indem wir den Führenden (Theo Oeverhaus) nicht so unmittelbar vor dem geplanten Restart an die Box holen wollten. Dadurch lag er auch vorne."

Foto: DTM
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Tomczyk nach Spa-Start von Oeverhaus überzeugt

Dass ein Fahrer im Alter von nur 17 Jahren an einem Wochenende in zwei Rennserien antritt, sorgte durchaus für Diskussionen im Fahrerlager - unabhängig von der Person Theo Oeverhaus. In beiden DTM-Rennen mit teils schwierigen Bedingungen und vielen Ausfällen sah Oeverhaus jeweils die Zielflagge und fuhr auf Platz 19. In der DTM Trophy belegte er den elften Platz am Samstag und fiel im Sonntagsrennen vorzeitig aus. An den drei vorangegangenen Trophy-Wochenenden punktete er in jedem der sechs Rennen.

Auf Seiten der DTM-Dachorganisation ITR war man der Meinung, dass Oeverhaus in beiden Serien das Potenzial hatte, mithalten zu können. Er habe sich sportlich fair verhalten und die Entscheidung, ihn aufgrund der Titelchancen in der DTM Trophy an beiden Wettbewerben teilnehmen zu lassen, sei nachvollziehbar. Per Reglement ist ein doppelter Einsatz ohnehin nicht verboten.

In einer Medienrunde am Sonntagmorgen sagte Martin Tomczyk, Verantwortlicher für die DTM-Plattformen: "Wir sind offen für Gaststarter, wenn sie die Kriterien erfüllen, auch gut mitzufahren im DTM-Feld."

Und zu Oeverhaus, den Ex-DTM-Champion Tomczyk in seiner Funktion als Serienmanager der DTM Trophy kennt: "Mir war es wichtig, dass er Erfahrung auf dem Auto hat, wenn wir so einem jungen Fahrer die Möglichkeit geben. Das konnte er in Spa unter Beweis stellen. Er ist das ganze Rennen durchgefahren. Das war für uns gut genug, dass wir den Gaststart zulassen. Er hat sich nicht so schlecht angestellt dafür, dass es sein erstes DTM-Rennen war. Es geht halt nicht von einem Tag auf den anderen. Das Doppelprogramm ist auch nicht so einfach."

Im Vorfeld des DTM-Gaststarts ging Oeverhaus beim 24-Stunden-Rennen in Spa-Francorchamps Ende Juli auf einem privat eingesetzten BMW M4 GT3 von Walkenhorst unter anderem mit Teamchef Henry Walkenhorst an den Start. Es war sein erster Einsatz in einem GT3-Rennwagen nach dem Automobilsport-Debüt 2021 in der DTM Trophy, die er als Gesamt-Sechster abschloss.